Das offene Tor

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; DAS OFFENE TOR [] Die Sozialdemokratie ist außer dem bisher nur örtlich bedeutenden Zentrum unter den deutschen Parteien der Nachkriegszeit die einzige, die sich nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes zu ihrem traditionellen Namen bekannte...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Parteivorstand, Schulz, Klaus-Peter, Hannoversche Presse, Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Hannover
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 09.12.1947
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/1E49FD93-2D44-444E-A638-F4F7EF00EB55
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; DAS OFFENE TOR [] Die Sozialdemokratie ist außer dem bisher nur örtlich bedeutenden Zentrum unter den deutschen Parteien der Nachkriegszeit die einzige, die sich nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes zu ihrem traditionellen Namen bekannte, der eine über achtzigjährige Vergangenheit symbolisiert. Die Kommunisten in West- und Süddeutschland, für die formell das gleiche zutrifft, kommen für einen ernsthaften Vergleich nicht in Betracht: sie führen ihren Namen nicht freiwillig, und das Firmenschild der Kommunistischen Partei gilt nur als Lückenbüßer, bis ihr die materiellen Voraussetzungen gestatten, den Namen "Sozialistische Einheitspartei" zu adoptieren. [] Gehütetes Erbe [] Im Gegensatz zu ihrer Namensgebung sind jedoch wohl in keiner anderen Partei Zeichen einer derart tiefgreifenden, und umwälzenden geistigen Neuwerdung zu verspüren wie gerade innerhalb der Sozialdemokratie. Während die anderen wirklich bedeutenden politischen Richtungen in Deutschland alte Dogmen und weltanschauliche Kategorien nur mit einem neuen Anstrich und mit zeitgemäßen Argumenten versehen, greift die Sozialdemokratie der Gegenwart an ihre eigenste Substanz. Sie durfte bisher trotz allen Umwegen und "Erholungspausen" als die Partei des sogenannten "wissenschaftlichen Sozialismus" gelten, als Erbin und Hüterin der von Marx und Engels entwickelten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lehren. Das bedeutete praktisch das Bekenntnis zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die zu einem geeigneten Zeitpunkt ohne Einschränkungen zu erfolgen hätte. Das bedeutete die Konzeption des klassenbewußten Proletariats, das, einmal im Besitze der Macht, die gesamte Menschheit mit seinem Geist erfüllen würde. Das bedeutete ferner die unangefochtene Autorität einer Geschichtsbetrachtung, die in den ökonomischen und soziologischen Voraussetzungen das schlechthin entscheidende Agens der Entwicklung sah. Das bedeutete schließlich die etwas widerwillige, bestenfalls mokante Duldung der Religion als eines "naiven Aberglaubens", nicht aber ihre Anerkennung als schöpferische geistige Macht, die in ihren Bezirken die gleiche Autonomie beanspruchen muß, wie das staatliche und politische [] Geschehen in dem seinen. [] Wirkung oder Ursache? [] Ueberdenkt man die inneren Zusammenhänge dieser Ideologie, so wird man zugeben müssen, daß sie eine politische Zielsetzung von imponierender innerer Geschlossenheit offenbaren, mag man sie nun akzeptieren oder verwerfen. Tatsächlich ist diese innere Geschlossenheit bis zur Schwelle des ersten Weltkrieges das Glück der deutschen Sozialdemokratie gewesen. Die Anhänglichkeit ihrer Funktionäre und Mitglieder an traditionelle Werte und Vorstellungen erwies sich darüber hinaus als so stark, daß im Augenblick des dramatischen Absturzes der Weimarer Republik 1932/33 wohl nur die wenigsten Sozialdemokraten darüber nachgedacht haben mögen, ob nicht vielleicht das Glück von einst zu dem Ende von jetzt geführt haben könnte. Die meisten waren damals noch geneigt, die ausschließliche Verantwortung für das Aufkommen des Hitlerismus dem Versagen der bürgerlichen Gesellschaft und der naturnotwendigen Tendenz der hochkapitalistischen Entwicklung zuzuschreiben. Diejenigen, die der "Spaltung der Arbeiterklasse" die Schuld gaben, gingen in ihren Ueberlegungen wohl bereits einen Schritt weiter, aber auch sie verwechselten die Wirkung mit der Ursache. Sie betrachteten den aus der Frage der Kriegskreditbewilligung im ersten Weltkrieg entstandenen Zwist auf dem sozialistischen Flügel in sich als verhängnisvoll, ohne später die Frage zu überprüfen, ob nicht gerade nach dem Kriege die "Spaltung" ein gesunder und notwendiger Vorgang gewesen sei, ein Prozeß nämlich, der zwei ursprünglich miteinander [] verbundene Elemente voneinander schied, die sich unter veränderten Wirkungsbedingungen als antagonistisch, ja als unversöhnlich erwiesen. [] Unabweisbare Frage [] Die geistige Auseinandersetzung, die in der heutigen Sozialdemokratie wahrnehmbar ist, bereitete sich schon in der Zeit der Illegalität, während der Unterdrückungen und Verfolgungen des Hitler-Regimes, immer eindeutiger vor. Daß im Jahre 1933 mit einer geschichtlichen Aufgabe eine ganze Generation von Theoretikern, Politikern und Staatsmännern versagte, ist in diesem Zusammenhang ungemein wichtig. Die jüngeren und jüngsten Vertreter der Sozialdemokratischen Partei sahen sich damals von einer Grundlage losgerissen, auf der sie bereits scheinbar selbstverständlich aufgewachsen waren. Für sie gab es im Zeitalter des Nationalsozialismus keine politische und parteigenössische Pflicht des Alltags mehr, die ihr konsequentes und unerbittliches Nachdenken verhinderte. Daß die deutsche Sozialdemokratie im Zeitalter der Weimarer Republik, ja schon in den Jahren des ersten Weltkrieges, bei aller selbstverleugnerischen Bewährung im einzelnen ihren zukunftweisenden, revolutionären Elan eingebüßt hatte, lag auf der Hand. Aber welche Revolution galt es im zwanzigsten, Jahrhundert überhaupt zu gestalten? Kam man heute noch mit den Forderungen das "Kommunistischen Manifestes" aus, genügten die Vorstellungen des "Zukunftsstaates" der Zeit Bebels noch den Ansprüchen einer durch schwerste Krisen und unerhörtes Leid geprüften modernen Generation, die sich andererseits wegen ihrer noch vorhandenen starken Bindung an die Ideenwelt des Gestern gegen alle massiven Verlockungen der [] nationalsozialistischen Vereinfachungspropaganda als völlig immun erwies? [] Schumacher und die Jungen [] Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und der Wiederzulassung verschiedener Parteien nahmen in überwiegendem Maße auf den kurulischen Sesseln der Politik und Verwaltung zunächst wieder Vertreter jener Altersschichten Platz, die als Gesamtheit zwölf Jahre zuvor ruhmlos genug abgedankt hatten. Aber die junge Generation war, soweit sie bereits vom ersten Tage einer neuen Entwicklung an bewußt in die Speichen griff, diesmal entschlossen, die in den Jahren des inneren und äußeren Exils gereifte geistige Auseinandersetzung unter keinen Umständen wieder auf eine bequemere Zeit zu vertagen. Anders als nach 1918 fanden diese Elemente jetzt in der Persönlichkeit Dr. Schumachers eine echte politische Führernatur und damit einen ihrem geistigen Ringen verwandten Typ. Schumacher selbst hatte in den Jahren vor 1933 nicht in der ersten Reihe der Versager gestanden; er gehörte vielmehr mit Mierendorff, Haubach und Julius Leber zu dem geistig ungemein aufgeschlossenen und weltoffenen Kreise, der schon damals inmitten aller Wirren und Krisen über kühnere und konstruktivere Konzeptionen verfügte als der in der Selbstzufriedenheit eines bloßen Funktionärmechanismus weitgehend erstarrte alte Parteivorstand der Sozialdemokratie, in dem die jüngeren Elemente kaum zum Zuge kamen. Schumachers politische Auffassung wurde in der elfjährigen Hölle der Unmenschlichkeit, die ihn mit einer kurzen Unterbrechung umgab, trotz allen unsagbaren Leiden gereift und gestählt. Als er nach dem [] Zusammenbruch endlich wieder auf den Plan trat, geschah dies mit Vokabeln und Argumenten, die in weiten Kreisen des deutschen Volkes freudigen Widerhall fanden und lebhafte Hoffnungen weckten. Innerhalb der Partei selbst besitzt Schumacher jenes Maß gesicherter Autorität, das nur auf dem Fundament freien Meinungsaustausches und offener Kritik denkbar ist. Der unmittelbarste Kontakt verbindet ihn jedoch gerade mit der jüngeren Generation der Sozialdemokratie; hier findet er seine stärkste Stütze und das bereitwilligste Verständnis für eine politische Linie, die sich niemals einem blutleeren und weltfremden Doktrinarismus zuliebe von den lebendigen und schöpferischen europäischen Realitäten entfernt. [] Falsche Alternative [] Die Auseinandersetzung, die die Sozialdemokratie heute um eine neue geistige Grundlage führt, verharrt diesmal nicht, wie nach dem ersten Weltkriege, in der peripheren Sphäre intellektueller Diskussionen, sondern hat in kurzer Zeit mit erstaunlicher Gewalt das gesamte Leben der Partei ergriffen. Auch dies ist nicht zuletzt der Initiative Schumachers zu verdanken, weil er derartige Auseinandersetzungen anregt und fördert, ohne vorerst selbst endgültig Stellung zu beziehen. Freilich sieht der Außenstehende die Divergenz der heute in der Sozialdemokratie auftauchenden Meinungen und Gesinnungen meist zu alternativ: Immer wieder vernimmt man die Ansicht, der deutschen Sozialdemokratie von heute bleibe doch eigentlich nur die Entscheidung übrig, entweder nach einigen mehr oder minder stürmischen Lockerungsversuchen in die Selbstgenügsamkeit des orthodoxen Marxismus zurückzufinden - oder die marxistische Grundlage überhaupt aufzugeben. Wie aber auch immer die heute geführte Auseinandersetzung ausgehen möge, so viel kann bereits jetzt gesagt werden, daß eine so alternativ formulierte Hypothese falsch ist. [] Wollte man etwa unter den sozialdemokratischen Mitgliedern und Funktionären eine Art von "Volksabstimmung" veranstalten, ob die überlieferte marxistische Konzeption in Bausch und Bogen aufgegeben werden solle, so hätte man gewiß nur verschwindend wenig Ja-Stimmen zu zählen. Die Sozialdemokratie befindet sich dem Marxismus gegenüber in einer ähnlichen Lage wie etwa der moderne Arzt gegenüber der Virchowschen Zellularpathologie. Selbstverständlich behandelt dieser den Kranken nach den medizinischen Erkenntnissen und Grundsätzen von heute. Er weiß, daß Virchow zu seiner Zeit weder die wichtige Funktion der innersekretorischen Drüsen übersah, noch die Methode der Psychothoerapie kannte, die heute mehr und mehr zum Allgemeingut auch des praktischen Arztes wird; aber er wiese es doch entschieden von sich, wollte man ihm zumuten, aus dem geistigen System seiner Wissenschaft die Zellularpathologie herauszubrechen, nur deswegen, weil sie neben positiven wissenschaftlichen Errungenschaften auch eine Reihe erwiesener Irrtümer und Einseitigkeiten enthält. [] Marxismus: Ja und Nein [] Die Sozialdemokratie besitzt am Marxismus gleichzeitig mehr und weniger als vergleichsweise die britische Labour Party. Das Mehr bezieht sich auf eine Denkmethode, die gerade in ihrem analytischen Teil noch heute auf vielen Gebieten eine überraschende Aktualität besitzt, eine Geschichtsauffassung, ohne deren Kenntnis man sich ebenso ins Dunkel der Spekulationen verirrt wie durch ihreübertriebene Anwendung. Die Sozialdemokratie besitzt andererseits weniger als die Labor Party, weil ihr das Festhalten an der vermeintlichen Sicherheit einer Ueberlieferung bereits seit Jahrzehnten die Frische und Unmittelbarkeit der Begegnung mit den Problemen einer veränderten Welt verwehrt hat. [] Ebenso ausgeschlossen ist jedoch eine Rückkehr zum sogenannten "orthodoxen Marxismus": Die Gegenkräfte sind heute zu zahlreich und bedeutend, als daß sie sich noch einmal von den mahnenden Stimmen der Traditionalisten in die Verteidigung drängen und zum Rückzug nötigen ließen. Die Berührung mit zwei totalitären Systemen und der dadurch vermittelte Anschauungsunterricht haben in den jüngeren Wortführern der Sozialdemokratie eine kritische Empfindlichkeit gegenüber dem eigenen geistigen Ursprung geweckt und eine Umorientierung des Denkens herbeigeführt, deren Ergebnisse vielleicht und hoffentlich einmal einen Vergleich mit jener Aera aushalten werden, der Marx und Engels ihre Namen gaben. Diese Kreise befassen sich vornehmlich mit der Befreiung der sozialistischen Idee von den ihr seit altersher selbst innewohnenden autoritären Tendenzen. Sie lehnen es ab, den Sozialismus als weltanschaulichen Zähler zu betrachten, sie sind vielmehr bemüht, aus ihm den Generalnenner einer Lebensauffassung zu entwickeln, über dessen umfassender Breite alle möglichen Weltanschauungen ihre echten ethischen und geistigen Impulse auswirken können. [] Sozialismus des freien Geistes [] Weil sie selbst die unvermeidliche Enge der marxistischen Lehre am eigenen Leibe verspüren (soweit ihre einzelnen Forderungen als Glaubensartikel und ihre Gesamtheit als Dogma aufgefaßt werden), verzichten sie darauf, diese Lehre anderen als alleinseligmachendes Mittel künftiger Menschheitsbeglückung anzupreisen. Sie ziehen ein sauberes, geordnetes und freies, wenn auch unvollkommenes Staatswesen, das dafür aber die einzige irdische faßbare Vollkommenheit geistigen Ringens, Schaffens und Gestaltens ermöglicht, der Schimäre eines vollkommenen Staatsbegriff es vor, in dessen Grenzen der freie Geist erwürgt wird und Moral und Recht ihr Haupt verhüllen. Eine neuartige, große und ergreifende Idee des Sozialismus ist hier, obwohl in Einzelheiten noch ungestaltet, im Werden. Hinter ihrer Verwirklichung lauert kein erschreckender Anschlag auf die Freiheit des einzelnen, sie findet vielmehr ihre sittliche Rechtfertigung nur in einer umfassenden, sozialen Erweiterung der bisher bestehenden Freiheiten moderner Rechtsstaaten. Die Entschlossenheit, zu diesem Zweck die soziologischen Grundlagen entscheidend zu verändern, wird durch diese Neuorientierung freilich um keinen Deut beeinträchtigt: Ein solches Werk kann der Menschheit aber nur dann zum Segen gereichen, wenn die vielfach noch unerschlossenen Kräfte des Fortschritts und der Selbstverleugnung in allen Nationen zur einträchtigen und fruchtbaren Zusammenarbeit für dieses Ziel gewonnen werden. Das, was der Arbeiterklasse an Impulsen [] echter revolutionärer Stoßkraft geblieben ist, öffnet sich damit den Suchenden und Drängenden sämtlicher übrigen Gesellschaftsschichten. Die sozialistische Zielsetzung, die sich heute in den Reihen der Sozialdemokratie gestaltet, leidet nicht mehr unter dem Alpdruck eines möglichen zermürbenden politischen Zweifrontenkrieges gegen Kommunismus und Bürgertum. Die Partei weiß, daß sie nach wie vor mehrere Gegner zu bekämpfen hat, aber im Gegensatz zu früher an der gleichen Front. Das damit gewonnene berechtigte Selbstbewußtsein setzt eine Fülle von Energien für eine geistige Offensive frei, die sich vom Chaos der Gegenwart nicht beirren läßt, weil ihr das befreiende Weltziel von morgen bereits sichtbar vor Augen liegt. [] Dr. Klaus-Peter Schulz. [] Nachdruck aus "Badische Zeitung" vom 9. Dezember 1947 [] Herausgeber: Vorstand der SPD. Druck: Hannoversche Presse, Druck- und Verlagsgesellschaft m. b. H., Hannover.
Published:09.12.1947