An das preußische Volk!

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals<NZ>Siehe auch: 6/FLBL005383 An das preußische Volk! [] Legen Sie dieses Blatt nicht achtlos beiseite, bevor Sie es gelesen haben! Es handelt sich um eine Sache, die auch Sie wie jeden anderen preußischen Volksgenossen nahe angeht...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: N.N., Vorwärts Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer & Co., Berlin / E. Köppen, Spandau
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 26.11.1907 - 16.06.1908
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/A8B51C4E-6BE5-44DA-9371-0D3EF2BEE6D4
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals<NZ>Siehe auch: 6/FLBL005383 An das preußische Volk! [] Legen Sie dieses Blatt nicht achtlos beiseite, bevor Sie es gelesen haben! Es handelt sich um eine Sache, die auch Sie wie jeden anderen preußischen Volksgenossen nahe angeht. [] Wie Sie wissen, müssen im nächsten Jahre - 1908 - die Neuwahlen zum preußischen Landtag stattfinden, und es wird auch Ihnen nahegelegt werden, Ihre Stimme abzugeben für diese oder jene Partei. [] Deshalb wollen wir schon heute Ihre Aufmerksamkeit auf das veraltete Wahlsystem lenken! [] Der preußische Landtag setzt sich bekanntlich aus zwei Häusern zusammen, nämlich aus dem Herrenhause - dem eine Reihe von Prinzen, Grafen, Edelleuten und Großgrundbesitzern als erbliche Mitglieder, also bloß deshalb angehören, weil sie als Söhne von Edelleuten auf die Welt gekommen sind, dessen übrige Mitglieder aber vom jeweiligen Preußischen Könige ernannt werden - und aus dem Abgeordnetenhaus, das noch immer auf Grund eines Wahlsystems gewählt wird, das Fürst Bismarck schon im Jahre 1867, also vor rund vierzig Jahren, als das "elendeste und widersinnigste aller Wahlsysteme" bezeichnet hat. [] Während bei der Reichstagswahl jeder männliche Reichsangehörige durch seinen Stimmzettel mitbestimmen kann über die Geschicke des Reiches und der Gesamtheit, ist bei der Zusammensetzung des Landtages die Mitbestimmung des Volkes fast ganz ausgeschlossen. [] Die Wahl ist öffentlich, das heißt jeder Wähler muß den Gewählten laut mit Namen nennen. Dadurch erhält jeder Fabrikant, jeder Gutsbesitzer, jeder Inspektor und Werkmeister die Möglichkeit, genau zu kontrollieren, wie z. B. die von ihm beschäftigten Angestellten wählen. Jeder Polizist kann die Stimmabgabe des Bürgers überwachen. Die öffentliche Stimmabgabe unter Polizeiaufsicht ist allein schon geeignet, das preußische Wahlrecht Zu dem "elendesten und widersinnigsten" aller Wahlsysteme zu stempeln. [] Aber das preußische Wahlsystem ist auch nach anderer Seite ein Hohn auf den Begriff des Wählens. Sämtliche Wahlberechtigte werden bekanntlich in drei verschiedenen Wählerklassen eingeteilt, und zwar ganz willkürlich nach dem Steuersatze, den der einzelne zahlt. So gehören die reichen Leute zur ersten, die Wohlhabenden zur Zweiten Klasse, aber die ganze große Schar von kleinen Leuten, Handwerkern, Arbeitern wählt in der dritten Klasse. [] Jeder Wähler darf seinen Abgeordneten nicht selbst wählen, wie bei der Reichstagswahl, sondern er muß erst einen Mittelsmann, den Wahlmann, bestimmen, damit dieser den Abgeordneten wählt. [] Ist es da nicht selbstverständlich, daß die Wahlmänner der Reichen und der sehr Wohlhabenden, also die der ersten und der zweiten Klasse, zusammenhalten und die Wahlmänner der dritten Abteilung einfach überstimmen? Die Erfahrung durch Jahrzehnte hat gelehrt, daß immer nur die Besitzenden, nicht aber die Armen und Unterdrückten im preußischen Landtag ihre Vertretung gefunden haben, solange dieses durch Verfassungsbruch dem Volke aufgezwungene Wahlsystem besteht. [] Auch heute noch ist das der Fall. Sehen Sie sich einmal die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses an. Von den Erwählten des Dreiklassenwahlsystems sind ihrem Beruf nach: [] 161 Landwirte (d. h. Rittergutsbesitzer und dergl.). [] 45 höhere Justizbeamte, [] 69 sonstige Staats- und Gemeindebeamte (Landräte, Bürgermeister, Regierungsräte usw.), [] 17 Geistliche und Konsistorialräte, [] 19 Lehrer, Rektoren usw., [] 37 Großkaufleute (Fabrikbesitzer, Kommerzienrate), [] 33 Rentner, [] 45 Aerzte, Rechtsanwälte, Redakteure und dergl., [] dagegen nur 7 selbständige Handwerker und [] kein einziger Arbeiter! [] Zeigt diese Zusammenstellung nicht mit aller Deutlichkeit, daß das preußische Abgeordnetenhaus nur eine Vertretung der Reichen und Wohlhabenden, aber eine Zwingburg gegen die Arbeiter und die Notleidenden ist? [] Um die ganze Ungerechtigkeit dieses Wahlsystems zu ermessen, beachte man einmal die folgenden Ziffern: Im Jahre 1903 wählten: [] 321 157 konservative Urwähler 143 Abgeordnete [] 47 975 freikonservative Urwähler 60 [] 256 220 nationalliberale Urwähler 79 [] 16 735 Wähler der Freisinnigen Vereinigung 8 [] 73 245 Wähler der Freisinnigen Volkspartei 25 [] 251 958 Zentrumswähler 97 [] dagegen [] 314 149 Sozialdemokraten 0 [] Die Zahl der konservativen und der sozialdemokratischen Wählerstimmen war also fast gleich; trotzdem hat die konservative Partei 143, die Sozialdemokratie keinen Abgeordneten, während sie, wenn die Mandate nach dem Verhältnis der Stimmenzahl verteilt würden, [] 81 sozialdemokratische Abgeordnete [] erhielte, die Zahl der Konservativen, Nationalliberalen und des Zentrums aber wesentlich vermindert würde. Die Freikonservativen gar würden nach Verhältnis ihrer Stimmen von 60 Mandaten auf 12 Zurückgeschraubt. Aber bei diesen Wahlen entscheidet nicht das Recht, sondern der Geldsack. [] Ans diesem Grunde ist die Wahlbeteiligung immer eine sehr schwache gewesen. Während bei der Reichstagswahl von 100 Wählern immer mindestens 70, in vielen Wahlkreisen aber 90 und noch mehr ihre Stimme abgaben, sind bei den Landtagswahlen von 100 Urwählern 16, 18 und nur 1903 einmal über 20 zur Wahl erschienen! Die übrigen 80 von 100 blieben zu Hause, weil sie es für aussichtslos hielten, unter dem Dreiklassenwahlrecht an einer öffentlichen Abstimmung teilzunehmen und weil sie "Unannehmlichkeiten" fürchteten. [] Der Landtag ist aber keine gleichgültige Einrichtung, an der man achtlos vorbeigehen darf. Vielmehr hat er sehr wichtige Befugnisse und pflegt sie rücksichtslos auszunutzen, allerdings nicht zum Vorteil des kleinen Mannes. [] Der preußische Landtag entscheidet über das Schulwesen, er lieferte die Volksschule der Kirche ans, anstatt für möglichst umfassende Bildung zu sorgen. [] Der Landtag bewilligt die Mittel für Polizei und Gericht und hat das Recht, Verschlechterungen oder Verbesserungen herbeizuführen. Bisher hat er nur Aenderungen geschaffen, die gegen die Arbeiterklasse gerichtet waren. [] Dem preußischen Landtag unterstehen die Domänen und Forsten, deren Verwaltung in Händen des Landwirtschaftsministeriums liegt. Fortgesetzt trachtet der Landtag danach, die Landarbeiter immer mehr in den früheren Zustand der Hörigkeit und Leibeigenschaft zurückzuversetzen, dagegen den Großgrundbesitzern immer neue Vorrechte zu verschaffen. [] Der Landtag hat die Eisenbahnen und Kanalbauten zu überwachen. Seine Tätigkeit hat sich im wesentlichen in der Erschwerung des Verkehrs und in der Verteuerung des Reifens geäußert. [] Unter seinem Schutze kann eine Handvoll Großkapitalisten die unermeßlichen Kohlenschätze der Bergwerke zur eigenen Bereicherung ausnutzen und dem Publikum unerschwingliche Kohlenpreise diktieren. Unter dem Schutze des Landtages stehen die Grubenmagnaten, denen das Leben Tausender von Bergleuten anvertraut ist. Aber alljährlich gellen die Jammerschreie der in den Gruben zu Hunderten verunglückten Arbeiter durchs Land, ohne daß der Landtag etwas Durchgreifendes zur Besserung der Zustände unternähme! [] Im preußischen Landtag - sowohl im Herren- als im Abgeordnetenhause - fühlen sich die Preußen beherrschenden Junker so ungestört, daß sie offen zu Verfassungsverletzungen auffordern, trotzdem sie sonst sich als die einzig zuverlässigen Stützen der Verfassung bezeichnen. Dort fordern sie ungeniert den Justizminister auf, daß er [] zweierlei Rechtsprechung [] einführe, eine gegen die Sozialdemokraten, Polen und sonstige Vaterlandsfeinde und die andere zugunsten der Junker und ähnlicher Staatsstützen. Im preußischen Landtag sitzen auch die Feinde des Reichstagswahlrechts, die je eher je lieber auch im Reiche das preußische Dreiklassenwahlrecht einführen möchten. [] Die "erlauchten Herren" aus dem mittelalterlichen Herrenhause und die dreiklassigen Abgeordneten denken nun gar nicht daran, das von ihnen selbst als unhaltbar erkannte Dreiklassensystem abzuschaffen und an dessen Stelle ein wirkliches Wahlrecht zu setzen, das dem gesamten Volke das Recht zur Mitbestimmung geben würde. [] Sowohl in Bayern als in Württemberg und Baden hat man nach langen Kämpfen in den letzten Jahren das [] allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht [] eingeführt. Das benachbarte Oesterreich, das solange als rückständig galt, hat im vergangenen Jahre ebenfalls dieses Volkswahlrecht zum Abgeordnetenhause eingeführt. [] Nur Preußen bleibt zurück [] so lange, als die breiten Volksschichten sich nicht rühren und den dreiklassigen Gewalthabern begreiflich machen, daß auch das preußische Volk einrücken will in die Reihe der Kulturvölker, die selbst über ihr Geschick bestimmen. [] Darum wenden wir uns an die preußischen Männer und Frauen und fordern sie auf, sich die ihnen vorenthaltene staatsbürgerliche [] Gleichberechtigung zu erkämpfen. [] Landarbeiter, Kleinbauern, Handwerker, Arbeiter! Ihr habt in Preußen nur Pflichten, aber keine Rechte! [] An Euch Frauen wenden wir uns, die Ihr im Preußenlande zwar schwer arbeiten dürft, vom frühen Morgen bis zum Abend, denen aber die geringsten Rechte versagt sind! Ihr dürft dem Vaterland Söhne gebären - die dann den Reichen ihre Schätze mehren und im Kriege ihr Leben opfern - aber Ihr dürft nicht teilnehmen an den Wahlen, Ihr habt nicht einmal das schmale Recht, in einem politischen Verein mitzuraten und Euren Blick zu weiten! Wollt Ihr diese Rechtlosigkeit ewig ertragen? [] Ihr alle, die Ihr im weiten Vaterlande unter Unrecht und Bedrückung seufzt, schart Euch mit uns um das Banner der Gerechtigkeit! [] Dem Unrecht des Dreiklassenwahlsystems setzen wir die demokratische Forderung gegenüber: [] Allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht für Männer und Frauen! [] Erst wenn diese Forderung erfüllt ist, kann in Wirklichkeit Bülows Wort gelten, daß Preußen in Deutschland voran sei! [] Wer davon überzeugt ist, daß das schon vor 40 Jahren als das elendeste und widersinnigste aller Wahlsysteme erkannte Dreiklassenwahlrecht sobald als möglich einem Volkswahlrecht Platz machen muß, der wird in nächster Zeit die Augen offen halten und die falschen Freunde - mögen sie sich konservativ, nationalliberal, Zentrum oder freisinnig nennen - belehren, daß es kein Mittelding geben darf, sondern die Losung für die Zukunft lautet: [] Nieder mit der Dreiklassen-Schande! [] Heraus mit dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht für Männer und Frauen! [] Dienstag, den 26. November 1907, abends 8 Uhr: 2 große öffentl. Volks-Versammlungen. [] 1. Bei Kumke, Schönwalderstraße 80, [] 2. Köpenick, Pichelsdorferstraße 39. [] Tages-Ordnung: [] Nieder mit dem Dreiklassenwhlrecht! [] Erscheint in Massen! [] Verleger: E. Köppen, Spandau. - Druck: Vorwärts Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer & Co., Berlin SW. 68, Lindenstr. 69.
Published:26.11.1907 - 16.06.1908