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Das sozialdemokratische Justizprogramm [] Justizminister a. D. Viktor Renner verkündete um 14. Juni 1953 in Wiesbaden die nachstehende, vom Rechtspolitischen Ausschuß beim Parteivorstand und dem Vorstand der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen (ASJ) vorgeschlagene Ergänzung zum Dortmunder Aktionsprogramm der SPD: [] Recht und Rechtspflege [] Demokratischer Sozialismus ist nicht denkbar ohne den Schutz der Freiheit des Einzelnen und seiner sozialen Existenz gegen private und staatliche Willkür. Deshalb bejaht die SPD den Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Richter. [] Die Rechtsprechung soll der Verwirklichung der demokratischen und sozialen Gerechtigkeit dienen. Der Unabhängigkeit des Richters muß daher seine demokratische Verantwortlichkeit entsprechen. Auch die rechtsprechende Gewalt geht vom Volke aus, das durch sein Parlament oder durch die parlamentarisch verantwortliche Regierung Herr der Richterauswahl bleiben muß. [] Die gesamte Rechtsordnung muß den Erfordernissen der modernen sozialen Demokratie angepaßt werden. Die SPD wird namentlich für übersichtliche Gesetze und für eine lebensnahe, jedermann verständliche Gesetzessprache eintreten. [] Gleichberechtigung und Schutz der Familie [] Der durch das Grundgesetz geschaffenen Gleichberechtigung von Mann und Frau sind in kürzester Zeit alle übrigen Gesetze, auch die Steuer- und Sozialgesetze, anzupassen. [] Ehe und Familie sind die Grundlagen der Gesellschaft. Sie bedürfen eines besonderen rechtlichen Schutzes, zu dem auch die Neufassung des ehelichen Güterrechts beitragen muß. Auch im Erbrecht sind die Interessen der nahen Familienangehörigen besser zu wahren. Für Entscheidungen über das Schicksal von Kindern aus geschiedenen Ehen darf allein das Wohl der Kinder maßgebend sein. [] Den unehelichen Kindern sind alsbald durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen, wie den ehelichen Kindern. [] Modernes Strafrecht [] Die seit Jahrzehnten geforderte Strafrechtsreform ist endlich durchzuführen. Sie muß davon ausgehen, daß das Strafrecht dem Schutze der elementaren Werte des Gemeinschaftslebens überhaupt und insbesondere dem Schutze der demokratisch-sozialen Ordnung zu dienen hat. Andererseits muß die Reform die sozialen, pädagogischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse unserer Zeit verwerten. [] In der gesamten Strafrechtspflege ist zu unterscheiden zwischen dem Gelegenheitstäter, dem das Strafverfahren eine Warnung sein soll, dem angehenden Gewohnheitstäter, der durch zweckmäßige Maßnahmen gemeinschaftsfähig zu machen ist, und dem gefährlichen Täter, vor dem die Gesellschaft wirksam geschützt werden muß. Die Todesstrafe und unmenschliche Methoden der Verbrechensbekämpfung werden abgelehnt. [] Bei weitgehender Entlastung der Strafrechtspflege von dem Ballast geringfügiger Gesetzesverstöße soll das Strafverfahren den Rechtsschutz des Beschuldigten gewährleisten, aber auch dem Strafrichter die Möglichkeit geben, über die bloße Gesetzesanwendung hinaus Aufgaben der Fürsorge und Sicherung zu erfüllen. [] Die Reform des Strafvollzuges und eine moderne Umgestaltung des Gnadenrechts sind sozialethisch und kriminalpolitisch notwendig. [] Justizreform [] Durch eine umfassende Justizreform müssen Verfassung und Verfahren der Gerichte, die noch aus den Zeiten des Obrigkeitsstaates stammen, den Bedürfnissen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates angepaßt werden. [] Notwendig sind vor allem Richter und Staatsanwälte, die nicht nur durch juristische Befähigung, sondern auch durch Lebenserfahrung, soziales Verständnis und eindeutig demokratische Gesinnung sich das Vertrauen aller Volksschichten zu gewinnen wissen. Dies erfordert eine grundlegende Reform der juristischen Ausbildung. Insbesondere ist der rechtswissenschaftliche Unterricht durch das Studium der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenhänge weiter auszubauen. Daneben muß dafür gesorgt werden, daß der Richterberuf qualifizierten Persönlichkeiten auch einen materiellen Anreiz bietet. [] In allen dazu geeigneten Zweigen der Rechtsprechung sind Männer und Frauen aus allen Berufen als ehrenamtliche Richter zu beteiligen. [] Der Gerichtsaufbau ist zu vereinfachen. Die Einrichtung der Friedensgerichte ist weiter zu erproben. Das Gerichtsverfahren ist übersichtlich zu gestalten und zu beschleunigen; insbesondere ist die Zusammenfassung aller Familien- und Jugendsachen in einer Hand anzustreben. Die Entscheidungen sind allgemeinverständlich zu fassen. [] Alle nicht im eigentlichen Sinne richterlichen Funktionen sind auf andere Organe, insbesondere Rechtspfleger, zu übertragen, damit die Richter für ihre wesenseigenen Aufgaben frei werden. [] Herausgeber: Vorstand der SPD, Bonn, 8. 53.
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