Summary: | Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals;
Maria Sevenich [] Normalverbraucher - Normalverdiener [] Ein nachdenkliches Wort zur Frankfurter Wirtschaftspolitik der CDU [] "Inhalt und Ziel der sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein." [] Ahlener Programm der CDU. [] In den Jahren nach dem Zusammenbruch war das deutsche Leben auf das Furchtbarste gekennzeichnet vom Mangel am Notwendigen. Normalverbraucher sein, das hieß, alle Last der deutschen Not tragen; hungern, darben, verelenden. - [] Etwas "nebenbei" zu besorgen, wurde fast unerläßlich. Die Gedanken aller Menschen kreisten nur noch darum, wie das zu ermöglichen sei. [] In Scharen strömten ausgehungerte Städter auf das Land und brachten ihre letzte armselige Habe zum Bauern. Der Bauer konnte die im Betrieb benötigten Industrieerzeugnisse, - Arbeitskleidung und -gerät, Düngemittel und Maschinen - nur erwerben, wenn er Lebensmittel zum Tausch bot. Auch zur Ingangsetzung der industriellen Produktion halfen allein Sachwerte. Am Ende bekamen die Werktätigen in den Betrieben, - freilich meist nur in bescheidenstem Umfang - neben den immer wertloseren Geldlöhnen "Kompensationsware", die zu dem notwendigen "Nebenbei" verhalf. [] Wer etwas "gegenstoßen" konnte, blieb vor dem Schicksal des Normalverbrauchers bewahrt. [] Die im Besitz der Produktionsmittel befindlichen Kräfte: Bauern und Fabrikherren, in gewissem Umfang auch der Handel - hatten "etwas". Sie mußten zwar Unbequemlichkeiten auf sich nehmen; der Graue und Schwarze Markt waren illegal. Aber das Risiko wurde immer geringer; auch der Staatsanwalt hatte Hunger. [] Dem Normalverbraucher standen diejenigen gegenüber, die aus dem Vollen lebten, - gelegentlich mit kleinen Schönheitsfehlern. Sie hatten genügend "Kompensationsware" für Nahrung und Kleidung, zur Beseitigung der Kriegsschäden im eigenen Bereich; sie konnten sogar an die Mehrung des Besitzes denken: [] sie bauten Scheunen und Häuser und ihre Hortungslager füllten sich mit Waren. [] Indessen hungerte das werktätige Volk, - die Normalverbraucher; Millionen Vertriebener wurden zum fünften Stand, die heimgekehrten deutschen Soldaten verschlissen den grauen Rock. [] Offiziell hielt man von Staatswegen an der Fiktion einer Bewirtschaftung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion fest; an dem gerechten Ausgleich von Angebot und Bedarf. Freilich, ohne wirksam etwas dagegen unternehmen zu können, daß die zu bewirtschaftende Ware immer seltener wurde. [] Es gab mannigfaltige Hinderungsgründe: die Ohnmacht des Staates, der erst von unten nach oben wuchs - geführt von fremden Militärregierungen, - die Zonengrenzen, die mit der Einheit Deutschlands auch das wirtschaftliche Gefüge zerstörten, - und nicht zuletzt der Geldüberhang. Gleichviel, - der Staat setzte sich nicht durch. Die Bewirtschaftungsbehörde als regulatives Prinzip kam nicht zur Geltung. Allein im landwirtschaftlichen Sektor, in dem - seit der Nazizeit - die Bewirtschaftung schon an der Produktionsstätte begann und durchlief, bis in den Verteilerkanal, wurde ein gewisses Ablieferungssoll aufrechterhalten. Es bewahrte den Normalverbraucher vor dem sicheren Hungertod. [] Seit der Währungsreform sind die Geschäfte überfüllt. Vornehmlich mit unbewirtschafteter Ware. Denn vor der Verkündung der Währungsreform durch die Alliierten hat der Frankfurter Wirtschaftsrat mit den Stimmen der CDU, FDP und DP den Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, Prof. Dr. Erhard, ermächtigt, die Bewirtschaftung zahlreicher Industrieerzeugnisse aufzuheben. - [] Der Geldmangel zwang Industrie und Handel allerdings, auch bewirtschaftete Waren zum Verkauf zu stellen. Wenn die zögernde Haltung hierbei, wegen der Hoffnung, die Bewirtschaftung könnte in Kürze allgemein aufgehoben werden und damit die ersehnte freie Preisgestaltung möglich sein, - durchaus nicht verkannt werden soll. [] Wir wissen heute, daß Industrie und Handel in den bösen drei Jahren seit dem Zusammenbruch ihre Waren nicht nur verschoben haben, um selbst von der Not der Zeit unberührt zu bleiben. Sie haben in größtem Umfang auf Lager produziert und im Handel gehortet. Das war der kapitalistische Gewinn jener Zeit, - auf dem Rücken der werktätigen Normalverbraucher verdient, - den sie nun - nach der Währungsreform (möglichst erst nach dem Lastenausgleich!) - zu versilbern gedenken. Versteht sich, zum Höchstpreis! Denn wer wollte im Zeichen freier Preisgestaltung Normalverdiener sein, solange die Ware so knapp ist, wie in dem zerstörten Deutschland. [] Seit der Währungsreform werden aus dem Ausland größere Kontingente an Lebensmitteln eingeführt. An einigen Produkten, z. B. Kartoffeln und Gemüse, ist hierdurch zeitweise ein Ueberangebot entstanden. Beileibe nicht gemessen an dem, was notwendig wäre, um alle Hungernden zu speisen, - aber gemessen an den Möglichkeiten des Normalverdieners. Immerhin, es ist sehr viel mehr auf dem Markt, und damit versucht man den falschen Eindruck zu erwecken, als wirke sich solcher Art "der Segen" der freien Marktwirtschaft aus. [] In Wahrheit sind die Lieferungen aus dem Ausland eine Folge der Marshall-Hilfe, die uns gewährt wird, um Deutschland vor der Bolschewisierung zu bewahren. Deutsche Politiker sind hieran gänzlich unschuldig. Wer sich die Besserung der Lebensmittelversorgung für den Normalverdiener zum Erfolg anrechnet, der belügt sich selbst oder das Volk. [] Unmißverständlich haben das die Alliierten in einem Brief an Prof. Erhard zum Ausdruck gebracht, als er auch die Aufhebung der Lebensmittelbewirtschaftung forderte: Solange die USA und Großbritannien - heißt es in dem Schreiben des Zweimächtekontrollamtes - jährlich 900 Millionen Dollar für die Lebensmittelversorgung des deutschen Volkes aufbringen müssen, seien die Militärregierungen sowohl dem deutschen Volk als auch den eigenen Regierungen dafür verantwortlich, daß diese Lieferungen gerecht verteilt und nicht zu Spekulationszwecken verwendet werden. - [] Das ist deutlich. Es widerspricht der Tendenz, den Normalverdiener auf dem Elendsniveau des Normalverbrauchers zu halten. [] "Unter Bedarf versteht man das, was durch Kaufkraft unterbaut ist," sagte Herr Prof. Erhard unlängst vor dem Frankfurter Wirtschaftsrat. Der Parlamentsbericht verzeichnete Beifall und Händeklatschen rechts. - [] Wenn das Brot zehn Mark kosten würde (und warum sollte es nicht einmal so viel kosten, wenn es knapp ist?), dann sind nur diejenigen hungrig, die noch 10 Mark im Portemonnaie haben. "Hast Du was, kriegst Du was!" - das war und soll so bleiben. [] Der Sachwert, der dem Normalverbraucher fehlte, der von denen gehortet wurde und nun in D-Mark umgewandelt wird, die niemals Not kennengelernt haben, - eben dieser versilberte Sachwert soll das Regulativ von Angebot und Bedarf bleiben. Das sichert den Ueberfluß des einen, - mag es auch das Elend der anderen bedeuten. [] Die Alliierten haben die Aufhebung der Bewirtschaftung von Lebensmitteln verhütet. Dank des Ermächtigungsgesetzes hat Prof. Erhard aber die Bewirtschaftung vieler industrieller Erzeugnisse aufgehoben. Wer ihrer "bedarf", reguliert der freie Preis. Was das bedeutet, wissen die Normalverdiener. [] Wenn der Bauer seine Erzeugnisse nicht zu freien Preisen verkaufen darf, wenn er gezwungen wird, Normalverdiener zu sein, dann wird er seine Ware verschwinden lassen, verkungeln, verschieben -, und zwar mehr noch, als je zuvor. Und Prof. Erhard wird vielleicht mit Genugtuung feststellen: es geht eben nicht mit der "Zwangswirtschaft". Denn, wie könnte eine Wirtschaftsverwaltung etwas dagegen einwenden, die von einem Mann geführt wird, der nach der Währungsreform, in der Debatte um die gesetzwidrig gehorteten Warenlager von Industrie und Handel öffentlich erklärte: "Ich bin glücklich, daß unsere Wirtschaft noch so viele Waren hatte." Oder: "Der Markt ist die einzige wohltätige Einrichtung, um eine gerechte Verteilung zu schaffen." Oder: "Der Preisstopp bot den Deckmantel für die bewußt ins Chaos treibende Staatspolitik." [] Angesichts der ernsten Sorgen um die Brotversorgung im kommenden Frühjahr hört man Prof. Erhard denken: "Ich bin glücklich, daß sich der gesunde Verstand unserer Bauern selbst einen Weg in die "Freiheit" bahnt." - [] Nicht, weil weniger eingeführt wird, haben wir Sorgen um das Brotgetreide, - im Gegenteil! Aber weil die "Kaufkraft" aller derjenigen, die heute von den Hortungsgewinnen in Saus und Braus leben, einerseits, und die Versuchung, die den Bauern angesichts der überhöhten Preise industrieller Erzeugnisse anfällt, andererseits, - den "wohltätigen" freien Markt unter der Hand die "gerechte Verteilung" des Wenigen, das uns zur Verfügung steht, vornehmen läßt, ehe noch die Hungrigen gespeist sind. - [] Mag sein, - sagen die Menschen - mag sein, aber der Normalverdiener kann wenigstens überhaupt etwas kaufen. Der Geschäftsmann sagt wieder "bitte schön" und hat sogar Einpackpapier. Wenn die Preise erst fallen, - und Prof. Erhard sagt, das wird kommen, - dann ist es schon recht so. Normalverbraucher und Normalverdiener ist zweierlei. Man kann die Ware wenigstens wieder sehen, - morgen wird man sie kaufen können. [] Wählt Prof. Erhard - wählt den höflichen Kaufmann! sagt die CDU. Von dem "kapitalistischen Gewinnstreben" des Ahlener Programms ist nicht mehr die Rede. [] Ein Wort der Besinnung, Ihr Normalverbraucher von Gestern, Normalverdiener von Heute: Zugegeben - nicht einmal im Schaufenster bewundern konnten wir die Waren, - vor der Währungsreform. [] Wer trägt die Verantwortung dafür? Der Staat! - Gewiß, weil er diejenigen, die Ware produzierten und verhandelten, verschoben und versteckten, nicht mit geeigneten Mitteln zum Wohle des Volksganzen gezwungen hat, die Ware dorthin zu geben, wo die Not am größten war. [] Wer trägt die Verantwortung, wenn in einem Lande die Kriminalität überhand nimmt? Der Polizist (aber vielleicht gab man ihm nur ein Fahrrad, den im Auto entfliehenden Verbrecher zu verfolgen?), der Staatsanwalt, der zu müde war im Zugriff (aber vielleicht wußte er sich in der hoffnungslosen Lage des Don Quichote?), der Gesetzgeber, der Maschen im Netz ließ (aber vielleicht hat man seinen Willen begrenzt?)! [] Nicht wahr, - das wäre noch schöner, wenn sich der Verbrecher, wo man ihn für seine Missetat vor den Richter stellt, damit entschuldigen wollte: das Gesetz war schlecht, der Staatsanwalt müde, der Polizist mangelhaft ausgerüstet. [] Von rund 70 Millionen Ziegelsteinen, - so wurde mir berichtet, - einer Jahresproduktion in Oldenburg, sind nur 6,5 Millionen in die staatliche Bewirtschaftung gekommen. 63,5 Millionen wurden verschoben. - Nun, und was sagen die Horter heute: die Zwangsbewirtschaftung war schuld! Der Polizist - der Staatsanwalt - der Gesetzgeber. [] Uebrigens, ein derartiges Ausmaß der Unregelmäßigkeit war im landwirtschaftlichen Sektor niemals möglich. Warum nicht? Weil dort der staatliche Zugriff bereits in der Produktionsstätte erfolgte. Um so leichter kann er im Verteilerkanal aufhören! Das war der fundamentale Fehler der Jahre nach dem Zusammenbruch, daß die industrielle Produktion nur im Handel erfaßt werden sollte und nicht in der Produktionsstätte. [] Zugegeben, - die Ware steht seit der Währungsreform zu freiem Verkauf. - Auch der Normalverdiener kann ein Zipfelchen fassen. Eben das Zipfelchen der Produktion, das man dem Normalverbraueher vorenthielt, um es als Hortungsgewinn über die Währungsreform zu retten. Ohne Zweifel, man will dem Werktätigen nun nicht mehr den gesamten Lohn vorenthalten. Seit der Währungsreform lohnt es sich nicht, Ware zu horten, man kann wieder mit Geld "kapitalistischen Gewinn" verbuchen. Und viel besser! [] Muß der Normalverdiener wirklich dankbar sein? - Die Hortung war doch ungesetzlich. Es ist doch ein Verbrechen, Menschen unbekleidet, ohne Nahrung und Obdach zu lassen, wenn man durch Gesetz verpflichtet ist, ihnen das Notwendige zu geben. Es ist ist u.U. Mord! [] Muß der Normalverbraucher wirklich so dankbar sein, daß man ihm nun zum Höchstpreis verspricht, sein Leben zu schonen? Ist wirklich die Methode der Aufhebung eines Strafgesetzes die einzig denkbare in Deutschland, um Verbrechen zu verhüten, wenn es um "kapitalistischen Gewinn" geht? - [] Wer ist eigentlich Normalverdiener? Der Werktätige und der Angestellte, der Beamte und der Pensionär, der Invalide und der Wohlfahrtsempfänger. Möchte niemals ein ernster Generalstreik der Werktätigen Herrn Prof. Ehrhard deutlich machen, wer Normalverbraucher war, Normalverdiener geworden ist. - [] Ohne Zweifel hat der Offensivgeist christlich-sozialer Haltung, der noch die Präambel des Ahlener Programms der CDU beherrschte, im Frankfurter Wirtschaftsrat dem liberalen Krämergeist das Feld geräumt. "In dieser bescheidenen Kultur einer neuen Biedermeierzeit, - selbstverständlich mit allen zeitbedingten sozialen und wirtschaftlichen Abwandlungen, - sollten sich wir und unsere Kinder wohl fühlen." Mit diesen Worten feierte Oberdirektor Pünder (CDU) in Frankfurt kürzlich die "soziale und wirtschaftliche Neuordnung". [] "Zeitbedingte soziale Abwandlungen", - man hat am Ende der "Zwangsbewirtschaftung" und Hortungsproduktion den Arbeitern "Kompensationsware" als Lohn gezahlt. Damit die armen Teufel nicht zusammenbrachen an den Maschinen. Man will heute mit einem Jedermann-Programm einige Konsumgüter zur Befriedigung des primitivsten Bedarfes "etwas billiger" auf den Markt werfen und verteilen. Gewissermaßen ohne Rücksicht auf den eigentlichen Bedarf, - ich meine die Kaufkraft. Schuhe für 27 DM. (Erzeugerpreis?!) hört man. Die armen Teufel müssen schließlich auch einmal Schuhe haben. [] Dies alles geschieht unter Berufung auf das Wort "christlich". Und das legt allen, die es ernst meinen mit der "sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung" aus christlicher Verantwortung, (so ernst, wie es die Arbeitervertreter meinten, die jene Präambel des Ahleher Programms mitgestaltet haben!) die Verpflichtung auf, in aller Oeffentlichkeit die Wahrheit zu bekennen. [] Damit die Menschen nicht irre werden an dem Gehalt des christlichen Postulats in der Welt: Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst. [] Hannover, im November 1948. [] Maria Sevenich, M. d. L. [] Buchdruckwerkstätten Hannover GmbH, CDH 524, 2503, 11.48, C [] Gedruckt für Maria Sevenich
|