Summary: | Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; [!] = sic!; [?] = vermutete Leseart
Reichstagswähler! [] Warum muß das deutsche Volk für die Kandidaten der sozialdemokratischen Partei Deutschlands stimmen? [] Aus Scheidemanns Rede, gehalten auf der Reichskonferenz der S. P. D., am 5. Mai 1920. [] Im Oktober 1917, vor zweieinhalb Jahren, waren wir in Würzburg beisammen. Es war ein Jahr vor dem Ende, die großen und kleinen Herren von Gottesgnaden saßen noch fest auf ihren Thronen, und der Militarismus, Scheinsieger auf allen Schlachtfeldern, verkündete uns die herrlichen Zeiten, denen er uns entgegenfahren wollte. Wir waren damals in Würgburg nicht so hochgestimmt, [] wir sahen das, was kommen musste, [] klarer voraus, als die damals noch herrschenden Mächte. Wie klar wir uns darüber waren, darf ich vielleicht an einigen Sätzen erhärten. Ich sagte damals, daß sich durch den Krieg eine Machtverschiebung im Massenkampf zugunsten des Proletariats vollziehe und daß die Sozialdemokratie durch den Krieg eine Partei geworden sei mit der unmittelbaren Anwartschaft auf [] die Macht im Staate. [] Deutschland werde nach dem Kriege ein demokratisches Staatswesen sein, und die ersten Wahlen nach dem Kriege würden darum eine ganz andere Bedeutung haben als alle Wahlen zuvor. Ich sagte weiter wörtlich: [] "Wir werden nach den ersten Friedenswahlen im Reiche das sein, wozu das Volk uns macht, und wir werden die Aufgaben zu übernehmen haben, die das Volt uns auferlegt. Wir wissen zwar heute nicht, wie die Wahlen ausfallen werden, aber wir dürfen damit rechnen, daß wir mit einer sehr bedeutenden Macht daraus hervorgehen werden, mit einer so großen Macht, daß es uns nicht gestattet sein wird, die Annehmlichkeiten der Opposition zu genießen und den anderen die Verantwortung zu überlassen." [] Die Alldeutschen schilderten uns damals noch die Herrlichkeiten des Sieges. Alle Schätze Indiens und Amerikas sollten wir durch ihn erwerben. Wir waren uns schon damals klar darüber, daß wir in dem Augenblicke des Kriegsschlusses, der zugleich der Augenblick unserer Machtergreifung sein würde, [] einen Trümmerhaufen vorfinden und eine Wüste betreten [] würden, und daß wir uns auf den Bänken der Macht zurücksehnen würden nach der Zeit, da wir noch rechtlos und verfolgt waren. "Keine Macht der Idee," sagte ich damals, "kann die Menschheit aus der Hölle, die sie sich selbst bereitet hat, mit einem Sprung in das Paradies hinüberführen." [] Die Dinge gestalteten sich noch schlimmer, als wir damals vorgesehen hatten. Der Krieg dauerte noch ein volles Jahr und endete mit einer Niederlage. Der Niederlage folgte die Revolution, die ein Ausbruch des instinktiven Volkswillens war, sich nach dem Kriegsende neue Möglichkeiten des Lebens und des Wiederaufstieges zu schaffen. Ich bin fest davon überzeugt, daß man in zwanzig Jahren, wenn man aus etwas weiterer Ferne die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge unserer Gegenwart betrachten wird, allgemein anerkennen wird, daß [] die Revolution die Lebensretterin Deutschlands [] gewesen ist. Nach dem vollkommenen Bankrott des alten Systems gab es auf den alten Bahnen überhaupt kein Weiterkommen mehr, da gab es gar nichts anderes, als den großen Sprung, mochte man auch mit zerbrochenen Gliedern drüben ankommen. Die Schuld an allem, was das Volk gelitten hatte und noch leidet, trifft die, die es so weit in die Wirrnis hineingehetzt hatten, bis es eben keinen anderen Ausweg gab als diesen. Und noch in einem Punkt erlebten wir eine Enttäuschung. Wir hatten alle, die einem laut, die anderen heimlich, gehofft, die Not der Zeit würde [] die Arbeiterbewegung wieder zur Einheit [] zusammenschmieden. Der Einheitstraum schien am 9. November in Erfüllung zu gehen, aber er dauerte nicht lange. Woran ist er gescheitert? Er ist gescheitert an dem Widerstand der Linken der Unabhängigen Partei, die in Gemeinschaft mit den Kommunisten an dem gewaltsamem Sturz der Regierung arbeitete, in der ihre eigene Partei - trotz ihrer damaligen Schwäche - mit uns mit gleichen Rechten saß. Diese Linksunabhängigen und Kommunisten verstanden ihre Zeit nicht. Sie sahen in der Demokratie nur noch eine überlebte bürgerliche Regierungsform, glaubten an eine Springflut der sozialen Revolution, die alle Länder, auch die siegreichen, überschwemmen würde, und sahen in schier unbegreiflicher Verblendung im bolschewistischen Rußland das große Vorbild, nach dem sich alsbald die ganze Welt gestalten würde. In ihrem Aberglauben, alles müßte bei uns und überall so kommen, wie in Rußland, sehen sie in dem augenblicklichen Stand der Dinge nur eine "Kerenski-Periode". Statt die reine Arbeiterregierung, [] die rein sozialistische Regierung des 9. November [] zu stützen und ihr eine demokratische, dauernde Grundlage ihrer Macht zu schaffen, gingen sie gegen diese Regierung mit gewalttätigem Fanatismus vor. Sie erreichten damit aber nur zweierlei: die Notwendigkeit der Koalitionspolitik und die Notwendigkeit jener Politik, die sie später die Noske-Politik nannten. [] Im Januar 1919 gab es für die Regierung tatsächlich keine andere Wahl als die, entweder vor einer Bewegung zu kapitulieren, hinter der noch kein Zehntel der Arbeiterbewegung stand und deren Sieg eine Katastrophe bedeutet hätte, oder aber die Rettung der Republik in die Hände der noch vorhandenen Truppenverbände unter ihren reaktionären Offizieren zu legen. Die Linksunabhängigen und die Kommunisten haben damals in ihrer Torheit den reaktionären Offizieren einen Teil der damals völlig verlorenen Macht in die Hände gespielt. Ohne Januar-Putsch von 1919 kein März-Putsch von 1920. [] ohne Ledebour kein Lüttwitz. [] Die wirklichen Fehler von der anderen Seite, von der unseren, begannen erst später. Sowie die Ruhe im Lande einigermaßen wiederhergestellt war, musste die Reichswehr und die politische Verwaltung einer gründlichen Säuberung unterzogen werden. Unser Fehler war jetzt, daß wir uns einschläfern ließen, uns auf Biedermannsmanieren zu sehr verließen. Verrat, der uns in den Rücken stieß, war unser Lohn. [] Die Januarwahlen von 1919, die trotz der Drohungen der Kommunisten, sie gewaltsam zu verhindern, ungestört vor sich gingen, brachten unserer Partei zwar einen gewaltigen Erfolg, aber doch nicht den ganzen Sieg. Die Sozialdemokratie blieb in der Nationalversammlung eine Minderheit. Sie blieb es auch dann, wenn sie mit den Unabhängigen gemeinsame Sache machte, was aber nach den vorangegangenen Ereignissen eine Unmöglichkeit war. Immerhin wäre der Sozialismus in der Nationalversammlung stärker gewesen, wenn seine [] beiden Richtungen mit vereinter Kraft [] für ihre gemeinsamen Ziele eingetreten wären. [] Ich bin kein Lobredner der Koalition, [] ich sehe vielmehr die Aufgabe der wähler bei den kommenden Wahlen darin, durch ihre Entscheidung jede Koalition überflüssig zu machen. Aber soviel möchte ich doch sagen: der Augenblick, in dem das Ergebnis der Januarwahlen vorlag, war einigermaßen ängstlich. Deutschland war seit zwei Monaten Republik, die Partei aber, die von Hause aus republikanisch gesinnt war, war in der Minderheit geblieben, der größere Teil der Nationalversammlung wurde von Leuten besetzt, die heute noch Monarchisten sind oder es gestern noch waren. Durch die Koalition wurde es möglich, die bürgerlichen Parteien auf den Boden der Republik herüberzuziehen und eine gewaltige republikanische Mehrheit in der Nationalversammlung zu schaffen. Ich gebe zu, daß diese republikanische Mehrheit kein unbedingtes Vertrauen beanspruchen konnte, aber es ist doch Tatsache, daß sie gehalten hat. Sie war gewiß nur ein taktisches Aushilfsmittel, eine Hilfskonstruktion, aber ich sehe nicht, wie die Republik ohne diese Hilfkonstruktion auch nur einige Monate hätte leben können. [] Für neue Staatsformen wie für junge Menschenkinder sind die ersten Monate und Jahre ihres Daseins die gefährlichsten. Die deutsche Republik hat jetzt ihre schlimmste Gefahrenzeit überwunden, aber sie konnte es nicht ohne die Koalition. Das aber, was wir grundsätzlich wollen und was wir mit allen Mitteln der Verfassung erstreben, das ist natürlich nicht eine Koalitionsregierung, sondern [] eine rein sozialistische Regierung [] Denn es liegt in der Natur der Sache, daß jede Partei nach der Macht strebt, und wenn auch die Vordermänner ängstlich werden - denn der Besitz der Alleinmacht ist wahrhaftig kein Vergnügen -, die Masse drängt sie doch vorwärts. Aber da möchte ich gleich sagen: Auch die sozialistische Regierung ist kein unfehlbarer Papst, und sie ist kein Weihnachtsmann, der einen Sack voll guter Dinge mitbringt. Wahldemagogie, die den Wählern goldene Berge verspricht, wollen wir getrost anderen überlassen, die sie vielleicht treiben wollen. Wir halten es lieber mit der Aufrichtigkeit und sagen: nur durch eigene Kraft, durch eigene geistige Arbeit, nur durch Ueberwindung zahlloser Schwierigkeiten und eigener Irrtümer kann die Arbeiterklasse zu ihren Zielen gelangen. Dabei wollen wir ihr helfen mit allen unseren Kräften. Wer wir sagen nicht: du brauchst nur diesen Stimmzettel hier abzugeben und dann hast du das Paradies! [] Nein, den Wahlkampf so führen, das hieße wahrlich das Wesen wirklicher Demokratie verkennen und einem parlamentarischen Kretinismus frönen, der von der Weisheit der Gewählten und Regierenden alles erwartet. [] Nein, mit der sozialistischen Regierung ist ein Anfang des Wegs gefunden, aber nicht das Ende, wird eine Arbeit begonnen, aber noch nicht vollendet, deren bester Teil [] von den Massen selbst [] geleistet werden muß. Die rein sozialistische Regierung kann nicht mit einem schlage eine rein sozialistische Gesellschaftsordnung schaffen. Was kann sie tun? [] Sie kann einen wichtigen Teil der Produktionsmittel in allgemeinen Besitz überführen, sie kann die Kapitalmacht unter die Kontrolle der Staatsmacht stellen, allmählich Plan und Ordnung in die Wirtschaftsanarchie bringen und auf allen Gebieten der Wirtschaftspolitik die Interessen der breiten Massen wahrnehmen. [] Aber sie kann notwendige Entwicklungsstufen nicht überspringen, und sie hat keinen Zauberstab, um diesen Elendhaufen, den uns der Krieg hinterlassen hat, in einen Glücksgarten zu verwandeln. [] Als Sozialdemokraten haben wir stets unsere Aufgabe darin erblickt, [] Erkenntnis in die Köpfe einzuhämmern [] und ehrlich auszusprechen, was wir für die Wahrheit halten, mag sie auch diesem oder jenem unangenehm sein, mag sie uns auch diese oder jene Stimme kosten. [] Ohne die Sozialdemokratie keine Republik, ohne sie kein gleiches Männer- und Frauenrecht, ohne sie kein Achtstundentag, ohne sie auch kein Anfang eines Selbstbestimmungsrechtes der Arbeiter im Produktionsprozeß durch die Betriebsräte, ohne sie auch kein Anfang zu einer sozialgerechten Steuergesetzgebung. [] Ich begreife vollkommen die Entrüstung jener Genossen, die in der Nationalversammlung hingebend für den Fortschritt der Gesetzgebung gearbeitet haben, über Aeußerungen kritikloser Unzufriedenheit wie die, es sei "gar nichts geleistet" worden. Dieses kritiklose Herunterreißen des Erreichten ist genau ebenso verwerflich, wie seine ktitiklose Verherrlichung. Seit jeher hat unsere Partei auf dem Standpunkt gestanden, daß alle Volksgenossen mit vollkommen gleichen politischen Rechten ausgestattet sein sollen, sie hat jahrzehntelang gegen schwere Bedrückung für diese Gleichberechtigung gekämpft, und sie hält jetzt an ihr fest als an den besten Siegespreis, den sie aus der Revolution geholt hat, als an der sichersten Bürgschaft für den endgültigen Sieg des arbeitenden Volkes. Die Anwendung von Gewalt hätt [!] sie - nach Erkämpfung der Demokratie - nur dann erlaubt, wenn es gilt, gewaltsame Angriffe auf die Demokratie abzuwehren. [] Wie aber alle Volksgenossen ihre Stimme gleichberechtigt in die Wagschale werfen können, [] da hat die Mehrheit entschieden, [] und die Minderheit hat sich zu fügen so lange, bis sie selber Mehrheit geworden ist. [] Daran halten wir fest, danach haben wir gehandelt und denken wir weiterhin zu handeln. Und wir haben die Genugtuung, zu sehen, wie immer weitere Kreise sich aus ihrer früheren Verirrung auf die guten Grundsätze der Sozialdemokratie zurückbesinnen. Die Zahl derer, die meinen, man könne [] durch Putsch und Diktatur [] in ein paar Tagen erringen, was nur durch ehrlichen Kampf um die Geister in der emokratie sicher gewonnen werden kann, ist im Abnehmen. Das liegt ja nun in der Natur der Sache. Denn jene, im Grunde genommenen militaristische, auf die Gewalt schwörende Auffassung der sozialen Frage, wie sie von den Kommunisten und einem Teil der Unabhängigen vertreten wird, ist weiter nichts als [] eine geistige Kriegskrankheit, [] die verschwinden muß in dem Maße, in dem die Geister sich zu dem Gedanken des Friedens zurückgewähnen. Damit ist auch unsere Stellung zum politischen Rätesystem gegeben. Wir wollen nicht sagen, daß die Ausübung des gleichen politischen Rechts die Zusammenfassung der Wähler nach örtlichen Verbänden für alle Zeit aller Weisheit letzter Schluß sein müsse. Solange man aber nicht einen sicheren Weg zeigt, alle Volksgenossen nach Betrieben oder Berufsgruppen mit völlig gleichem Recht abstimmen zu lassen und ihnen dabei die volle Freiheit der Abstimmung und die einwandfreie Feststellung der Wahlergebnisse zu sichern, solange [] das politische Rätesystem [] nur als eine Art von Taschenspielerstück gedacht ist, um einer Minderheit die Macht über die Mehrheit zu verschaffen, so lange kann unsere Stellung zu einem solchen Rätesystem keine andere sein als die der grundsätzlichen Ablehnung. [] Anders steht es jedoch mit den Räten als einem Mittel, durch welches das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht der im Produktionsprozeß Tätigen verwirklicht werden soll. Denn als Sozialisten treten wir für die [] Aufhebung der Klassenunterschiede [] ein. Ein Zustand, in dem sich die Unternehmer und Betriebsleiter aus einer herrschenden Klasse rekrutieren, die Masse der ausführenden Hände aber von einer sozial beherrschten Klasse gestellt wird, bleibt weit von unserem Ideal entfernt. Wir wollen Kpof- und Handarbeiter zu einer organisierten Einheit verbinden und alle produktiven Kräfte als denkende Menschen für das Ergebnis der Produktion [?] interessieren, die letzten Endes zu Zwecken des Allgemeinwohls bestimmt ist. Einen Weg zu diesem Ziel sehen wir in dem [] wirtschaftlichen Rätewesen, [] in den Betriebsräten, die sich in dem Maße, in dem sich die Arbeiterschaft mit ihrer neuen Aufgabe vertraut macht zu immer wichtigeren Organen des Wirtschaftslebens entwickeln werden. Dabei verkennen wir keinen Augenblick, daß die Arbeiterschaftzur Bewältigung dieser neuen Aufgabe noch eine ungeheure geistige Arbeit zu leisten hat und daß sie diese Arbeit nicht leisten kann, ohne sich völlig mit dem Geiste des Sozialismus zu durchdringen. Nie darf sie vergessen, daß der Betrieb oder der Beruf nur ein Teil eines großen Ganzen ist und daß es unmöglich ist, diesen Teil zu fördern auf Kosten des Ganzen. [] Soll das Rätewesen nicht zu einem neuen Kampf aller gegen alle führen, der nicht minder schändlich wäre als die kapitalistische anarchie, dann ist es erst recht notwendig, alle Kräfte zusammenzufassen und im Bewustsein ihrer Einheit zu bürgen durch die Demokratie. [] Demokratie und Sozialismus gehören zusammen, [] wie Form und Inhalt, wie Körper und Geist. Und darum eben sind wir Sozialdemokraten, weil es für uns keine Demokratie gibt ohne Sozialismus und auch keinen Sozialismus ohne Demokratie. Soweit werden Sie gewiß mit mir einverstanden sein. [] Ich habe schon gesagt, daß die Ablehnung der Koalition im vorigen Jahre einfach die Auslieferung der jungen Republik an ihre Feinde, die Preisgabe aller Arbeiterinteressen bedeutet hätte. [] Welche Garantie haben wir dafür, daß diese Situation nicht wiederkehrt? [] Es wäre der schlimmste Fehler, wenn wir unsere Taktik ein für allemal festlegen wollten ohne Rücksicht auf alles das, was kommen kann. [] Ein gutes Beispiel dafür, um wie viel stärker die Verhältnisse sind als die stärksten Absichten, zeigen Ihnen die Vorgänge links von uns. [] Die Kommunisten [] wollten Januar 1919 die Wahlen mit Gewalt verhindern, sie lehnten jede andere Art der Beteiligung an ihnen als etwa mit Maschinengewehren und Handgranaten grundsätzlich ab. Im Juni dieses Jahres aber werden sie sich mit dem Stimmzettel an ihnen beteiligen - sie haben ihr Gelübde gebrochen unter dem Zwang der Verhältnisse und müssen es sich heute gefallen lassen, daß sie deswegen von einem Teil ihrer früheren Anhänger als Judasse und Verräter an der Revolution beschimpft werden. [] Oder die Unabhängigen! [] Die Unabhängigen haben vor dem 9. November an uns kein gutes Haar gelassen. Am 10. November vereinigten sie sich mit uns zu einer gemeinsamen Regierung. Die Folge war, daß der rechte Flügel vom linken mit brutalster Gewalt berannt wurde und nach einigen Wochen aus der Regierung wieder ausscheiden mußte. Ein Jahr lang herrschte dann wieder zwischen den beiden Parteien der wüsteste Streit, jedes Zusammengehen schien eine Unmöglichkeit - bis ein neuer Stoß der Entwicklung die beiden ganz einfach packte und - ich habe keinen anderen Ausdruck dafür - zusammenschmiß. Ob die Unabhängigen wollten oder nicht, sie mußten mit uns gemeinsam die von ihnen so verlästerte [] Republik gegen die Kapp-Lüttwitz verteidigen. [] Keine fünf Pfennige sollte vordem diese Republik nach ihren Versicherungen wert gewesen sein, jetzt auf einmal standen sie neben uns, um diese Republik mit dem Einsatz ihres Lebens zu verteidigen. Und jetzt tauchte auf einmal bei ihnen in ganz offizieller Form der Gedanke auf, nicht nur mit uns, den geschmähten Rechtssozialisten, eine gemeinsame sozialistische Regierung zu bilden, sondern - hören Sie und staunen Sie - man ging sogar einen Schritt weiter und war bereit, in eine sogenannte [] Arbeiterregierung [] einzutreten, die aus Sozialdemokraten beider Richtungen und Arbeitervertretern aus den bürgerlichen Parteien gebildet werden sollte. Ich frage Sie nun, Genossen und Genossinnen, ist eine solche sogenannte reine Arbeiterregierung etwa nicht auch eine Koalitionsregierung? Die Arbeitervertreter aus den bürgerlichen Parteien wollte man doch nur in die Regierung mit hineinhaben, um mit ihrer Hilfe eine parlamentarische Mehrheit zu bilden aus Sozialdemokraten und bürgerlichen Mittelparteien. Ist das nun eine Koalition oder ist das keine? Man müßte also die Hoffnung, eine Partei mit ganz reiner Prinzipienweste zu finden, aufgeben, wenn es nicht glücklicherweise noch [] eine K. U. P. D. [] gäbe. Diese Herrschaften sind ja das Nonplusultra von verwerden sollte [!]. Ich frage Sie nun, Genossen und Genossinnen, an Ihrer Heiterkeit sehe ich, daß Sie schon wissen, worauf ich hinaus will - gerade diese K. U. P. D. hat ja das merkwürdige Seelenbildnis geschlossen, das man sich ungefähr vorstellen kann, sie steht in den zärtlichsten Beziehungen zu Kapp-Lüttwitz und Genossen. [] Hier riecht es nicht mehr nach Koalition, hier stinkt es schon danach. [] Nach solchen Erfahrungen möchten nun manche von Ihnen, daß wir uns hinstellen und ein Gelöbnis ablegen sollen, wir würden uns, solange wir allein nicht die Mehrheit haben, jeder Art von Mitarbeit mit den bürgerlichen Parteien enthalten. Es ist zweierlei, solche Gelöbnisse zu leisten und sie zu halten. Es gibt nur ein Mittel, die Notwendigkeit von Koalitionen auszuschließen, nämlich so stark zu werden, daß man sie nicht mehr braucht. Und ich erwarte von den Genossinnen und Genossen, denen die Koalition am schwersten im Magen liegt - ein reines Vergnügen war sie keinem von uns -, daß sie auch das meiste dazu tun werden, um uns durch einen vollen Wahlsieg von dieser Notwendigkeit zu befreien. Die bisherige Koalitionspolitik wäre nun leichter zu verteidigen, wäre sie nicht belastet durch die sogenannte [] Noske-Politik. [] Genossinnen und Genossen, ich halte es für eine Ehrenpflicht, hier zu erklären, daß ich den Genossen Noske auch heute noch als Parteigenossen schätze, daß ich seiner Persönlichkeit und seinen ehrlichen Absichten alle Achtung zolle, die sie verdienen. Ich möchte hier so laut wie möglich sagen: Diejenigen, ganz links außerhalb unserer Partei, die Noske am heftigsten schmähen, haben am wenigsten Recht dazu, denn sie haben ihn dazu gemacht, was er geworden ist, sie haben ihn zu seinen Fehlern geradezu gezwungen. Es ist nicht Noskes Schuld, und es ist nicht unsere Schuld, wenn es zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiterbewegung zu blutigen Auseinandersetzungen kam, bei denen naturgemäß jeder Teil die Hilfe nahm, die sich ihm bot. Daß aber Noske sich durch das Geschrei, die Drohungen, die gewaltsamen Angriffe von links [] blind machen ließ für die Gefahren von rechts, [] das war kein Fehler und kein Verhängnis. In dieser Beziehung hat Noske schwer geirrt. Die moralische Entrüstung muß sich aber gegen diejenigen wenden, die ihn, den allzu Vertrauensseligen, verraten und im Stich gelassen haben. [] Kennzeichnend bleibt der Ausspruch des Obersten von Ledebour in Hamburg: [] "Ich bin bereit, zwischen 8 und 9 Uhr jeden Eid zu brechen, den ich zwischen 7 und 8 Uhr geschworen habe." [] Menschen, die so dachten und handelten, bleiben für alle Zeit gerichtet [!], für alle Zeiten gerichtet bleiben die Politiker, die sich aus ihrem schmutzigen Verrat Vorteil zu sichern gedachten. Sie wissen, es waren Herrn von der [] Deutschnationalen und Deutschen Volkspartei. [] Trotz alledem, Genossen und Genossinnen, bleiben in unserer Erinnerung die Tage vom 13. bis 18. März Tage der Erhebung, denn die Schande der wenigen ist wettgemacht worden durch den Ruhm der vielen. Es gibt kein Wort, tönend genug, um die Schwungkraft, die Hingabe, die Opferfreudigkeit zu feiern, mit der sich die namenlosen Massen dem Verbrechen entgegenstemmen. [] Vornean aber stand unsere Partei, und geläutert ist sie aus den Flammen jenes Kampfes hervorgegangen. [] Nichts hat sich geändert an unseren Grundsätzen und unseren Zielen. Aber wo etwas schlapp geworden war, da hat es sich wieder gestrafft, wo die Kampfeslust in inneren Reibungen der Arbeiterbewegung zermürbt war, da hat sie sich wieder gestählt. [] Wer es verlernt hatte, der hat es wieder gelernt, begeistert zu sein. [] Wer daran gezweifelt hatte, daß wir Erobertes zu verteidigen haben, der hat die Wahrheit erkannt, als das eroberte Gut in Gefahr geriet, verloren zu gehen. [] Wer den klaren Sinn dafür verloren hatte, wofür er eigentlich kämpfte, der hat ihn wieder gewonnen, und er kämpft mit uns mit verdoppeltem Eifer. Das alles verdanken wir dem Vorbilde der namenlosen Masse! [] So gehen wir jetzt in den neuen Kampf. Wir wissen, daß er schwer sein wird. Unsere Gegner von rechts ersetzen den Mangel an Argumenten durch einen ungeheuren Aufwand an Material - sie haben es ja dazu! In den Massen herrscht eine nur zu begreifliche Unzufriedenheit, und es ist für den gerissenen Demagogen kein Kunststück, für das, was schlecht ist, diejenigen verantwortlich zu machen, die sich an verantwortlicher Stelle nach besten Kräften darum bemühen, daß es nicht noch schlechter wird. Zu alledem kommt das Wirken des [] französischen Militarismus, [] der durch die vertrags- und völkerbundswidrigen Besetzungen des Maingaues und seine sonstigen Taten geradezu als unbezahlter Agitator aller reaktionären Strömungen in Deutschland wirkt. Die Herren von der Entente haben ja früher immer gesagt, sie wollten nichts, als das deutsche Volk befreien, aber sie haben diese Arbeit nicht nur uns überlassen, sondern sie uns auch mit jedem Tage schwerer gemacht. [] Aber sie haben uns damit nur die Erkenntnis eingehämmert, daß unser Volk mit den anderen zusammen erst dann ganz frei werden kann, wenn sich alle von ihren Feinden befreien, alle gegen die Mächte der Vergangenheit, Kapitalismus und Imperialismus, in einen gemeinsamen Kampf eintreten. Für diesen Kampf wollen wir deutschen Sozialdemokraten in den kommenden Wahlen für unser Teil das Beste tun. [] Damit streben wir aber auch dem Ziel entgegen, daß wir aus den Augen verloren haben, der Einigung aller schaffenden Kräfte des Volkes und der ganzen Welt zu einer großen kämpfenden und aufbauenden Gemeinschaft. Wenn Sie, Genossinnen und Genossen, ins Land hinausgehen, dann rufen Sie es allen werktätigen Volksgenossen, Arbeitern, Angestellten und Beamten, zu, daß wir die Träger dieses großen Einheitsgedanken sind. Fort mit allem Hader und aller Selbstzerfleischung! Ein Ziel, ein Weg, ein Wille, und so - vorwärts! Auf in den Kampf! [] Es lebe die Einigkeit der Arbeit! [] Es lebe die deutsche Sozialdemokratie! [] Wähler und Wählerinnen! [] Am 6. Juni ist Wahltag! [] Jede Stimme gehört der Sozialdemokratie. Darum stimmt für den Wahlvorschlag der S. P. D. im Kreise Stadt Berlin: [] Stadtverordneten-Vorsteher Hugo Heimann, Berlin [] Schriftleiterin Klara Bohm-Schnch, Berlin-Britz [] Geschäftsführer Richard Fischer, Berlin [] Reichsminister Robert Schmidt, Karlshorst [] Stadtrat Adolf Ritter, Berlin [] Geschäftsführer Friedrich Schlegel, Berlin [] Gewerkschaftsangestellte Martha Hoppe, Berlin [] Redakteur Arthur Striemer, Berlin [] Sekretär Adolf Wuschick, Lichtenberg [] Oberpostassistent Max Gronefeld, Lichtenberg [] Lehrer Heinrich Bahlke, Berlin [] Landrichter Ernst Ruben, Berlin [] Lehrerin Lisbeth Niedger, Berlin [] Polizeioberwachtmeister Arthur Albinus, Berlin [] Oberpostschaffner Max Echterbecker, Berlin [] Vorwärts Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer & Co., Berlin SW. 68, Lindenstr. 3.
|