An die Arbeiter von Halle und Umgebend

Zweite Auflage. [] An die Arbeiter von Halle und Umgegend. [] Die deutsche Reichsregierung will, so wenigstens gibt sie selbst an, das arbeitende Volk mit allerlei Social-Reform-Gesetzen beglücken, als da sind: ein Reichskrankenkassengesetz, ein Unfallversicherungsgesetz und ein Altersversorgungsges...

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Bibliographic Details
Main Authors: Hasenclever, Wilhelm, Wörlein & Comp., Nürnberg
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 1883 - 1884
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/EFB754E2-520B-47D9-AC43-92E4AFBE816F
Description
Summary:Zweite Auflage. [] An die Arbeiter von Halle und Umgegend. [] Die deutsche Reichsregierung will, so wenigstens gibt sie selbst an, das arbeitende Volk mit allerlei Social-Reform-Gesetzen beglücken, als da sind: ein Reichskrankenkassengesetz, ein Unfallversicherungsgesetz und ein Altersversorgungsgesetz. [] Das erste dieser drei Gesetze ist schon fix und fertig und tritt endgültig am 1. December 1884 in Kraft. [] Dieses Gesetz ist unter großen Mühen, nach zahlreichen Abänderungen zustande gekommen, so daß es keineswegs ein geschlossenes Ganze bildet, sondern ein durch vielerlei Meinungen entstandenes Flickwerk ist, welches seiner Ausübung gar nicht so leicht und in seinen Folgen sehr schwer zu übersehen ist. [] Da das Reichskrankenkassengesetz nun vorzugsweise die Arbeiter betrifft, so sollte man meinen, daß es den Verwaltungsbehörden, denen die Ausführung zusteht und denen dabei ob der Schwere ihrer Aufgabe dereinst noch recht sonderlich zu Muthe werden wird, ungemein lieb sein müßte, wenn den Arbeitern dieses Gesetz recht klar auseinander gelegt wird. [] Dem aber scheint nicht so zu sein. Denn als Unterzeichneter über dieses Gesetz hier in Halle vor einigen Wochen einen Vortrag halten wollte, da wurde ihm von der Hallenser Polizeibehörde dies auf Grund des sogenannten Socialistengesetzes untersagt und zwar unter Hinweis darauf, daß der Einberufer und der Vortragende bekannte Socialdemokraten seien. [] Wunderbar! Man hat nicht das, was gesagt werden sollte, verboten, sondern man hat einer bestimmten Person verboten, seine aufklärenden Ansichten über das Krankenkassengesetz dem Volke mitzutheilen. [] Nichts hätte nun eigentlich näher gelegen, als daß die verbietende Verwaltungsbehörde ihrerseits nunmehr Gelegenheit genommen haben würde, durch eine offtcielle Person dem hiesigen Arbeiterstande öffentlich Aufklärungen über das in Rede stehende Gesetz zu geben. Aber das ist nicht geschehen und geschieht auch wohl nicht, deshalb nimmt der Unterzeichn ete Veranlassung, dasjenige, was er in öffentlicher Versammlung den Arbeitern Halle's zusagen hatte, hier in Kürze niederzuschreiben. [] Die Grundlage des Gesetzes bildet der "Versicherungszwang"; von diesem handelt es auch zunächst in seinem ersten Abschnitte. Es bestimmt dabei, welche Personen dem Versicherungszwange unterworfen sein sollen und diese Personen sind lediglich die in den Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Brüchen und Gruben, in Fabriken und Hüttenwerken, beim Eisenbahn- und Binnendampf-schifffahrtsbetriebe, auf Werften und bei Bauten, im Handwerk und sonstigen Gewerbebetrieben, sowie in Betrieben, in denen Dampfkessel oder durch elementare Kraft (Wind, Wasser, Gas 2c.) bewegte Triebwerke zur Verwendung kommen, beschäftigten Arbeiter, also mit einem Wort die industriellen Arbeiter. [] Gegen den Zwang, resp. gegen die allgemeine Verpflichtung zur Versicherung habe ich nichts einzuwenden. Ich erkenne vielmehr an, daß diese Verpflichtung ebenso nothwendig als principiell gerechtfertigt ist, daß sie einen integrirenden Theil der öffentlichen Wohlfahrtspflege bildet. Dieser Thatsache gegenüber haben alle die phrasenhaften Lamentationen über "Beschränkung der persönlichen Freiheit", welche die Vertheidiger der sogenannten "liberalen" Staats- und Gesellschaftsordnung anstimmten, nicht den geringsten Werth. [] Anders aber denke ich über die in dem Gesetz vorgenommene Organisation des Zwanges, über die als Hauptsache des Ganzen hingestellten "Zwangskassen."[] Die moralische Natur des Zwanges besteht darin, daß er zur Erreichung seines guten Zweckes der Freiwilligkeit möglichst weiten Raum läßt; mit anderen Worten: daß er erst da eintritt, wo das freiwillige Handeln aus Pflichtgefühl fehlt, wo die Erkenntniß mangelt, daß man einem Gebote nicht deshalb entspricht, einfach weil es Gebot ist, sondern lediglich in Rücksicht darauf, daß das, was damit erzielt werden soll, gut ist. [] So schicket Ihr, Arbeiter, Eure Kinder doch gewiß nicht deshalb in die Schule, weil der gesetzliche Zwang dafür besteht, also lediglich um Euch mit dem Gesetze abzufinden und verschont zu bleiben von den Strafen, die es androht, nein, Ihr lasset Eure Kinder die Schule besuchen in der unendlich viel höheren Rücksicht, daß sie etwas tüchtiges lernen. Eure Freiwilligkeit deckt sich also hier mit dem Zweck des Zwanges und verhütet dessen praktische Anwendung gegen Euch. [] Von diesem Gesichtspunkte hätte die Gesetzgebung bei der Annahme und der Organisation des Zwanges zur Krankenversicherung sich leiten lassen müssen. Sie hat das nicht gethan! Statt den Zwangskassen den letzten und untergeordnetsten Rang in der Reihe der Versicherungs Institutionen, ihnen den Character desäußerlichsten polizeilichen Nothbehelfs zu verleihen, hat sie diese Kassen als Hauptsache hingestellt, und dabei die höchste und beste Form der auf Gegenseitigkeit beruhenden Hülfsleistung, die berufsgenossenschaftliche Versicherung völlig ignorirt. Dementsprechend hat sie ferner zu Gunsten der Zwangskassen die Bethätigung der Freiwilligkeit für sogenannte "freie Kassen" durch verschiedene Bestimmungen außerordentlich erschwert, während es doch, in Rücksicht auf die moralische Natur des Zwanges, ihre Pflicht gewesen wäre, die Bethätigung der Freiwilligkeit zu erleichtern. [] Ueber die Ungerechtigkeit, daß der Versicherungszwang lediglich auf die in der Industrie beschäftigten Lohnarbeiter ausgedehnt worden ist, brauche ich nicht viel Worte zu verlieren. 'Es ist damit eine Art von "Arbeiter-Polizeigesetz" geschaffen worden. [] Diese Thatsache hat an und für sich schon eine sehr ernste Bedeutung; sie wird noch bedeutungsvoller, wenn man erwägt, daß von jeher es gerade die industriellen Arbeiter waren, welche freiwillig, lediglich in Erwägung ihrer moralischen Pflicht und ihres berechtigten Interesses, zur Gründung von Hülfskassen schritten und dieselben durchweg zu hoher Blüthe brachten. Man betrachte doch nur die nach Tausenden zählenden, über ganz Deutschland verbreiteten Kassen dieser Art. Unter Hinweis auf sie legen die deutschen Arbeiter vor aller Welt das Zeugniß ab, daß sie am allerwenigsten verdient hätten, vom Gesetz als diejenigen gezeichnet zu werben, für die der absolute polizeiliche Zwang ganz allein Berechtigung habe. [] Ich habe mit großen Arbeiterkreisen in fast allen Gegenden Deutschlands über diesen Punkt Rücksprache genommen. Ueberall äußerten die Arbeiter sich entrüstet dahin: "Man thut uns Unrecht, man beleidigt uns mit der Annahme, daß wir besonders gleichgültig und faul seien in Betreff des Kranken-Versicherungswesens, und daß deshalb die "Ehre" des polizeilichen Zwanges uns allein nud in erster Linie in absolutester Weise treffen müsse. Man hat damit nichts anderes, als eine völlig unmotivirte Ausnahme-Maßregel gegen die industriellen Arbeiter geschaffen!" - [] "Gemein de-Krankenversicherung" - so ist im Gesetz die Institution benannt, welche für die polizeiliche zwangsweise Versicherung in Betracht kommt. Von dieser Versicherung sollen betroffen werden alle diejenigen industriellen Arbeiter, welche nicht einer Orts-Krankenkasse, oder einer Fabriks-Krankenkasfe, oder einer Bau-Krankenkasse, oder einer Innungs-Krankenkasse oder einer Knapp-schafts-Kasse, oder endlich einer eingeschriebenen oder auf Grund landesrechtlicher Vorschriften errichteten Hülfskasse angehören. [] An Unterstützung soll die Gemeinde-Krankenversicherung gewähren: von Beginn der Krankheit ab freie ärztliche Behandlung, Arznei, Brillen, Bruchbänder und ähnliche Heilmittel; ferner im Falle der Erwerbsunfähigkeit, vom dritten Tage nach dem Tage der Erkrankung ab, für jeden Arbeitstag ein Krankengeld in der Höhe der Hälfte des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter. Alle diese Leistungen sollen spätestens mit Ablauf der dreizehnten Woche nach Beginn der Krankheit enden. [] Schwerlich dürfte es einen einzigen Arbeiter geben, der sich i mit einem derartigen Unterstützungsmodus befreunden kann. Derselbe ist in dreifacher Hinsicht ungerecht. Einen vernünftigen und stichhaltigen Grund dafür, daß das Krankengeld erst vom dritten Tage nach dem Tage der Erkrankung ab gezahlt werde, vermag ich nicht aufzufinden. Man hat erklärt, damit der Simulation von Krankheiten vorbeugen zu wollen. Ich meine aber, daß, wer allen Ernstes die Absicht hat, Zu simuliren, das auf länger als drei Tage fortzusetzen im Stande ist. Uebrigens habe ich in dieser Hinsicht Erfahrungen genug gemacht, um behaupten zu können, daß Simulationen eine Seltenheit unter den Arbeitern sind. Zweifelsohne gebührt jedem Erkrankten die Geldunterstützung vom Tage der Erkrankung an. Sie gebührt ihm auch für die Sonntage und nicht nur für die Arbeitstage, denn an ersteren will der Mensch doch auch leben. Das Ungerechteste aber ist die Beschränkung der Leistungen auf dreizehn Wochen. Bekanntlich erfordert eine Krankheit, je länger sie dauert, je mehr Mittel. Was soll ein ertränkter Arbeiter nach Ablauf jener dreizehn Wochen beginnen? Entweder: er geht elend zu Grunde oder ihm wird die sehr zweifelhafte "Wohlthat" der öffentlichen Armenunterstützung zu Theil. [] Eine sehr bedenkliche Bestimmung ist es, welche den Verlust des Anspruchs auf Unterstützung betrifft. Für zwangsweise versicherte Personen tritt derselbe ein, wenn sie den Gemeindebezirk ihres bisherigen Aufenthalts verlassen. Daß die Arbeiter sehr oft wochenlang auf der Suche nach Arbeit sich befinden, ist ja allbekannt. In solchen Fällen, wo sie Krankenunterstützung häufig am nöthigsten hätten, stehen sie dann völlig schutz- und mittellos da - und wieder ist es die direkte öffentliche Armenpflege, die sich ihrer annehmen muß. Ihre Beiträge in die Gemeinde-Krankenversicherung haben sie so und so lange umsonst geleistet, ohne den geringsten Vortheil davon zu haben. [] Diesem Mißstande hätte sehr leicht begegnet werden können, wenn man die Gemeinde-Krankenversicherung über ganz Deutschland zu einer solidarischen gestaltet hätte. [] Betrachten wir nun noch kurz die Stellung der Arbeitgeber zu der Gemeinde-Krankenversicherung. [] Der Arbeitgeber soll die von ihm beschäftigten versichernngspflichtigen Arbeiter anmelden und nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses abmelden. Er ist verpflichtet, für diese Arbeiter die gesetzlichen Beiträge an den festgesetzten Zahlungsterminen zu entrichten, bezw. diese Beiträge den Arbeitern am Lohne abzuziehen. Er soll ferner ein Drittel der Beiträge, welche auf die von ihm beschäftigten Arbeiter entfallen, aus eigenen Mitteln leisten, - eine Bestimmung, die der Arbeiter, der gewohnt ist, lediglich nach seinem Rechte auf Grund des Arbeitsverhältnisses zu fragen, sicherlich unangenehm empfinden wird. [] So ist dem Arbeiter nicht die geringste Mitwirkung an die Geschäften der Gemeinde-Krankenversicherung zugewiesen. Ihn kümmert die An- und Abmeldung, selbst die Einzahlung der Beitrag nicht. Er hat in der Verwaltung absolut nichts mitzusprechen, denn diese wird lediglich von der Gemeinde geführt unter Aufsicht der oberen Verwaltungsbehörden. Diese allein prüfen, bestimmen, ordnen alles im Sinne einer einfachen Polizeimaßregel, ohne den Versicherten die geringste Rechenschaft schuldig zu sein. Wie unmündige Kinder die lediglich zu gehorchen, sich der elterlichen Autorität zu unterwerfe, haben, stehen die Arbeiter der Gemeinde-Krankenversicherung gegenüber. [] Auch die Arbeitgeber haben nichts mit der Verwaltung zu thun. Bleiben sie mit den Beiträgen im Rückstände, so werden dieselben voi ihnen executorisch beigetrieben, "wie Gemeindeabgaben", sagt das Gestez. [] So characterisirt sich die Gemeinde-Krankenversicherung als ein reactionär-bureaukratisches Institut zur Bevormundung der Arbeiter. [] Aus alledem ergibt sich, daß eine Ehrensache der Arbeite ist, zu verhindern, daß die Institutionen der Gemeinde-Krankenversicherung das Uebergewicht erlangen im Versicherungswesen. Auch im Interesse der Gemeinden selbst liegt diese Verhinderung besonders so weit sie Ursache haben, sich vor neuen Belastungen zu hüten, welche die Gemeinde-Krankenversicherung unbedingt mit sich bringt. [] Den Gemeinden ist, abgesehen von Ihrer Verpflichtung zur Errichtung von Gemeinde-Krankenversicherungen, die Berechtigung ein geräumt, für die in ihrem Bezirk beschäftigten Versicherungspflichtigen Personen, sofern deren Zahl mindestens hundert beträgt, "Orts Krankenkassen" zu entrichten, und zwar "in der Regel" für die in einem Gewerbszweige oder in einer Betriebsart beschäftigten Personen. [] Hinsichtlich der gesetzlich normirten Leistungen der Orts-Krankenkassen läßt sich sagen, daß dieselben allerdings etwas mehr bieten als die Gemeinde-Krankenversicherungen, so u. A. auch Unterstützungen<NZ>von Wöchnerinnen auf die Dauer von drei Wochen nach die Niederkunft, ferner Sterbegeld im zwanzigfachen Betrage des ortsübliche, Tagelohnes. Auch steht ihnen die Befugnß einer Erweiterung und Erhöhung ihrer Leistungen in gewissem Umfange zu. Ausdrücklich aber ist betont, daß diese Leistungen nicht auf Invaliden-, Wittwen und Waisenunterstützungen ausgedehnt werden dürfen. - Daß entsprechend den höheren Leistungen auch die Beiträge der Mitglieder höhere sind, versteht sich von selbst, dieselben können bis zu drei Procent des durchschnittlichen Tagelohnes betragen. [] Die Verwaltung der Kasse soll durch einen von der Generalversammlung gewählten Vorstand geschehen. Eine sehr heikle Bestimmung dabei ist, daß auch die Arbeitgeber Anspruch auf Ver tretung im Vorstande und der Generalversammlung haben, und zwar auf Grund der ihnen auferlegten Verpflichtung, ein Drittel der Beträge, welche auf die bei ihnen beschäftigten verficherungspflichtigen Arbeiter entfallen, aus eigenen Mitteln zu leisten, genau so, wie bei der Gemeinde-Krankenversicherung. Allerdings soll den Arbeit gebern nicht mehr als ein Drittel der Stimmen in der Generalversammlung und dem Vorstande eingeräumt werden. Aber dieses ein Drittel Stimmen ist mehr als genügend, die Arbeiter bei all ihren Maßnahmen in Abhängigkeit von den Arbeitgebern zu erhalten. Ist schon die Heranziehung der Arbeitgebe zu den Beitragsleistungen ein Fehler, so ist die ihnen eingeräumte Vertretung im Vorstande und in der Generalversammlung ein noch viel größerer. [] Das Allerbedenklichste bei der Orts-Krankenkasse abe ist, daß ihre Selbstständigkeit auf ein verschwindendes Minimum reducirt ist. Sie stehen unter permanenter Aufsicht der Behörden. Diese bewachen die Befolgung der gegebenen Vorschriften und können dieselbe durch Androhung, Festsetzung und Vollstreckung von Ordnungsstrafen gegen die Vorstandsmitglieder erzwingen. Sie sind befugt, von allen Verhandlungen, Büchern und Rechnungen der Kasse Einsicht zu nehmen und die Kasse zu revidiren. Ja, sie könne sogar die Berufung der Kassen-Organe zu Sitzungen verlangen unt falls diesem Verlangen nicht entsprochen wird, die Sitzung selbst anberaumen und in den Sitzungen die Leitung der Verhandlungenübernehmen. Weigern die Organe der Kasse sich, den Vorschriften der Aufsichtsbehörden zu genügen, so können dieselben die Befugnisse und Obliegenheiten der Kassenorgane selbst oder durch von ihnen zu bestellende Vertreter auf Kosten der Kasse vornehmen. Wird eine Orts-Krankenkasse geschlossen oder aufgelöst - was durch Verfügung der höheren Verwaltungsbehörde erfolgt - so sollen die versicherungspflichtigen Personen, für welche sie errichtet war, anderen Orts-Krankenkassen oder der Gemeinde-Krankenversicherung "überwiesen" werden. Das etwa vorhandene Vermögen der Kasse soll in diesem Falle nach Berichtigung der Schulden durch Verfügung der höheren Verwaltungsbehörde derjenigen anderen Orts-Krankenkasse oder derjeigen Gemeinde-Krankenversicherung zufallen, welcher die Mitglieder der aufgelösten Kasse überwiesen werden. [] Die Selbstständigkeit der Orts-Krankenkassen beschränkt sich also thatsächlich darauf, dasjenige zu thun, was die Verwaltungsbehörden anordnen oder verfügen. [] Ich meinerseits bin von einer solchen "Selbstständigkeit" nicht sehr erbaut! [] Mit wenigen Worten nur will ich der Fabrik- und Bau-Krankenkassen gedenken. Ein Unternehmer, welcher in einem Betriebe oder in mehreren Betrieben über fünfzig dem Versicherungszwange unterliegende Personen beschäftigt, ist berechtigt, eine Fabrik-Krankenkasse zu errichten. Er kann aber durch Anordnung der höheren Verwaltungsbehörde dazu verpflichtet werden, wenn sein Betrieb mit besonderer Krankheitsgefahr für die Arbeiter verbunden ist. [] Die Errichtung des Kassenstatuts ist vorbehaltlich der Genehmigung durch die höhere Verwaltungsbehörde lediglich Sache des Unternehmers. Derselbe ist verpflichtet, die statutenmäßigen Beiträge für die Kassenmitglieder in die Kasse einzuzahlen und zu einem Drittel aus eigenen Mitteln zu leisten. Die übrigen zwei Drittel können sie den Arbeitern bei der regelmäßigen Lohnauszahlung in Abzug bringen. Auf die Beaufsichtigung der Fabrik-Krankenkassen finden dieselben Bestimmungen Anwendung, wie auf die Beaufsichtigung der Orts-Krankenkassen. Wird eine Fabrik-Krankenkasse aufgelöst oder geschlossen, so geht das vorhandene Vermögen an eine Orts-Krankenkasse oder an die Gemeinde-Versicherung über. [] Bau-Krankenkassen sollen errichtet werden für die bei Eisenbahn-, Kanal-, Weg-, Strom-, Deich- und Festungsbauten, sowie in andern vorübergehenden Baubetrieben beschäftigten Personen. [] Weder die Fabrik- noch Bau-Krankenkassen werden Freunde finden unter den Arbeitern. Sie werden für schr viele, wo nicht für die meisten der in Fabriken oder vorübergehenden Baubetrieben beschäftigten Arbeiter eine völlig unberechtigte Belastung bilden. Denn nirgends ist die Arbeiterschaft so fluktuirend, als in Fabriken und Baubetrieben. Wer aus der Fabrik oder dem Baubetriebe ausscheidet, der verliert damit selbstverständlich alle seine Ansprüche an die Krankenkasse, möge er gleich noch so lange hineinbezahlt haben; er ist nur versichert für die Dauer des Arbeitsverhältnisses. [] Schon allein aus diesem Grunde kann kein Arbeiter den Fabrik- und Bau-Krankenkassen freundlich gesinnt sein. Nur zu oft bilden solche Kassen in der Hand des Unternehmers ein Mittel, die Arbeiter zu chikaniren und zu bevormunden. Das hat die Erfahrung hinlänglich bewiesen. [] Von eminentester Bedeutung sind diejenigen gesetzlichen Bestimmungen, welche das Verhältniß der eingeschriebenen Hülfskassen zur Krankenversicherung betreffen. Diesen Bestimmmungen nach besteht für Mitglieder der aus Grund des Gesetzes vom 7. April 1876 errichteten eingeschriebenen Hülfskassen, sowie der auf Grund landesrechtlicher Vorschriften errichteten Hülfskassen keine Verpflichtung, der Gemeinde-Krankenversicherung, der Orts-Krankenkasse beizutreten. Jedoch muß die Hülfskasse mindestens diejenigen Leistungen gewähren, welche die<NZ>Gemeinde-Krankenversicherung gewährt, also vom Beginn der Krankheit ab freie ärztliche Behandlung, Arznei und im Falle der Erwerbsunfähigkeit vom dritten Tage nach dem Tage der Erkrankung ab für jeden Arbeitstag ein Krankengeld in Höhe der Hälfte des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagelöhner. Kassen, welche leie ärztliche Behandlung und Arznei nicht gewähren, genügen ihrer zesetzlichen Verbindlichkeit durch Gewährung von drei Vierteln des ortsüblichen Tagelohnes. [] Die Statuten der Hülfskassen sind, soweit sie den gesetzlichen Bestimmungen über die Leistungen nicht genügen, bis zum 1. Jan. l885 der erforderlichen Abänderung zu unterziehen. Geschieht dies bis dahin nicht, so wird die Abänderung von der höheren Verwaltungsbehörde mit rechtsverbindlicher Wirkung vollzogen. [] Aus alledem ergibt sich zur Genüge, was die Arbeiter jetzt zu thun haben. Sie müssen in erster Linie mit aller Entschiedenheit und Energie eintreten für die centralisirten Hülfskassen, da solche für die meisten Gewerke bestehen (so z. B. Tischler, Metallarbeiter, Schuhmacher, Schneider, Goldarbeiter, Buchdrucker, Zimmerleute, Hutmacher, Gerber) und über ganz Deutschland verbreitet sind. [] Dabei ist zu bemerken, daß verschiedene dieser Hülfskassen auch Nicht-Berufsgenossen als Mitglieder aufnehmen. [] Diese Kassen empfehle ich allen Arbeitern, wenn sie nicht noch mehr in politische und sociale Abhängigkeit gerathen wollen! [] Nun noch ein kurzes Schlußwort: [] Zu Anfang dieser Schrift habe ich auch der bevorstehenden Unfallversicherungs- und Altersversorgungsgesetze für Arbeiter Erwähnung gethan. Von letzterem Gesetze, welches allerdings von den socialen Reformgesetzen das bei weitem Wichtigste ist, will ich nicht reden, da eine Vorlage noch nicht an den Reichstag gelangt ist und ich deßhalb die Grundlagen dieses Gesetzes nicht genügend kenne, jedoch ist das Unfallversicherungsgesetz schon mehrmals vor dem Reichstag gewesen und nach der Regierungsvorlage zu urtheilen, braucht man kein Prophet zu sein, wenn man behauptet, daß dasselbe ebensowenig, wie das Krankenkassengesetz von Vortheil für die Arbeiter sein wird. [] Im Gegentheil! Denn wenn der Regierungsvorschlag durchgeht, nach welchem die Kosten aller Unfälle der ersten 13 Wochen auf die Krankenkassen geschlagen werden sollen - und das wären 96 Procent! -, dann müßten die Arbeiter, welche den Hauptbeitrag zu den Krankenkassen leisten, indirekt für die Fabrikanten, welche den Hauptbeitrag zu der Unfallversicherung leisten, den größten Theil dieser Beiträge bezahlen. Und diese Ungeheuerlichkeit hat Aussicht, Gesetz zu werden. [] Wer dabei noch das "warme Herz" für die Arbeiter spürt, dem ist allerdings nicht zu helfen. [] Nach alledem muß ich erklären, daß die sämmtlichen Social-Reformgesetze und Vorlagen, soweit man sie kennt, von keinem sonderlichen Werthe für die Arbeiter sind; daß sie aber auch ferner nicht im Stande sind, nur einen kleinen Theil der Wunden zu heilen, welche dem Arbeiterstände das sogenannte Socialistengesetz geschlagen hat. [] Deshalb Arbeiter, laßt Euch nicht ködern, haltet treu zur Arbeiterehre, zur Fahne der Freiheit und Gerechtigkeit! [] Dies ungefähr wollte ich in der verbotenen Versammlung Euch Arbeitern sagen - urtheilt nunmehr, nachdem Ihr die vorstehenden Ausführungen in aller Ruhe gelesen habt, darüber, ob ich Recht habe - trotz des polizeilichen Verbots. [] Halle a. S., zu Anfang October 1883. [] Wilh. Hasencleuer, [] Mitglied des Deutschen Reichstags. [] Verlag und Druck von Wörlein & Comp. in Nürnberg.
Published:1883 - 1884