Liebe Wählerin! Lieber Wähler!

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Liebe Wählerin! [] Lieber Wähler! [] Ich möchte Ihnen wegen der bevorstehenden Wahl persönlich schreiben. Die erste Entscheidung, vor der Sie stehen, betrifft Ihr demokratisches Recht, der Wahl fernzubleiben. Tun Sie dies nicht. Gleich, ob Si...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Klabunde, Erich, Auerdruck GmbH, Hamburg
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 14.08.1949
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/2D4DAEC2-0599-42BC-B324-065EBB01C393
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Liebe Wählerin! [] Lieber Wähler! [] Ich möchte Ihnen wegen der bevorstehenden Wahl persönlich schreiben. Die erste Entscheidung, vor der Sie stehen, betrifft Ihr demokratisches Recht, der Wahl fernzubleiben. Tun Sie dies nicht. Gleich, ob Sie aus Ihrer eigenen späteren Perspektive richtig oder falsch gewählt haben. Sie müssen in sich selbst Kampf und Risiko erleben, die mit jeder Entscheidung, auch mit der politischen, verbunden sind. Sie werden sagen, daß die Entscheidung über das Wahlergebnis im Grunde schon vor der Wahl selbst gefallen ist. Denn jeder hat sich längst seine Meinung gebildet, und weder Wahlversammlungen und Wählerbriefe der Kandidaten werden daran Wesentliches ändern. Das mag stimmen. Aber es kommt nach meiner Auffassung auch darauf an, daß man seine eigene Meinung immer wieder überprüft, vor allem die sachlichen Einwände kennenlernt und sich mit ihnen auseinandersetzt. [] Von mir, einem Sozialdemokraten, erwarten Sie natürlich, daß ich Ihnen die SPD empfehle. Ich möchte Sie aber nur auf eine Reihe von Tatsachen hinweisen und Sie bitten, diese zu berücksichtigen. Am besten, Sie kämen In eine der vielen Versammlungen, so daß Sie und ich in der Form der Diskussion die schwebenden Probleme erörtern. Dabei soll immer ein sachliches Thema im Mittelpunkt stehen, und es wird mein Bemühen sein, Sie sachlich zu informieren. Die angekündigten Themen sind: Der Aufbau Hamburgs als Beispiel für Deutschland / Vollbeschäftigung, Zinspolitik, Preispolitik, Wirtschaftspolitik unter dem Titel "Die Fehler des Professors Erhard" / Wohnungsbau und Miethöhe / die Besserung der Lebenshaltung / die Lösung der Flüchtlingsnot / sowie das grundsätzliche Thema "Bürgertum und Sozialismus" / schließlich die Frage "Jugend - Politik - Europa". [] Erwarten Sie bitte auch nicht, daß ich meine Erörterungen auf jene große Zahl von Themen ausdehne, in denen sich, abgesehen meist von dem unbedeutenden Häuflein der Kommunisten, alle Deutschen einig sind, wie etwa Gewinnung der vollen Souveränität Deutschlands, Abbau der Besatzungskosten, Beseitigung der Oder-Neiße-Linie, Wiedergewinnung des deutschen Ostens, das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Heimat und die Befreiung von der Besatzung selbst. Das sind wichtigste Fragen unseres nationalen Schicksals, aber sie brauchen nicht Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen zu sein. Wir sollten vielmehr diejenigen Fragen diskutieren, in denen die Meinungen heute noch voneinander abweichen. [] Ich weise vor allem auf ein Thema hin, über das sich Arbeiterschaft wie Bürgertum noch zuwenig Sorge machen. Wir haben heute zwölf Millionen Beschäftigte und eineinviertel Millionen Arbeitslose, also müssen zehn Prozent Arbeitswillige untätig bleiben. Unsere Zeitungen stellen das meist als nicht sehr kritisch hin. Dieselben Zeitungen berichten uns ausführlich von den Krisen des Auslandes, obwohl in England die Zahl der Arbeitslosen kaum ein Prozent übersteigt und in Amerika gerade sechs Prozent erreicht sind, die in dem reichsten Land der Weit Herrn Truman viel Sorge machen. Und wir? Zehn Prozent Arbeitslose im Sommer sind bisher immer 15 bis 20 Prozent Arbeitslose im Winter gewesen. Das träfe Hamburg besonders stark. Es wäre ein schwerer Schlag für die Arbeiterschaft wie für diejenigen, die zum Bürgertum rechnen. Einzelhandel und Handwerk würden fühlbare Umsatzrückgänge erleiden; das muß den Großhandel in seinem Aufbau beeinträchtigen und selbstverständlich auch die hiesige Industrie. Wir alle sollten deshalb das Thema Vollbeschäftigung und wie man sie herbeiführt als ganz besonders wichtig ansehen. Sozialdemokratische Auffassung ist, daß hierzu die richtige Bereitstellung von Krediten und deren Lenkung in die richtigen Kanäle die entscheidende Voraussetzung ist. Das ist übrigens die einzige "Lenkung", an die wir denken. Kein Sozialdemokrat ist darauf aus, neue Zwangsbewirtschaftungen einzuführen (Bezugscheine gehören zu den zwangsläufigen Sünden der NS-Vergangenheit und [] der auslaufenden Reichsmarkzeit). Ich meine, daß ein so wichtiges Thema, wie die Vermeidung der Arbeitslosigkeit, Anlaß sein könnte, in aller Sachlichkeit die Lösung zu diskutieren. Denn das ist keine Frage einer einzelnen Gruppe oder Klasse, sondern des gesamten deutschen Volkes, das unter allen Umständen die Wiederholung der Wirtschaftsnöte von 1930/32 vermieden sehen will. [] Noch eine andere große Sorge: Wohnungsbau und Mieten, Hamburg hat gerade auf Initiative der SPD - und dabei bin ich auf die eigene Mitwirkung stolz, wie Sie verstehen werden - mehr für den Wohnungsbau seit der Währungsreform getan als irgendein anderes deutsches Land. Aber die Leistungen sind immer bescheiden gegenüber der notwendigen zwanzigjährigen Aufbaudauer. Gerade deswegen kommt alles darauf an, daß möglichst viel öffentliche Mittel bereitgestellt werden, weil private Vermögen nur in seltenen Fällen reichen, den Wohnungsbau zu finanzieren. Und die Mittel müssen so günstig wie möglich hinsichtlich Zins und Tilgung gegeben werden, damit die Mieten erträglich bleiben. Gewiß können manche durchaus höhere Mieten zahlen. Aber für alle Nicht-Großverdiener gilt, daß sie möglichst niedrige Mieten brauchen, damit sie ihreübrige Lebenshaltung nicht weiter einschränken müssen. [] Sie meinen vielleicht, daß Wirtschaftspolitik und Wohnungsbaupolitik nicht die ganze Politik sind. Das ist richtig. Aber es sind zwei außerordentlich weit im Vordergrund stehende Themen. Man kann sie nach meiner Auffassung nur dann richtig lösen, wenn man sie unter einen höheren Gesichtspunkt stellt, nämlich den, daß wir zunächst einmal den Stand unserer Lebenshaltung in den besten Jahren der Weimarer Republik wieder erreichen - erinnern Sie sich noch, mit welch geringer Steuerlast wir damals unser Einkommen bezogen, welche Kaufkraft das Geld hatte und mit welchem Gefühl der Sicherheit wir in den Jahren 1926 bis 1929 lebten? Ich war damals gerade zwanzig Jahre alt, machte meine ersten journalistischen Gehversuche und denke an jene Zeit noch heute fast an ein goldenes Zeitalter zurück. Aber die Erinnerung darf uns nicht blind machen gegenüber den Unvollkommenheiten, mit denen wir damals wirtschaftlich, sozial, finanziell und außenpolitisch zu tun hatten. Wir müssen über den damaligen Stand auch hinausgelangen; im Lauf der Jahre muß die Lebenshaltung des deutschen Volkes in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht höher werden als je zuvor. [] Hierher gehört auch die Sorge für die Zeit des Alters. Ich möchte es so ausdrücken, wir Jüngeren, die Altersrentner von morgen, müssen uns die Sorgen der Rentner von heute voll zu eigen machen. Wir gestalten damit nicht nur das Leben einer Generation vor uns, sondern für die Zukunft zugleich unser eigenes. Verdient nicht der Lebensabend eine bessere wirtschaftliche Lösung, um wirklich eine Krönung des Lebens werden zu können? [] Vielleicht sagen Sie, das seien ferne Anliegen. Wir hätten uns zunächst um Bombenopfer, Kriegsopfer, Flüchtlinge und enteignete Sparer zu kümmern, Gewiß müssen wir diese Sorgen haben, und ich kenne sie auch. Denn ich weiß aus der Totalausbombung, die ich 1943 erlitt, was es bedeutet, darüber hinwegzukommen, Das beste wäre, wir würden alle Sorgen zusammennehmen und uns einen Plan machen, sie in möglichst wenigen Jahren wirklich zu lösen. Wir sollten uns daher alle Freiheit sichern, aber doch vor zwingenden Entscheidungen nicht zurückschrecken, wenn es für unser aller Wohl erforderlich ist, für das Wohl Hamburgs und für das Wohl des ganzen Deutschlands. [] Meinen Sie nicht auch? [] Mit dieser Frage und nicht mit einer Aufforderung möchte ich schließen. [] Erich Klabunde [] Wahlkreis II, Kandidat der SPD: Erich Klabunde, M. d. B. [] Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion der Hamburger Bürgerschaft. [] Stadtteile: Langerhorn, Fuhlsbüttel, Alsterdorf, Ohlsdorf, Groß-Borstel, Eppendorf und Hoheluft. [] Herausgeber: Erich Klabunde, Hamburg 36, Gr. Theaterstr. 44 [] Druck: AUERDRUCK GmbH., EP 36, Hamburg 1, Pressehaus
Published:14.08.1949