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Reichskanzler a.D. Dr. Wirth [] an die Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates [] Am Neujahrstag hat der ehemalige Reichskanzler Dr. Joseph Wirth ein Schreiben an die Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates gerichtet, in dem er eindringlich vor den politischen und wirtschaftlichen Folgen des Schuman-Planes und des Generalvertrages warnt. [] Das Schreiben hat folgenden Wortlaut: [] "An die Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates in Bonn (Rhein). [] Meine Damen und Herren! [] Es ist eine ernste Pflicht und die höchste Zeit, die politisch verantwortlichen Zeitgenossen darauf aufmerksam zu machen, daß Deutschland wieder einmal, wie schon mehrfach, unter ein fremdes finanzielles und wirtschaftliches Regime gebeugt werden soll. Der Dawes-Plan und der Young-Plan sollten uns noch in Erinnerung sein. Ganz abgesehen vom Versailler Vertrag unseligen Andenkens. Wer bei dem Young-Plan selbst Verantwortung getragen hat, weiß, wie tief das deutsche Volk nach Annahme dieses Planes aufgewühlt, wurde und von welchen weittragenden Folgen das für die deutsche Entwicklung war. Der zweite Weltkrieg brachte das deutsche Volk an den Rand des Abgrundes. [] Vor der zweiten Haager Konferenz im Jahre 1930 erstattete ich in meiner Eigenschaft als Reichsminister für die besetzten Gebiete dem Herrn Reichspräsidenten von Hindenburg Vortrag über die bedenklichen Seiten des Young-Planes; er wollte diese aber nicht gelten lassen und betonte, daß es zuerst darauf ankäme, das Rheinland frei von fremder Besatzung zu bekommen. Nicht allzu lange nachher jedoch bemerkte derselbe hohe Herr, daß er bezüglich des Young-Planes belogen und betrogen worden sei. Das war selbst mir, einem gutmütigen Süddeutschen, zuviel. Als Hindenburg daraufhin angesprochen wurde, bestätigte er, daß Joseph Wirth ihn rechtzeitig vor den Folgen des Young-Planes gewarnt habe. [] Wir stehen heute wieder einer Situation gegenüber, die jener in mancher Beziehung ähnlich ist. Wiederum sehen wir unser Land und unsere Menschen aufgewühlt und fühlen und erkennen instinktiv, daß wichtigste und sehr weittragende Entscheidungen über ihr zukünftiges Schicksal gefällt werden, ohne daß sie gehört werden, ohne daß ihnen im einzelnen die Bedeutung der Beschlüsse bisher nahegebracht wurde. Sie hören und lesen vom Schuman-Plan, von dem Generalvertrag mit den Zusatzverträgen, der Deutschland angeblich eine Souveränität verleihen soll. [] Beim Eindringen in die Einzelheiten zeigt sich bereits, daß es unter den Bedingungen der Besetzung keine Souveränität gibt. [] Die schicksalsschweren politischen und wirtschaftlichen Folgerungen des Schuman-Planes bedrohen das deutsche Volk in seinem friedlichen Bestand, verwandeln das Herz der deutschen Wirtschaft in eine fremde Kriegsindustrie und verhindern die Entwicklung einer eigenen friedlichen Exportindustrie. Deutschland soll Divisionen stellen, und zwar mit größter Schnelligkeit. Die deutschen Menschen empfinden die Bedrohung, unverschuldet in eine Auseinandersetzung hineingerissen zu werden, die Deutschland zum Schlachtfeld macht und in der alle und alles der endgültigen Zerstörung und Vernichtung anheimfallen. [] Aus meiner tiefen Verantwortung vor dem deutschen Volke sehe ich mich darum heute, an der Schwelle des neuen Jahres, verpflichtet, der Stimme meines Gewissens zu folgen und vor einer voreiligen Beratung und Annahme des Schuman-Planes im Bundestag nachdrücklichst zu warnen. [] Die Spuren des verhängnisvollen Young-Planes sind noch so deutlich sichtbar, daß man in Ahnung kommender Dinge einfach nicht schweigen darf. [] Die Entscheidung über den Schuman-Plan kann und darf nicht ohne das deutsche Volk getroffen werden. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Das deutsche Volk steht heute nicht mehr in Übereinstimmung mit der Politik der Regierung in Bonn. Das deutsche Volk muß daher in seiner Gesamtheit zur eigenen Entscheidung auf gerufen werden. [] So werden erneut mit allem Nachdruck Stimme und Mahnung zuäußerster Vorsicht in diesen schweren Zeitläuften erhoben, um die Zeitgenossen beschwörend zu ersuchen, zuerst die Einsicht der Deutschen zu wecken oder zu stärken, damit sie nicht wieder, wie im Jahre 1933, blindlings und urteilslos einem neuen Phantom anheimfallen. Das zu verhindern ist Sinn und Zweck dieses Mahn- und Kampfrufes. [] Durch Einheit und Arbeit zur Freiheit unseres deutschen Volkes! [] Berlin, am Neujahrstage 1952. [] Dr. Joseph Wirth, Reichskanzler a. D., [] Freiburg/Breisgau (Baden), Landsknechtstraße 18" [] Bedeutungsvoller Besuch in Berlin [] Der frühere Reichskanzler Dr. Joseph Wirth weilte zu Beginn dieses Jahres als Gast des ihm von früher bekannten Oberbürgermeisters Friedrich Ebert in Berlin. [] Dr. Wirth hat in West- und Ostberlin Freunde aus der Zeit seiner langjährigen Berliner Tätigkeit besucht und Besuche empfangen. Er hatte Unterhaltungen mit Politikern aller Parteien und Persönlichkeiten des wirtschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Lebens der Hauptstadt. Besprechungen haben außerdem stattgefunden mit dem Präsidenten der Volkskammer, dem Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik und den Stellvertretenden Ministerpräsidenten; ebenso hat Dr. Wirth dem Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, Wilhelm Pieck, einen Besuch abgestattet. Dem Wunsche Dr. Wirths entsprechend, erfolgte auch eine Aussprache mit den Vertretern der Sowjetunion in Berlin. [] Der Zweck der Reise Dr. Wirths nach Berlin ist das sorgfältige Studium der Voraussetzungen für die Herbeiführung einer Verständigung zwischen Ost- und Westdeutschland, für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und die Bewahrung des Friedens. Dr. Wirth erstrebt eine gesamtdeutsche selbständige Außenpolitik, wie sie von ihm nach dem ersten Weltkrieg gegenüber dem Versailler Vertrag eingeleitet wurde. [] Dr. Wirth beabsichtigt, das Ergebnis seines Studiums in einem Memorandum der Öffentlichkeit zu unterbreiten.
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