Offener Brief an Ministerpräsident Dr. Bartram

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Sonderdruck der Schleswig-Holsteinischen Volks-Zeitung [] Offener Brief an Ministerpräsident Dr. Bartram [] [] Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! [] Von den im ganzen Bundesgebiet spürbaren Auswirkungen der Bundeswirtschafts-, Bundesfinan...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Fraktion des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Haase-Druck GmbH, Kiel
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 01.1951 - 05.1951
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/207AC43A-3B5C-44D9-9689-302652D532C1
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Sonderdruck der Schleswig-Holsteinischen Volks-Zeitung [] Offener Brief an Ministerpräsident Dr. Bartram [] [] Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! [] Von den im ganzen Bundesgebiet spürbaren Auswirkungen der Bundeswirtschafts-, Bundesfinanz-, und Bundessozialpolitik wird unser Land in besonderem Maße betroffen. Noch zu keiner Zeit seit Bestehen des Bundes ist die Bevölkerung des Grenzlandes Schleswig-Holstein mit ihrer Not so alleingelassen worden, wie in diesen Wochen und Monaten des Winters 1950/51. [] Die Sozialdemokratische Fraktion, die als Fraktion der früheren Regierungspartei Möglichkeiten und Notwendigkeiten schleswig-holsteinischer Politik feststellen und erproben konnte, hat das Recht und die Pflicht, in einer Zeit tiefster wirtschaftlicher und sozialer Not die Regierung auf die besorgniserregenden Zustände in unserem Lande hinzuweisen. Sie hat darüber hinaus die Aufgabe, die Regierung nicht nur an gegebene Versprechen zu erinnern, sondern auch Vorschläge zur Beseitigung oder Linderung von Notständen zu unterbreiten. [] Die sozialdemokratische Opposition sieht sich daher veranlaßt, auf folgende Tatbestände hinzuweisen: [] 1. Die Politik der Landesregierung wird nach der Landessatzung vom Ministerpräsidenten bestimmt. Dieser trägt somit auch die Verantwortung für Unzulänglichkeiten einzelner Minister. [] 2. Es ist der Opposition bekannt, daß die Landesregierung in Form von Anträgen und Vorschlägen das Wohlwollen der Bundesregierung zu erreichen versuchte. Diese Versuche sind jedoch bisher ohne Erfolg geblieben. [] 3. Der Eindruck, daß das Land Schleswig-Holstein seit geraumer Zeit in Bonn bei seinen Bestrebungen, Hilfe zu erhalten, unzureichend vertreten ist, verstärkt sich und ist sogar von Kreisen innerhalb der Bundesverwaltung festgestellt. [] 4. Die Erwartung vieler Schleswig-Holsteiner, daß die Gleichschaltung der Bonner und Kieler Politik eine Erleichterung für Schleswig-Holstein bringen würde, hat sich nicht erfüllt. [] 5. Die sozialen Verhältnisse in Schleswig-Holstein haben jetzt einen unerträglichen Grad erreicht. Er findet seinen sichtbaren Ausdruck in folgenden Umständen: [] a) Die Zahl der von Renten, Kriegsopferversorgung, Fürsorgeunterstützung, Arbeitslosenunterstützung, Pension und Unterhaltshilfe lebenden Einwohner beträgt mit Angehörigen weit über eine Million oder rund 40 vom Hundert der Bevölkerung. [] b) Bei der Neufestsetzung der Kriegsopferversorgungsrenten auf Grund des B.V.G. hat die Verwaltung bedauerlicherweise, statt die vorgesehenen Erhöhungen zu bearbeiten, zunächst die Fälle in Angriff genommen, in denen Herabsetzung der Renten erfolgen konnte. [] c) Die Umrechnung der Arbeitslosenunterstützung (nach der seit dem 1. April gültigen Regelung) verzögert sich so sehr, daß noch Wochen vergehen werden, bis die Arbeitslosen und ihre Angehörigen in den Genuß ihrer ohnedies viel zu geringen Zuschläge kommen. [] d) Die Zahl der Dauerarbeitslosen (relativ und absolut) vergrößert sich von Tag zu Tag, weil die strukturelle Arbeitslosigkeit weder durch Abwarten, noch Saisonbeschäftigung, noch durch eine Konjunktur zu beseitigen ist und die Umsiedlung keine Fortschritte macht. [] e) Die Renten, die zuletzt im Jahre 1948 neu festgesetzt wurden, werden durch Preissteigerungen, vor allem bei den Ernährungskosten, täglich mehr abgewertet. [] f) Die Versorgungsempfänger einschl. Witwen und Waisen erhalten keinerlei Aufbesserung ihrer Bezüge und leben heute noch von Einkünften, deren Höhe vor fast 30 Jahren festgesetzt wurde. [] g) Die Fürsorgeleistungen, deren letzte Erhöhung im Januar 1951 stattfand, entsprechen in keiner Weise dem, was zum bescheidensten Leben erforderlich ist. [] 6. Die wirtschaftliche Lage in Schleswig-Holstein hat sich in den letzten Monaten katastrophal verschlechtert. [] a) Die Preise für Lebensmittel, (ohne Obst und Gemüse) sind seit März 1950 um 8 Prozent, für Bekleidung um 11 Prozent gestiegen. [] b) Die gesamten Lebenshaltungskosten (ohne Obst und Gemüse) haben sich gegenüber März 1950 um 7 Prozent erhöht. [] c) Trotz einer Bevölkerungsabnahme um 147155 Personen gegenüber April 1950 ist die Arbeitslosenzahl am 1. April 1951 amtlich mit 207000 festgestellt worden. [] d) Die Zahl der arbeitslosen Bauarbeiter ist, obschon seit Wochen frostfreie Witterung vorhanden, am 1. April 1951 noch erschreckend hoch. 24000 Bauarbeiter, darunter 5200 Maurer, waren arbeitslos. [] e) Infolge Rohstoffmangel können große Bauten nicht ausgeführt werden und müssen Betriebe Aufträge ablehnen oder Fristen erbitten. Arbeitsplatzreserven werden dadurch nicht nur nicht ausgenutzt, sondern Entlassungen werden notwendig oder sind angedroht. [] f) Die in der schleswig-holsteinischen Industrie vorhandene Kapazität ist nur zu etwa zwei Drittel ausgenutzt. [] g) Die Kreditrestriktionen haben selbst alteingesessene Betriebe, betroffen und vor größte Schwierigkeiten gestellt. Sogar vor der "pflegebedürftigen" Exportindustrie wurde dabei nicht halt gemacht. [] h) Weder die Aufstockung des ersten Arbeitsbeschaffungsprogrammes, noch das Sanierungsprogramm sind aus der Vorbereitung herausgekommen. Einige tausend Arbeitsmöglichkeiten blieben ungenutzt. [] i) Die Ansetzung neuer Industrien ist gegenüber den, auch von der jetzigen Landesregierung anerkannten Leistungen ihrer Vorgänger gerade auf diesem Gebiet seit Monaten merklich zurückgegangen. [] Alle in den Punkten 1 bis 6 dargelegten Tatbestände haben zu folgender wirtschafts- und sozialpolitischer Gesamtsituation in Schleswig-Holstein geführt: [] Die maßlose Preistreiberei hat eine Verelendung der Renten-, Unterstützungs-, Lohn,- bzw. Gehaltsempfänger zur Folge. [] [] Die Unsicherheit bei der Preisbildung sowie die Erschwernisse bei der Rohstoff- und Kreditbeschaffung, lähmen das Handwerk, die Industrie und den Handel und vergrößern die Arbeitslosigkeit. Das Fehlen jeder Richtung sowohl im Wirtschafts- wie aber auch im Sozialministerium (Wohnungsbau) legt nicht nur Wirtschaftskräfte lahm und vergrößert die katastrophale Lage, sondern läßt selbst saisonbedingte Wirtschaftszweige, wie das Bauhandwerk, unausgenutzt und schaltet damit ein Schlüsselgewerbe in erheblichem Umfange vom Wirtschaftsleben aus. [] Die Opposition erwartet von Ihnen, Herr Ministerpräsident, daß Sie Ihre Aufgabe, die Politik der Landesregierung zu bestimmen, nunmehr energisch wahrnehmen und [] 1. Ihren Einfluß dahin geltend machen, daß die Umrechnung von Renten und Unterstützungen mit größter Eile betrieben wird, und bei den Kriegsopfern zunächst die Fälle bearbeitet werden, wo Erhöhungen zu erwarten sind; [] 2. alle polizeilichen und verwaltungsmäßigen Handhaben benutzen, um dem wilden Preistreiben ein Ende zu bereiten; [] 3. sofortige und umfassende Feststellungen treffen lassen, wo in Schleswig-Holstein Betriebe lediglich durch Kredit- oder Rohstoffhilfe zusätzlich Beschäftigte aufnehmen können. [] 4. alle politischen Mittel zur Wiederaufnahme und Verstärkung der Umsiedlung anwenden; [] 5. die Auswirkungen der Kreditrestriktionen für Schleswig-Holstein durch Erreichung von Sonderbestimmungen verhindern; [] 6. die eingetretene Desorganisation des Wohnungsbaues beseitigen und tüchtige und bewährte Fachleute zur Hilfeleistung heranziehen; [] 7. durch Bereitstellung von Mitteln wie aber auch durch Beseitigung von bürokratischen "Engpässen" vorhande [!] Möglichkeiten der Industrieansiedlung ausnutzen; [] 8. die Vertretung unserer Interessen in Bonn dadurch verstärken, daß leistungsfähige Beamte mit dieser Aufgabe betraut werden; [] 9. und letztens, der schleswig-holsteinischen Bevölkerung nicht verschweigen, welche Schwierigkeiten, Widerstände und negativen Ergebnisse Ihre bisherigen und zukünftigen Bemühungen bei der Bundesregierung, sei es in sozialer, finanzieller oder wirtschaftlicher Hinsicht, erfahren. [] Zu dieser letzten Forderung kommt die Opposition angesichts der Haltung des Bundesarbeits- und Bundesfinanzministers in der Frage der vom Landtag beschlossenen Beihilfen für Dauerarbeitslose und andere Bedürftige sowie angesichts der Haltung des Bundesfinanzministers während seines Kieler Besuches. [] In Zeiten großer Not, so scheint es der Opposition, sollte die Regierung offen mit der Bevölkerung über alle Schwierigkeiten reden. Die Sozialdemokratische Fraktion ist der Auffassung, daß der liberale Grundsatz des "Laisser faire, laisser passer" schon für das Bundesgebiet unmöglich und unerträglich ist, in Schleswig-Holstein jedoch zur Katastrophe führen muß. [] [] Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Antworten Sie der Opposition bitte nicht mit der Feststellung, wieviel Anträge und Vorschläge Ihre Regierung den Dienststellen in Bonn vorgelegt hat, und daß daraus bisher kein positives Ergebnis erwachsen ist. Die Schuld der Bundesregierung ist uns ohnehin bekannt. Die Opposition ist aber der Auffassung daß hier im Lande in eigener Zuständigkeit das Erforderliche und Mögliche nicht getan wurde. [] Die Opposition erwartet, daß Ihre Regierung in der Landtagssitzung am 7. Mai 1951 dem Landtag konkrete Vorschläge zur Behebung der oben angeführten Notstände unterbreitet. [] Mit vorzüglicher Hochachtung [] Ihr Bruno Diekmann [] [] Verantwortlich für den Inhalt: SPD-Fraktion des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kiel - Druck: Haase-Druck GmbH, Kiel
Published:01.1951 - 05.1951