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Gegen Fleisch- u. Brotwucher! [] Seit länger als einem Jahre leidet die Bevölkerung unter einer Fleischteuerung, wie sie noch nie in Deutschland dagewesen ist. Die Teuerung ist nicht eine Folge von Mißwachs oder Viehseuchen, sondern sie ist künstlich geschaffen worden, um den Großgrundbesitzern die Taschen zu füllen. Die herrschenden Klassen haben zwar immer die Politik als ein Mittel zur persönlichen Bereicherung betrachtet, aber nie ist es möglich gewesen, den Satz: "Bereichert Euch" mit solchem Erfolg durchzuführen, wie es den Agrariern in Deutschland geglückt ist. [] Als im Dezember 1892 der Gutspächter Ruprecht in Ransern seinen Alarmruf in die Welt schickte und am 18. Februar die Junker in der bekannten Tivoli-Versammlung ihre Forderungen formulierten, da erschien das Gebaren fast lächerlich, weil kein Mensch glaubte, daß nur ein erheblicher Bruchteil der Forderungen erfüllt werden würde und jetzt haben die Junker mehr als sie damals zu fordern wagten. Und die schreienden Agrarier vorläufig zu befriedigen, wurden ihnen von der Regierung die sogenannten "kleinen Mittel" angeboten. Unter diesen spielten die Vieheinfuhrverbote die Hauptrolle. Unter dem Vorwand, die Seucheneinschleppnng zu verhindern, wurden fast alle Grenzen gegen Vieh und Fleischeinfuhr gesperrt. Obwohl nun fast alle Grenzen seit 1896 gesperrt sind, erreichte der Seuchenstand 1899 eine Höhe, wie er nie zuvor in Deutschland beobachtet ist. Auch nach der neuesten Seuchenstatistik hatten wir im Jahre 1904 noch 67 466 verseuchte Gehöfte. [] Unsere Agrarier sehen in den Einfuhrverboten ein Mittel zur Steigerung der Fleischpreise und dieser Zweck wurde vollkommen erreicht. Hatte Deutschland schon seit Jahrzehnten die höchsten Fleischpreise anf der ganzen Welt, so erreichten dieselben im Sommer 1905 aber eine Höhe, wie sie selbst in Dentschland unerhört sind. Zwar hatte der Landwirtschaftsminister Herr v. Podbielski im Sommer 1905 gesagt, daß die Preise sich nur wenige Wochen halten würden, aber derselbe Herr sagte im Dreiklassenparlament ganz offen, daß er selbst an einen Preisfall in kurzer Zeit nicht geglaubt habe. [] Die Teuerung soll dauernder Zustand werden. [] Darum hat man neben den Einfuhrverboten die hohen Vieh-, Fleisch- nnd Futtermittelzölle geschaffen. Die Fleischteuerung ist nur ein Glied in der Kette, mit der das Volk zur Tributpflicht an die Grundbesitzer herangezogen wird. Der Zweck der ganzen Agrarpolitik ist eine Preissteigerung des Grund und Bodens, also eine Bereicherung der jetzigen Besitzer herbeizuführen, und dieses ist völlig geglückt. Der Verkaufspreis des Grund und Bodens richtet sich nach der Rente, die er seinem Besitzer bringt. Da wir nicht so viel landwirtschaftliche Prodnkte erzeugen als wir gebrauchen, wird der Preis in Deutschland um die Höhe der Zölle höher sein als in den Nachbarstaaten. Jede Erhöhung der Zölle bringt eine den Zollerhöhungen gleichkommende Preissteigerung. Würden nun die in einem Jahre auf einen Hektar Land erzeugtein Produkte um 18 bis 20 Mark im Preise erhöht, so steigt dadurch der Verkaufspreis des Landes um den 20 bis 25 fachen Betrag der gesteigerten Jahreseinnahme. Ein Hektar Land wird demnach 360 Mk. bis 500 Mk. höher im Werte berechnet. Wie sehr diese Berechnung zutrifft, beweist der im September veröffentlichte Jahresbericht der westpreußischen Landwirtschaftskammer. [] Den jetzigen Besitzern ist daher durch den Wuchertarif ein Geschenk von über 10 Milliarden Mark gemacht. Obwohl die Leibeigenschaft vor hundert Jahren abgeschafft ist und dann die Junker für den Verzicht auf die Tribute sich mehrere Milliarden zahlen ließen, heimsen sie jetzt Tribute ein, gegen welche die Profite aus der Fronarbeit als reine Bettelpfennige erscheinen. [] Das Volk muß zahlen und darben. [] Roggen, Weizen, Hafer, Gerste, Butter, und vor allen Dingen Fleisch, sind im Preise gestiegen. Ein Pfund Rindfleisch kostete im Detailhandel in Preußen durchschuittlich: 1851/60 35 Pf., 1861/70 43 Pf., 1871/80 57 Pf., 1881/90 58 Pf., 1902 72-74 Pf. und September 1906 90-92 Pf. Woher sollen die kleinen Leute das Geld nehmen, zu zahlen? Der Staat und die Gemeinden geben den Arbeitern und den kleinen Beamten keine Lohnaufbesserung. In den königlichen Bergwerken, bei den Eisenbahnen, in Militärwerkstätten, auf Werften oder sonst im Reichs-, Staats- und Gemeindedienst verlangt man, daß die Leute sich einrichten. Und so wie Reich, Staat und Gemeinde machen es auch die Privatunternehmer. Da die Arbeiter sich in ihren Wohnnngsverhältnissen nicht noch mehr beschränken können, so sinkt die Ernährnng in demselben Verhältnis wie die Preise steigen. Der Fleischverbrauch sinkt. Während im zweiten Halbjahr 1904 nach den Berichten über die Fleischbeschau noch auf den Kopf der Bevölkerung 20,33 Kilogramm kamen, kamen im ersten Halbjahr des Jahres 1906 nur noch 18,40 Kilogramm Fleisch auf den Kopf. Der Rückgang des Fleischverbrauchs ist bei der ärmeren Bevölkerung aber noch viel größer als es sich nach den Durchschnittsziffern ergibt, da bei der Verbrauchsberechnung auch die wohlhabenden und reichen Leute mitgezählt sind, die sich trotz der Teuernng keine Beschränkungen aufzuerlegen brauchen uud darum eben soviel Fleisch essen als sonst. [] Die Unterernährung schädigt den Arbeiter an seiner Gesundheit und an seiner Leistungsfähigkeit. Leben und Gesundheit sollen die Massen opfern, um großen Grundbesitzern den Reichtum zu vermehren. [] Die Früchte der Kämpfe, die die Arbeiter in Gewerkschaften in jahrelangem Ringen um Verbesserung der Lebenshaltung sich erstritten haben, sind ihnen mit einem Schlage entrissen und sie sind trotz der vielen Erfolge wieder auf deu Hungeretat herabgesetzt. Rechnet man nur die durch den Wuchertarif erhöhten Brot- und Fleischftreise. so macht das schon für den Kopf der Vevölkerung 10 Mk. pro Jahr, also für eine Familie von fünf Köpfen 50 Mk. Die Verteueruug hat also dieselbe Wirkung, als wenn man allen Arbeitern einen Lohnabzug von 1 Mk. Pro Woche gemacht hätte. Regierung uud Unternehmer prahlen mit den Versicherungsgesetzen und nennen es eine Großtat, wenn die Unternehmer für jeden gewerblichen Arbeiter nicht ganz 60 Pf. und für jeden landwirtschaftlichen Arbeiter nicht ganz 24 Pf. pro Woche zahlen müssen. Aber denselben Arbeitern, denen man 60 resp. 24 Pf. gibt, nimmt man pro Woche mehr als eine Mark zur Bereicherung großer Grundbesitzer. Die Agrarier haben zwar mehr erhalten, als sie erwarten konnten, aber sie sind nicht am Ziel ihrer Wünsche. [] Neue Forderungen werden kommen. [] Die Leute, welche die Güter zu den jetzigen Preisen übernehmen, und diejenigen, welche dem gesteigerten Bodenpreis entsprechend neue Hypotheken aufnehmen, werden bald trotz der Teuerung der Ackerbauprodukte nicht mehr die erwünschte Rente haben und nach wenigen Jahren wird das Treiben nach höheren Preisen wieder einsetzen und auch Erfolge bringen, wenn nicht die Macht der Agrarier gebrochen ist. [] Die Agrarier haben verstanden zu "schreien" und mit dem Bund der Landwirte und den katholischen Bauernvereinen die Konservativen, die Antisemiten, die Nationalliberalen, die Polen und das Zentrum unter ihre Herrschaft gebracht. Die Massen mögen sich den Bund der Landwirte zum Muster nehmen und auch schreien. [] Für sie handelt es sich doch um Leben und Gesundheit, während die Agrarier ja nur ihr Vermögen aufbessern wollten. Heute steht die Frage so: Entweder die Macht der Agrarier bleibt bestehen, dann bleibt nicht nur die jetzige Teuerung, sondern es werden weitere Preissteigerungen kommen, oder die Macht der Agrarier wird gebrochen und dann werden wieder normale Preise für Lebensmittel herbeigeführt. Nicht kleinliche Mittel können helfen, es muß ein völliger Umschwung in der ganzen Politik herbeigeführt werden. Das können die Massen viel leichter als es die paar hunderttausend Grundbesitzer nach 1892 ferüg gebracht haben. [] Die Parteien, die im Dienst der Agrarier stehen, die Konservativen, die Nationalliberalen, die Antisemiten, die Polen und das Zentrum, verschwinden von der politischen Bühne, wenn sie keine Stimmen mehr von den Wählern erhalten, die sie durch die Herbeiführung der Teuerung so schwer geschädigt haben. Wenn unter der Losung: [] Fort mit dem Nahrungsmittelwucher! [] Fort mit der Tributpflicht an die Grundbesitzer! [] sich die Massen sammeln, dann vermag keiner zu widerstehen. Die Sozialdemokratie hat in den Kämpfen um die Lebensmittelteuerung und um die Steuern rücksichtslos die Klasseninteressen der Arbeiter und der unbemittelten Leute vertreten. Die sozialdemokratische Partei ist der Sammelplatz, auf welchem sich die Leute zusammenfinden, die dadurch die Klassenherrschaft brechen wollen, daß sie die Beseitigung jeglicher Ausbeutung erstreben. [] Auch in dem Kampf gegen die mit Vorbedacht herbeigeführte Teuerung ist nichts mit einem einmaligen kräftigen Protest getan. Der Widerstand muß ein nachhaltiger und dauernder sein! In dem Kampf können die Agrarier als Vorbild dienen. Sie nahmen zwar die kleinen Mittel, aber sie ließen sich dadurch nicht von ihrer Hauptforderung abbringen. [] Da nun alle politischen Fragen Machtfragen sind, muß dem agrarischen Machtfaktor eine größere Macht entgegengesetzt werden. Wenn die Arbeiter sich zusammenfinden, dann können sie in jedem Industriebezirk mehr Mitglieder zusammenbringen als die Agrarier in ganz Deutschland haben. Eine solche Organisation über ganz Deutschland wird eine unwiderstehliche Macht. Wie die Agrarier immer wieder die hohen Zölle forderten, mutz für die Arbeiter die Losung lauten: [] Weg mit den Nahrungsmittelzöllen! [] Agitatoren für diese Bewegung gibt es Millionen. Jede Hausfrau empfindet es schmerzlich, wenn der knappe Verdienst nicht reicht, die zum Leben nötigen Waren bezahlen zu können. Wenn sie erst erkannt hat, daß die Teuerung künstlich herbeigeführt ist, dann ist jeder Gang zum Schlächter ein Ansporn zu neuem Widerstand. Und noch mehr ist der Ansporn gegeben, wenn trotz aller Sparsamkeit in den letzten Tagen vor dem Zahltag die Frau nicht mehr zum Schlächter gehen kann, weil auch die Mittel für die bescheidensten Einkäufe fehlen. [] Weiß die Frau, daß die Teuerung geschaffen ist, um reiche Grundbesitzer noch reicher zu machen, dann wird sie eine unermüdliche Agitatorin gegen diese Politik werden. [] Darum auf! Es gilt einen Kampf gegen die Interessenpolitik der Agrarier! [] Es muß die Tributpflicht der Massen an Junker und Junkergenossen beseitigt werden. [] Arbeiter! Erkennt Eure Macht und schließt Euch der Partei an, deren Ziel es ist, jede Ausbeutung und Unterdrückung zu beseitigen. Tretet ein in die Wahlvereine der sozialdemokratischen Partei und lest die Arbeiterzeitung, den "Vorwärts". [] Gr. Öffentl. Volks-Versammlungen [] am Dienstag, den 13. November, abends 8 Uhr, []in den Lokalen: [] Hensels Salon, Invalidenstrasse 1a. [] Berolina-Säle, Schönhauser Allee 28. [] Schulz' Festsäle, Belforterstrasse 15. [] Wernau, Schwedterstrasse 23. [] Kösliner Hof, Köslinerstrasse 8. Schirms Salon, Badstrasse 19. [] Germania-Säle (weißer Saal), Chausseestr. 103. [] Kronen-Brauerei, Alt-Moabit 47-49. [] Männer und Frauen! Erscheinz in Massen und protestiert gegen [] "Fleischnot und Zollwucher". [] Verantwortlich: Hans Neber. Berlin. - Druk: Vorwärts Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer & Co. Berlin SW. 68 Lindenstraße 69.
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