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Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Worum geht es in Berlin? [] Von Willy Brandt, Berlin [] SPD SPD SPD [] Nie wieder Diktatur! hieß das stille Gelöbnis der großen Mehrheit unseres Volkes, als es durch das Kriegsende vom nazistischen Wahn befreit wurde. In den seither vergangenen Jahren sind in den Westzonen manche berechtigten Hoffnungen unerfüllt geblieben. Die Möglichkeiten einer demokratischen Entwicklung und eines sozialen Aufbaues sind aber gegeben. In der Ostzone ist hingegen, diesmal durch fremde Macht, ein neues Terrorregime errichtet worden. [] Seit mehr als zwei Jahren, besonders aber während der letzten Monate und Wochen, geht es darum, ob die deutsche Hauptstadt mit ihren mehr als drei Millionen Menschen dem Würgegriff einer neuen Gewaltherrschaft erliegen soll. Das Volk von Berlin hat sich mit aller Klarheit gegen die Konzentrationslager, Folterkeller und Massendeportationen entschieden. Ohne diese bis zur Kompromißlosigkeit verhärtete Entscheidung wäre die Insel der Freiheit längst im Morast der östlichen Diktatur versunken. [] Die Sozialdemokraten wiesen den Weg, als sie sich Anfang 1946 der von den Russen geforderten Zwangsvereinigung mit der KP widersetzten und damit auch vor aller Welt die Lüge über die "Einheitspartei" der Ostzone zerfetzten. Die Arbeiter und die Frauen Berlins konnten bereits ein Lied davon singen, was sich ihnen 1945 als "sowjetischer Realismus" offenbart hatte. Die dann errichtete Viermächteverwaltung ermöglichte lehrreiche Vergleiche. Trotz ihres Uebergewichts an Propagandamitteln erlitt die SEP bei den Wahlen im Oktober 1946 eine vernichtende Niederlage. Sie erhielt weniger als ein Fünftel der abgegebenen Stimmen. Die Hälfte der Wähler bekannte sich zur Sozialdemokratie, weitere 30 Prozent zu den beiden anderen demokratischen Parteien. Was 1946, als negativer Protest aufgefaßt werden konnte, hat 1948 als echte Freiheitsbewegung weit über die deutschen Grenzen hinaus Anerkennung gefunden. [] Die Gleichschaltung [] war nach Kriegsende trotz der Besetzung aller maßgeblichen Positionen mit KP-Leuten nicht gelungen. Nach ihrer Wahlniederlage forderten die Kommunisten die Bevölkerung dadurch heraus, daß sie die demokratische Entscheidung mit List, Tücke und brutaler Gewalt korrigieren wollten. Zahlreiche derjenigen Kommunisten, die durch die von den Besatzungsmächten auferlegte Koalition aller vier Parteien und infolge demokratischer Toleranz im Amt blieben, gingen bald zur versteckten oder gar offenen Sabotage der Verwaltungsarbeit über. Die Gewerkschaften sollten zu volksdemokratischen Machenschaften nach Prager Muster mißbraucht werden. Groß war darum das Geschrei, als im Frühjahr dieses Jahres der dunkle Plan durchkreuzt und eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung ins Leben gerufen wurde. [] Die Vertreter der russischen Besatzungsmacht benutzten das Vetorecht in der Kommandantur nicht nur in personellen Fragen, sondern auch bei der Hintertreibung der von den Stadtverordneten angenommenen Gesetze. Im Ostsektor wurde die Selbstverwaltung durch Sonderbefehle und willkürliche Eingriffe der sowjetischen Offiziere ausgehöhlt. Sie setzten Wahlbeamte ab, erließen Rede- und Versammlungsverbote, veranlaßten politische Verhaftungen und kriminelle Entführungen. Auf dem Wege über die "Sowjets-AG's" und auf andere Weise wurde der Ostsektor in die Reparationswirtschaft der Ostzone einbezogen. Der in den letzten Wochen geführte Krieg gegen die demokratische Presse sollte die Gleichschaltung abrunden. [] Die Spaltung [] Berlins wurde durch diese Maßnahmen von jenen vorangetrieben, die nie genug von der "Einheit" reden können. Als der Kontrollrat im März auseinandergebrochen war, schickten sie sich an, Berlin für den von ihnen geplanten ostdeutschen Sowjetstaat zu erobern. Um die Monatswende März-April hieß es, Hunderttausende von Hungerflüchtlingen seien aus den Elendsgebieten des Westens in die offenbar wohlgenährte Ostzone geströmt. Darum müsse der Interzonenverkehr neu geregelt und "gefördert" werden. Diese Förderung äußerte sich in Verkehrsbeschränkungen und in der Einstellung der alliierten Personenzüge zwischen Berlin und den Westzonen. Die Westmächte hatten 1945 nicht auf eindeutig formulierten Abkommen über die Verbindungslinien bestanden, da sie offenbar von der weiteren Zusammenarbeit mit der Sowjetunion überzeugt waren. [] Nachdem die Russen Mitte Juni auch die alliierte Kommandantur verlassen hatten, kam es Ende des gleichen Monats zur Abschnürung aller Land- und Wasserwege nach den Westsektoren Berlins. Jetzt war zuerst von technischen Störungen die Rede. Dann hieß es, die Ostzone und Berlin müßten vor den verheerenden Folgen der westdeutschen Währungsreform geschützt werden. Schließlich erklärte man offen, die Westmächte hätten ihr "Gastrecht" in Berlin verwirkt. [] Die unmenschliche Waffe der Hungerblockade wurde kaltblütig gegen die über zwei Millionen Einwohner der Westsektoren eingesetzt. Alle Zufuhren aus der russischen Zone, einschließlich des elektrischen Stroms, wurden unterbunden. Den Kleinkindern wurde die Frischmilch, den Kranken die Medikamente vorenthalten. [] Das Nein der Berliner [] setzte in jenen Tagen mehr als Zivilcourage voraus, nämlich den unbeugsamen Entschluß, sich auf keinen Fall nochmals unter das Joch einer Diktatur zu beugen. Daran änderte sich nichts, als die Hungerpeitsche in die Ecke gestellt und stattdessen mit der "Stalintorte" gelockt wurde. [] Demokratie ohne Verhandlung gibt es nicht. Aber es gibt Dinge, über die der Demokrat nicht mit sich handeln läßt. Die Selbstbehauptung der Berliner steht im Zeichen jener unveräußerlichen Werte - vor allem der Rechtssicherheit und der Menschenwürde -, nicht eines neuen Nationalismus. Diese waffenlose Erhebung behauptet schon jetzt ihren Platz neben den Freiheitskämpfen anderer europäischer Völker. Gestern noch verhaßte Zitadelle des Nazitums, ist Berlin heute zu einem Vorposten der europäischen Freiheit geworden. [] Berlin hat sich einen neuen Platz im Bewußtsein aller deutschen Menschen erobert. Es ist vor allem die Hoffnung der Ostzone. Je besser es sich behauptet, desto näher rückt der Zeitpunkt, an dem sich die Deutschen über widernatürliche Zonengrenzen hinweg wieder vereinigen können. [] Solange aber die gegenwärtige Zerklüftung andauert, muß das freiheitliche Berlin so eng wie möglich mit der Neugestaltung im Bereich der Westzonen verbunden werden und bleiben. Die SPD ist darum für die vollberechtigte Teilnahme der Berliner am Parlamentarischen Rat und an den von ihm zu schaffenden Einrichtungen eingetreten. [] Für die ganze Welt [] ist der Berliner Widerstand zu einem Fanal geworden. Das Verhältnis der Westalliierten zur Bevölkerung hat sich in Berlin rasch in positiver Richtung geändert. Die Haltung zum slawischen Osten ist aber nicht durch Stimmungen des Hasses und der Rache gekennzeichnet. Der durch bittere Erfahrungen gereifte Berliner weiß zwischen den Völkern und ihren Regimen zu unterscheiden. [] Die russischen Machthaber haben den Konflikt in Berlin gesucht. Wenn Berlin fiele, würde nicht nur ein Eiserner Vorhang, sondern noch weit mehr fallen. Die Gefahr eines neuen bewaffneten Konfliktes würde dadurch immer größer werden. Aber ist denn Berlin einen Krieg wert? - fragen jene, die nicht merken, wie sie schon mit der Fragestellung auf die plumpe Furchtpropaganda eines erbarmungslosen Gegners hereinfallen. Die Sozialdemokratie ist über den Verdacht erhaben, etwas anderes als eine Politik des Friedens zu betreiben. Aber sie weiß, daß die Westmächte durch ihre Münchener Kapitulation vor zehn Jahren den Krieg nicht vermieden, sondern unvermeidlich gemacht haben. Sie will einen Frieden in Freiheit. [] Die Blockade [] war als tödlicher Stoß gedacht. Er wurde durch den Widerstandswillen der Bevölkerung und durch die bewundernswerten technischen und finanziellen Erfolge der Luftbrücke aufgefangen. Die Tagesleistungen konnten von wenigen hundert Tonnen Anfang Juli auf 5000 Tonnen im Oktober gesteigert werden. Das erfordert für uns Opfer. Dennoch sind diese Opfer gering, verglichen mit den Entbehrungen, die die Berliner auf sich nehmen. [] Die Berliner Bevölkerung ist entschlossen, sich auch nicht von "General Winter" unterkriegen zu lassen. Aber niemand verkenne die sich auftürmenden Nöte und Schwierigkeiten. Die Lebensmittelrationen werden während der Wintermonate etwas erhöht, aber es handelt sich um eine ausgesprochene Konservenkost. Die Verkehrsmittel mußten stark gedrosselt werden. Die Haushalte müssen mit einem Minimum an Gas und mit je zwei Stunden Licht am Tag und in der Nacht auskommen. Die Arbeitslosigkeit ist mehr als ein Gespenst und bisher ist noch keine Gewähr dafür gegeben, daß - über Lebensmittel, Rohstoffe und Kohlen für Versorgungsbetriebe sowie Schulen und Krankenhäuser hinaus - Hausbrand in nennenswerten Mengen herbeigeschafft werden kann. Durch die Abholzung der den Berlinern so teuren Wälder kann kein Wirklicher Ausgleich geschaffen werden. [] Die Quislingrolle [] der kommunistischen SEP wurde bestätigt, als sie die Blockade begrüßte und unterstützte. Darüber hinaus wollte man die im russischen Sektor tagende Stadtverordnetenversammlung durch Ueberfälle und Krawalle weich machen. Anfang September ließen sich die Mehrheitsparteien das nicht länger gefallen, sondern verlegten die Sitzungen des Stadtparlaments provisorisch in den britischen Sektor. Mitte Oktober war der Magistrat genötigt, diesem Beispiel zu folgen. Man konnte sich das Gesetz des Handelns nicht länger von der terroristischen Gegenseite vorschreiben lassen. Auf einer Reihe gewaltiger Kundgebungen haben die Berliner gegen die neue Gewaltherrschaft demonstriert. Am 9. September hatten sich über eine Viertelmillion vor den Ruinen des Reichstags versammelt. Durch den Unverstand der kommunistischen Ostsektorenpolizei kam es im Anschluß an diese Kundgebung zu Schießereien und zu Zusammenstößen, die zur Verhängung von Terrorurteilen ausgenutzt wurden. Diese Urteile wurden von der SEP-Presse begrüßt. Im Verlaufe der Zusammenstöße wurde die Sowjetfahne vom Brandenburger Tor heruntergeholt. Aus diesem an sich bedauerlichen Vorfall wurde gefolgert, es habe sich um "faschistische Provokationen" gehandelt. In Wirklichkeit wären die Kommunisten dafür zur Verantwortung zu ziehen, daß sie Symbole der sozialistischen Freiheitsbewegung durch ihre schandhafte Politik zum neuen Geßlerhut herabwürdigen. [] Als Handlanger einer Besatzungsmacht haben die Kommunisten bis Ende Oktober über 1200 städtische Arbeiter und Angestellte des Ostsektors entlassen, darunter zahlreiche sozialdemokratische Betriebsräte. Sie sind sogar dazuübergegangen, Ausweisungen vorzunehmen und den Betroffenen somit nicht nur den Arbeitsplatz sondern auch die Wohnung zu nehmen. [] Neuwahlen [] sind nach Ablauf der für die bisherige Stadtverordnetenversammlung festgesetzten Zweijahresperiode fällig. Sie sind auch eine politische Notwendigkeit, um der Welt zu beweisen, wo das Volk von Berlin steht. Darum soll am 5. Dezember gewählt werden. Es wird sich dabei zugleich um eine Volksabstimmung für die Einheit Berlins und für seine demokratische Selbstverwaltung handeln. [] Die Führer der kommunistischen SEP, die sich in einem Zustand innerer Zersetzung befindet, wissen genau, daß sie bei freien Wahlen gegenüber 1946 noch erheblich absacken würden. Darum führen sie lächerliche Reden über die "Unterdrückung", der sie angeblich in Westberlin ausgesetzt seien. Die Sozialdemokraten wären froh, wenn sie im Ostsektor (von der Ostzone ganz zu schweigen) nur einen Bruchteil der Bewegungsfreiheit hätten, die den Kommunisten in den Westsektoren eingeräumt wird. [] Die Einheit und Freiheit Berlins kann nicht dadurch verteidigt werden, daß man dem Druck weicht. Was für ganz Deutschland richtig ist, gilt auch für seine Hauptstadt: Wo relative Freiheit herrscht, müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, um Morgen wieder zusammenzufügen, was Gestern willkürlich auseinandergerissen wurde. [] Auf Berliner Boden ist die Verwaltung weitgehend aufgespalten worden. Die Bildung eines Ostmagistrats wurde seit langem vorbereitet. Die Sperrmaßnahmen am Brandenburger Tor und an den anderen Obergängen zwischen den Sektoren haben militärische Formen angenommen. Durch Unruhen, die allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt sein dürften, will man die Westsektoren überrennen. Andererseits stehen die Westmächte seit Monaten vor der Frage, ob sie das Währungschaos noch länger mitverantworten können. Bei andauernder Blockade wird die Westmark als vollgültiges Zahlungsmittel einzuführen sein. Sie wird von den Berlinern viermal so hoch bewertet wie die Ostmark - sehr zum Leidwesen derjenigen, die ihren Lohn oder ihre Sozialunterstützung in Ostgeld ausbezahlt bekommen. [] Die SPD [] hat wiederholt bewiesen, daß sie zu loyaler Zusammenarbeit mit den beiden anderen demokratischen Parteien - der CDU und LDP - bereit ist. Sie betreibt aber keine Blockpolitik und vertritt über die gemeinsamen Interessen hinaus ihre eigenen Forderungen. Ohne die aktive und führende Rolle der SPD wäre es um den Existenzkampf Berlins schlecht bestellt gewesen. Er hätte noch erfolgreicher geführt werden können, wenn den Forderungen der Sozialdemokratie in der Vergangenheit auf deutscher und alliierter Seite in stärkerem Maße Rechnung getragen worden wäre. Nach der Devise "Haltet den Dieb" haben die Sepisten die gemeinsten Anschuldigungen gegen die sozialdemokratischen Sprecher der Partei und der Stadtverwaltung erhoben. Neuerdings hat die russisch kontrollierte Presse ein besonderes Komitee gebildet, das den Kampf gegen die angeblichen "Kriegshetzer" führen soll, als die man zehn namhafte Berliner, mit Ernst Reuter, Franz Neumann und Otto Suhr an der Spitze, ausersehen hat. Die Russen haben es sogar durch ein Militärgericht erklären lassen, die Vertreter der demokratischen Parteien hätten sich "faschistischer Kriegshetze" schuldig gemacht. Diese Propaganda ist aber zu primitiv, um noch Verwirrung anstiften zu können. Die Sozialdemokraten werden sich jedenfalls nicht durch noch so grobe Lügen und Drohungen von ihrem Weg abbringen lassen. [] Ein Ausweg [] aus der Berliner Krise ist heute noch nicht sichtbar. Sie kann nur auf internationaler Ebene gelöst werden. [] Die Verhandlungen in Moskau und Berlin verliefen ergebnislos, weil die Russen erstens keine gemeinsame Kontrolle der Berliner Währung akzeptieren wollten, während sie zweitens auch noch die alliierten Flugverbindungen einseitig kontrollieren wollten. [] Nachdem die Westmächte in Paris den Sicherheitsrat angerufen hatten, machten die neutralen Staaten große Anstrengungen, um eine Verständigung zu erzielen. Alle gegenseitigen Blockademaßnahmen sollten unverzüglich aufgehoben werden. Im Anschluß daran sollte dann die Einführung der für Berlin zu kontrollierenden Ostmark erfolgen. Schließlich waren neue Beratungen der Außenminister über das gesamtdeutsche Problem vorgesehen. Diese Vorschläge wurden durch das russische Veto unmöglich gemacht, und die größere Wahrscheinlichkeit scheint dafür zu sprechen, daß die Blockade den Winter über andauern und die Aufspaltung Berlins weiter fortschreiten wird. [] Kann es auf die Dauer so weitergehen? Gewiß nicht. Das werden sich früher oder später auch diejenigen sagen müssen, die Berlin schon im Sommer schlucken wollten, sich dann bis zum Oktober vertrösteten, um nun Ostern 1949 als "endgültigen" Termin ins Auge zu fassen. Es wird, es darf ihnen nicht gelingen. Der Stundenplan des Kominform ist bereits einigermaßen in Unordnung gebracht worden. Irgendwann wird man zur Kenntnis nehmen müssen, daß sich Berlin nicht schlucken und die Aufspaltung Deutschlands nicht aufrechterhalten läßt. [] Worum es in Berlin geht? [] Es geht um Deutschland und Europa! [] Es geht um die Freiheit und um den Frieden! [] Buchdruckwerkstätten Hannover GmbH, CDH 524, 2360. 10.48 Kl. C. [] Gedruckt für den Parteivorstand
Published:05.12.1948