Telegraf Extrablatt . Kriegsrecht über Ostberlin

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Extrablatt kostenlos Extrablatt [] Telegraf [] UNABHÄNGIGE ZEITUNG FÜR DAS FREIE BERLIN [] Nr. 138 A [] Berlin, Mittwoch, 17. Juni 1953 [] 8. Jahrgang [] Kriegsrecht über Ostberlin [] Sowjets schießen auf Arbeiter [] Generalstreik gegen den...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Telegraf, Graphische Gesellschaft Grunewald GmbH, Berlin
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 17.06.1953
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/42CB593B-A997-453C-AC3B-DA53599A68E4
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Extrablatt kostenlos Extrablatt [] Telegraf [] UNABHÄNGIGE ZEITUNG FÜR DAS FREIE BERLIN [] Nr. 138 A [] Berlin, Mittwoch, 17. Juni 1953 [] 8. Jahrgang [] Kriegsrecht über Ostberlin [] Sowjets schießen auf Arbeiter [] Generalstreik gegen den Terror [] Die sowjetischen Okkupationstruppen haben zu den Waffen gegriffen, um die freiheitliche Bewegung der gesamten Ostberliner Bevölkerung niederzuschlagen. Der sowjetische Stadtkommandant hat heute mittag den Ausnahmezustand verhängt. Er befahl: 1. Ab 13 Uhr wird im sowjetischen Sektor von Ostberlin der Ausnahmezustand verhängt. 2. Alle Demonstrationen und Versammlungen, Kundgebungen und sonstigen Menschenansammlungen über drei Personen sind auf Straßen und Plätzen wie auch in öffentlichen Gebäuden verboten. 3. Jeglicher Verkehr von Fußgängern und der Verkehr von Kraftfahrzeugen wird von 21 Uhr abends bis fünf Uhr morgens verboten. 4. Diejenigen, die gegen dieses Verbot verstoßen, werden nach dem Kriegsrecht bestraft. [] Im Ostsektor ist heute vormittag der offene Aufruhr gegen das kommunistische System ausgebrochen. Alle Arbeiter in den Ostberliner Betrieben legten die Arbeit nieder und demonstrierten für Freiheit, gesamtdeutsche Wahlen und den Rücktritt der SED-Clique. [] Panzer und Geschütze [] Am zweiten Tage der dramatischen Erhebung Ostberlins sind die ersten Schüsse gefallen. [] Sowjetische Panzer vom Typ "T 34" und militärische Einheiten der "Volkspolizei" eröffneten aus Maschinengewehren, Maschinenpistolen, Karabinern und Pistolen das Feuer auf eine unübersehbare Menschenmenge, die das Ostberliner Regierungsviertel zu stürmen versuchte. Die ersten Schüsse fielen aus dem Haus der Ministerien in der Leipziger Straße. Wenig später trieben "Volkspolizisten" und sowjetische Panzer die Demonstranten in Richtung zum Potsdamer Platz zurück. Zu Tausenden flohen die Ostberliner über die nahegelegene Sektorengrenze nach Westberlin. Weitere Feuerüberfälle ereigneten sich Ecke Friedrichstraße und Zimmerstraße, wo ebenfalls die Sektorengrenze verläuft. Die Zahl der Toten und Verwundeten ist noch nicht bekannt. Überall erschallten Hilferufe nach Sanitätern. [] Die Demonstranten griffen zum Teil mit Ziegelsteinen und schweren Balken die sowjetischen Panzer an. Dabei blieb in der Leipziger Straße ein "T34" manövrierunfähig liegen, als ihm ein Eisenträger zwischen die Ketten geworfen wurde. [] Die Lage im Ostberliner Regierungsviertel ist unübersichtlich. Zwölf Panzer der Sowjets und mehrere tausend "Volkspolizisten" gehen immer wieder gegen die insgesamt fünfzigtausend Demonstranten vor, die von allen Straßenzugängen aus den Gebäudekomplex des früheren Reichsluftfahrtministeriums umlagern und in mehreren Angriffen zu stürmen versuchen. Bisher gelang es jedoch nur, in die Dienststelle der Warenkontrolle einzudringen. Aus ihr wurden Grotewohl-Bilder zu den Fenstern hinausgeworfen. Die unteren Fensterreihen der Ministerien sind zerschmettert. Drohend haben vor dem Haus der Ministerien zwei Panzer ihre 7,62-cm-Langrohrgeschütze auf die Demonstranten gerichtet. [] Bereits am frühen Morgen hatten etwa fünfzehntausend Ostberliner versucht, das Regierungsviertel zu stürmen. Mit dem tausendfältigen Ruf: "Nieder mit Grotewohl - hängt Ulbricht auf! Weg mit der SED-Knechtschaft! Wir wollen frei sein!" rannten sie gegen die Sperrkommandos der "Volkspolizei". [] Auch in der gesamten Sowjetzone kam es zu gewaltigen Protestkundgebungen der Bevölkerung, geht aus Berichten an das sowjetzonale Innenministerium hervor. Über 2,5 Millionen Demonstranten wurden gezählt. 15000 Volkspolizisten verweigern den Dienst. In Dresden, Leipzig, Halle, Leuna, Jena, Riesa, Kirchmöser, Chemnitz, Plauen, Zwickau, Ölsnitz, Erfurt, Magdeburg, Kottbus, Fürstenberg, Rostock und Warnemünde zog die Bevölkerung durch die Straßen. [] Zu Zehntausenden strömten heute nachmittag die Westberliner zum Oranienplatz, um sich auf einer Kundgebung mit ihren Mitbürgern des Ostsektors solidarisch zu erklären. [] AUSNAHMEZUSTAND IN OSTBERLIN. Pankows Regierungsfunktionäre in der Leipziger Straße, dem Sitz der Sowjetzonenregierung, müssen sich von sowjetischen Panzern beschützen lassen. [] Foto: AP [] Arno Scholz: [] Standrecht ist keine Lösung [] Die Pieck, Grotewohl und Ulbricht sind mit Hilfe der sowjetischen Panzer und Bajonette ohne Befragung des Volkes in ihr Amt eingesetzt worden und haben sich nach achtjähriger "erfolgreicher" Regierungstätigkeit wieder unter den Schutz sowjetischer Panzer begeben müssen. Die von ihren Regierungstaten so begeisterte Menge hätte ihnen sonst nicht nur die Scheiben eingeschlagen und durch Sprechchöre ihre "Begeisterung" zum Ausdruck gebracht. [] Ein größeres Fiasko, als daß über die sowjetisch besetzten Gebiete und Ostberlin Kriegsrecht verhängt werden mußte, kann es nicht mehr geben. [] Im Laufe des ganzen Mittwoch sind bis zur Verhängung des Ausnahmezustandes und Kriegsrechtes die Demonstranten an den Lastwagen mit Rotarmisten vorbeimarschiert und haben sich auch nicht um die sowjetischen Panzer gekümmert, die zeitweise bis zu zwanzig Stück vor dem Regierungsgebäude der Grotewohls und Ulbrichts standen. [] Nur vereinzelt wurden sowjetische Panzer mit Steinen beworfen. Im allgemeinen richteten die Demonstranten trotz ihrer ebenso großen Abneigung gegen die Sowjets ihre Aktionen nur gegen die sowjetzonale Regierung. [] Diese wagte nicht mehr, ihrer Volkspolizei den allgemeinen Schießbefehl zu geben. Nach allen übereinstimmenden Berichten haben auch nur wenige Volkspolizisten geschossen. [] Die sowjetischen Soldaten am Brandenburger Tor haben jedenfalls nicht einmal eingegriffen, als die Fahne von dort oben heruntergeholt wurde. Die sowjetischen Panzer, die von einem General angeführt wurden, taten fast so, als ginge sie diese Demonstration nichts an. [] Auch die Sowjets waren in einer wenig beneidenswerten Situation. Sie wußten genau, daß sie diese Schlacht verlieren müssen. Hätten sie den allgemeinen Schießbefehl gegeben, so wäre die freie Welt - empört über diese Brutalität gegen die um ihre Rechte kämpfenden Arbeiter - auf lange Zeit für Gespräche mit den Sowjets nicht zu haben gewesen. [] Die Sowjets wissen heute: Selbst Panzer und Bajonette reichen nicht aus, um weiterhin den Freiheitswillen der Bevölkerung von Ostberlin und der sowjetisch besetzten Zone zu unterdrücken. [] Die Arbeiter, die auf der Straße für ihr Recht eintraten, haben einen Beweis von Mut und Einsatzbereitschaft gezeigt, die die freie Welt tief beeindrucken wird. Damit allein darf es aber nicht genug sein. [] Die freie Welt weiß heute, daß auch die Menschen in diesen Gebieten die gleichen Rechte haben wollen, wie überall in der freien Welt. [] Die Juni-Tage 1953 werden ein Fanal bleiben, bis die Männer - die untergefaßt, damit sie nicht auseinandergerissen werden können, in breiter Front zu den Regierungsgebäuden hinzogen - erreicht haben, was sie in ihren Sprechchören immer wieder und immer wieder herausbrüllten: "Hinweg mit der Regierung Grotewohl". [] Pankows stellvertretender Ministerpräsident Nuschke, der sich mit seinem Kraftwagen auf dem Weg nach Karlshorst befand, wurde von empörten Demonstranten in die Westsektoren geprügelt. Er stellte sich unter den Schutz der Westberliner Polizei und wurde ins Polizeipräsidium in der Friesenstraße gebracht. [] DIE GRENZEN SOLLEN FALLEN. Berlin will nicht mehr getrennt sein. Die Bevölkerung reißt die Schilder nieder. [] PROPAGANDA IN FLAMMEN. Bildküsten, in denen die kommunistischen Machthaber ihre "Erfolge" priesen, wurden von der empörten Menge angezündet. [] ENDE DER VOLKSDEMOKRATIE. Das wünschen sich Berlins Arbeiter. Sie haben der Welt gezeigt, was sie wollen. [] Augenzeugenbericht aus dem Ostsektor: [] Die Straße gehört dem Volk [] "Endlich, endlich ist die Stunde gekommen! Endlich können wir denen zeigen, wie wir wirklich denken!" Ich kenne den Mann nicht, der das zu mir sagt. Aber wir marschieren zusammen durch die Friedrichstraße, und das genügt. Und mit uns ziehen Tausende von Berlinern. [] An der Friedrichstraße Ecke Mohrenstraße habe ich den Zug getroffen. Schon von weitem war er zu hören. Rufe, Sprechchöre, und dann kamen sie heran. Die ganze Straßenbreite nahmen sie in Anspruch. Auf den Bürgersteigen und auf dem Fahrdamm zogen sie entlang: die Berliner, freie Berliner! [] Es gab keine Transparente, es gab keine Marschmusik, es gab auch keinen Gleichschritt - wenigstens äußerlich nicht. Und auch Uniformen waren nicht zu sehen. Was da heranzog, das war das Volk von Berlin. [] Da kamen Arbeiter, noch im Monteuranzug, die Schutzbrille auf die Stirn geschoben. Da kamen Frauen in der blauen Schutzkleidung ihrer Fabrik mit blauen Kopftüchern, so wie sie an der Werkbank zum Schutz der Haare getragen werden. Und da waren auch die Maurer und Zimmerleute - die Bauarbeiter von der Stalinallee, von vielen Baustellen des Ostsektors. [] "Wir marschieren zum Lustgarten, Kollegen, kommt mit!" Ein improvisierter Sprechchor ruft es den noch Wartenden zu. [] Jetzt haben wir die Linden erreicht. Es ist 10 Uhr. An der Mittelpromenade wird ein alter DKW umringt, im Nu ist die Menge so groß, daß man nur mit Mühe erkennen kann: es sitzen Vopos drin. Harte Worte fallen, befreiende Worte ertönen. [] Langsam, ganz langsam fährt der Wagen an. Man hat ihm die Luft aus den Reifen gelassen. "Hoffentlich geht den allen jetzt die Luft aus", schreit hinter mir einer. Gelächter, und weiter geht's. [] Auf Regen pfeifen wir [] Jetzt öffnet der Himmel seine Schleusen. Es regnet, nein, es gießt, im Nu sind wir naß. Aber was macht das? Heute gehört die Straße uns, und wir wollen die Stunde nutzen. Aktenmappen werden über die Köpfe gehalten, Frauen, die einen Regenschirm mithaben, spannen ihn auf und nehmen Kollegen mit unter das Schutzdach. Ganze Pilzschwärme ziehen die Straße entlang, und wieder ein Sprechchor: "Wir sind so sehr erbittert, daß uns der Regen nicht erschüttert!" [] Es ist eine Bombenstimmung. "Mensch, warum muß det so regnen." Der eine hat es noch nicht gesagt, da rufen ihm andere zu: "Ach, was Regen, wir pfeifen drauf." Neben mir geht eine Gruppe junger Mädchen. Sie mögen 17, 18 Jahre [...] sein. Sofort sind wir im Gespräch. "Vorhin haben sie hier einen totgefahren", sagt eine Blonde, der die nassen Haarsträhnen ins Gesicht hängen. Ihr Kleid schützt die Joppe eines Kollegen, der hemdsärmelig neben ihr geht. "Russen waren es, Panzerwagen. Nein, nicht mit Raupenketten. Du kennst doch die Schützenpanzer, oben offen, mit einem Geschütz drauf." Es ist selbstverständlich, dieses "Du". Was bedeutet es schon, daß wir uns nicht kennen? Wir sind alle Berliner, und wir haben alle ein Ziel, einen Wunsch: Frei sein. [] Eine große Gemeinschaft [] "Auch Soldaten waren da mit Maschinenpistolen. Nein, geschossen haben sie nicht. Denen war auch nicht wohl, ich glaube, die wären lieber mit uns gezogen. Aber da waren ja die Offiziere. Hast du gesehen, die Soldaten haben die Zähne ganz schön zusammengebissen." Das Mädchen wendet sich an den Begleiter, und der nickt zustimmend. Hier wird nicht gegen die Russen demonstriert, hier geht es gegen die Diktatur. Das spürt man, wenn es auch keiner so formuliert. [] "Ja, und dann sind sie losgefahren. Ich glaube, sie haben noch Zeichen gegeben. Aber das hörte ja keiner, das konnte ja keiner hören, so haben wir geschrien. Und da war einer unter dem Wagen, sofort tot." [] Eine wahre Volkserhebung [] Jetzt sind wir am Lustgarten angekommen. Es regnet und regnet. Nun sind wir da, wo wir hinmarschieren wollten, und nun weiß keiner so recht, wie es weitergeht. Vor den leeren Tribünen, auf denen sonst die sowjetischen Machthaber und ihre SED-Handlanger thronen, und an denen sonst die von einer ausgeklügelten Diktatur gelenkten Massen vorbeigeführt werden, vor diesen Tribünen stehen wir nun. [] Jetzt erleben wir alle, was sonst nur am grünen Tisch gesagt und im Ausland leider oft bezweifelt wird - wie schwer es ist, in einer Diktatur etwas gegen den Willen der Machthaber durchzusetzen. Wir haben keinen Plan, es besteht keine Verbindung zwischen den einzelnen Gruppen und Zügen, der gemeinsame Wille kann sich nicht in die praktische Tat umsetzen. [] In flotter Fahrt fährt eine Sowjetkolonne durch die Menschengruppen - mag jeder sehen, daß er rechtzeitig beiseite springt. Ohrenbetäubendes johlen und Pfeifen, das sich Unter den Linden entlang fortpflanzt, dort, wo der gepanzerte Zug seinen Weg nimmt. [] Wir brechen wieder auf und ziehen zurück zur Friedrichstraße. Es ist wohl bald 11 Uhr. Wir können ja nicht viel tun. Wir können unsere Forderungen ja nicht durchsetzen, nicht mit der Tat erzwingen, aber wir können rufen. Und trotzig schreien wir: "Wir wollen freie Wahlen." [] Das hier ist eine wahre Volkserhebung, das hier ist die echte Stimme des Volkes, endlich können auch die Ostberliner einmal rausschreien, was sie wirklich denken und was sie wirklich wollen. Und sie tun es. Und in den Herzen aller brennt die Hoffnung, daß dieser Ruf nach Freiheit nicht ungehört verhallt. Wir müssen gehört werden! Alle sollen uns hören. Alle. [] Sz [] Vopo knüppelt Arbeiter rücksichtslos nieder [] Mittwoch früh war es in Ostberlin erneut zu Massendemonstrationen gekommen. Die Demonstranten hatten sich am Strausberger Platz zusammengeschlossen und waren im strömenden Regen zum ehemaligen Luftfahrtministerium, dem jetzigen Sitz der Sowjetzonenministerien, marschiert. [] Die Sowjetzonenregierung hatte schon in den frühen Morgenstunden umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Um die Regierungsgebäude waren Doppelposten der Volkspolizei postiert, und auch an den Straßenkreuzungen und den Plätzen, wo es am Dienstag zu Zusammenrottungen und Zusammenstößen gekommen war, hatten zahlreiche Gruppen der Volkspolizei Aufstellung genommen. Besondere Einsatzkommandos waren auf dem Hof des Ostberliner Polizeipräsidiums konzentriert. [] Zu den ersten größeren Zwischenfällen kam es in der Nähe der Sowietzonenregierungsgebäude in der Wilhelmstraße. Die Volkspolizei ging mit Knüppeln gegen die vieltausendköpfige Menge vor und fuhr mit Mannschaftswagen in die Demonstrationszüge hinein. Dabei gab es zahlreiche Verletzte, von denen sechzig nach Westberlin gebracht und dort sofort in Krankenhäuser eingeliefert wurde. [] An der Ecke Zimmerstraße/Friedrichstraße verbrannten mehrere tausend Arbeiter rote Fahnen, zertrümmerten und demontierten Grenzschilder und steckten eine große Holzbaracke der Vopo-Grenzkontrolle in Brand. Ein Demonstrant, den die Volkspolizei festgenommen hatte, wurde von seinen Kameraden sofort wieder befreit. Ein SED-Funktionär, der die Demonstranten in Diskussionen zu verwickeln suchte, wurde zusammengeschlagen und über die Sektorengrenze gezerrt. Westberliner Polizei nahm ihn in Schutzhaft. [] Ulbricht-Bild in Flammen [] Auch in allen anderen Stadtteilen Ostberlins ereignen sich ununterbrochen schwere Zusammenstöße zwischen Antikommunisten und bewaffneten Elementen. Transparente, Bilder der kommunistischen Machthaber und rote Fahnen wurden auf allen Straßen zerrissen und verbrannt. [] Stadtsowjet abgesetzt [] Der Ostmagistrat und das Polizeipräsidium von Ostberlin sind abgesetzt worden. Für Ostberlin wurde eine Militärregierung eingesetzt. Der Ostberliner Polizeipräsident ist verhaftet worden. [] Die vollziehende Gewalt im gesamten sowjetischen Besatzungsgebiet ist nach der Verkündung des verschärften Ausnahmezustandes auf den sowjetischen Hohen Kommissar Semjonow und den Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, General Gretschko, übergegangen. [] Im "Walter-Ulbricht-Stadion" ging ein über lebensgroßes Bildnis des SED-Generalsekretärs in Flammen auf. [] In der Nähe des "Zeughauses", Unter den Linden, haben Arbeiter inmitten einer Blutlache ein schwarzes Kreuz mit der Aufschrift errichtet: "Hier wurden Arbeiter von Sowjets erschossen." [] In einem langen Zug strömten die Demonstranten gegen zehn Uhr die Leipziger Straße entlang zum Potsdamer Platz und steckten auf ihrem Marsch dorthin eine zweite Baracke der Vopo-Grenzkontrolle in der Leipziger Straße, 100 Meter vom Potsdamer Platz entfernt, in Brand. Mitten auf dem Potsdamer Platz, der noch im Sowjetsektor liegt, wurde eine hölzerne HO-Verkaufsbude ebenfalls angezündet. Auf dem Potsdamer Platz strömten in kurzer Zeit Zehntausende von Demonstranten zusammen. Volkspolizei ist zur Stunde auf dem Potsdamer Platz nicht zu sehen. [] Die Streikbewegung der Ostberliner Arbeiter hat in den Vormittagsstunden des Mittwoch auch auf die Randbezirke Groß-Berlins, also auf die eigentliche Sowjetzone, übergegriffen. Zahlreiche Arbeiter haben sich den protestierenden Gruppen aus den großen volkseigenen Betrieben Ostberlins angeschlossen. Ähnliche Protestbewegungen werden auch aus Bezirken der Sowjetzone gemeldet. [] Gegen 11 Uhr holten am Mittwoch zwei junge Ostberliner Arbeiter die rote Fahne auf dem Brandenburger Tor herunter. Sie waren mit mehreren Tausend Demonstranten vom Potsdamer Platz vor das Brandenburger Tor marschiert. [] Die beiden jungen Leute kletterten vor den Augen von etwa 100 sowjetischen Soldaten, die in Mannschaftswagen am Pariser Platz warteten, auf das Brandenburger Tor hinauf und zogen die rote Fahne herunter. [] Der Verkehr ruht [] Der gesamte S-Bahn-Verkehr in Berlin ist lahmgelegt worden. [] Seit 12 Uhr ist bei der Berliner Verkehrsgesellschaft in Ostberlin der Streik ausgerufen worden. Damit wurde nach dem S-Bahn-Verkehr auch der U-Bahn-, Straßenbahn- und Omnibusverkehr im gesamten Ostsektor lahmgelegt. [] Ein freies Deutschland [] Die Berliner Parteien SPD, CDU und FDP sowie die Gewerkschaften haben in einem Aufruf ihre Solidarität und Sympathie mit den streikenden und demonstrierenden Arbeitern in Ostberlin und der Sowjetzone zum Ausdruck gebracht. Wörtlich heißt es: "Das deutsche Volk verlangt 1. freie Wahlen für ganz Deutschland, 2. Bildung einer gesamtdeutschen Regierung, 3. Abschluß eines frei mit Deutschland verhandelten Friedensvertrages, 4. Regelung aller territorialen Fragen in diesem frei mit Deutschland verhandelten Friedensvertrag, 5. Handlungsfreiheit für eine gesamtdeutsche Regierung, Verbindungen einzugehen mit anderen Ländern im Rahmen der Grundsätze und Ziele der UN. Das ist euer Wille und das ist unser Wille", wird betont. "Das ist der Sinn eurer Kundgebungen, denen wir voll zustimmen! Vermeidet jede Provokation, die der Sache nur schaden kann!" [] Berlin im Mittelpunkt [] Reuter, Kaiser und Ollenhauer kommen nach Berlin [] Bundeskanzler Adenauer erklärte am Mittwoch vor dem Bundestag, die Bundesregierung empfinde mit den Männern und Frauen, die heute in Ostberlin Freiheit von Unterdrückung und Not verlangten. [] In einer kurzen Regierungserklärung, die mit großem Beifall vom Haus aufgenommen wurde, sagte der Bundeskanzler: "Wie auch die Anfänge der Demonstrationen in Ostberlin beurteilt werden mögen, sie sind zu einer großen Bekundung des Freiheitswillens der Bevölkerung in der Sowjetzone geworden. Wir können nur hoffen, daß die Bevölkerung sich nicht zu unüberlegten Provokationen hinreißen läßt, die ihr Leben gefährden würden." [] Der Bundesbeauftragte in Berlin, Dr. Vockel, hat in einem fernmündlichen Bericht der Bundesregierung mitgeteilt, daß die Demonstranten die Unterstützung der Westberliner für ihren Kampf gegen die Regierung Grotewohl/ Ulbricht forderten. [] Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Dr. Reuter, der gegenwärtig zum Internationalen Städtetag in Wien weilt, beschloß, angesichts der Situation in Ostberlin, seinen Aufenthalt in der Donaustadt vorzeitig abzubrechen. Er hofft, bereits Donnerstagmittag in Berlin einzutreffen. [] Der Präsident des Westberliner Abgeordnetenhauses, Dr. Otto Suhr, hat für heute 21 Uhr eine Außerordentliche Plenarsitzung anberaumt. [] Der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer ist am Mittwochnachmittag nach Berlin geflogen, um sich über die Lage an Ort und Stelle zu unterrichten. Ollenhauer wird vom Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner, und von dem Berliner Abgeordneten Willy Brandt begleitet. [] Der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, ist ebenfalls von Bonn nach Berlin abgereist. [] Weitere ausführliche Sonderberichte morgen früh im "Telegraf" [] Druck: Graphische Gesellschaft Grunewald, G.m.b.H., Berlin-Grunewald. Bismarckplatz
Published:17.06.1953