Schuld oder Sühne?

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; [!] = sic! Schuld oder Sühne? [] Liebknecht verhaftet und beim Transport auf der Flucht niedergeschossen, Rosa Luxemburg getötet, das Bureau der Unabhängigen durch einen Trupp Soldaten zerstört, Verhaftungen durch einzelne Kommandos ohne Befe...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: N.N., Vorwärts Buchdruckerei und Verlagsgesellschaft Paul Singer & Co., Berlin
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: ca. 1919
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/E2F0A892-C053-4C14-90A0-60084C329116
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; [!] = sic! Schuld oder Sühne? [] Liebknecht verhaftet und beim Transport auf der Flucht niedergeschossen, Rosa Luxemburg getötet, das Bureau der Unabhängigen durch einen Trupp Soldaten zerstört, Verhaftungen durch einzelne Kommandos ohne Befehl - wo soll das hinführen? Ist das nicht Gegenrevolution und Reaktion? [] Selbstverständlich kann man das Ansätze dazu nennen, und die Regierung muß mit ihren Kommandostellen gemeinschaftlich ganz energisch dafür sorgen, daß nicht ein Leutnant mit einigen Mann selbständig Politik mache und aus eigener Machtvollkommenheit richten darf. [] Wir wollen aber auch jetzt Gefühl und Zunge kurz halten und die Sache [] mit kaltem nüchternen Verstand beurteilen. [] Zum ersten: Die Tatbestände müssen in allen Fällen, wo es sich um Uebergriffe handelt, gründlich, unparteiisch und energisch untersucht werden. Die Regierung hat den Willen dazu. Aber damit ist nichts geschehen, daß ein einzelner womöglich in die Wüste geschickt wird; Krankheiten werden nur dadurch beseitigt, daß man ihre Wurzeln aufsucht und diese zerstört. [] Zum zweiten: Der Terror war uns im Deutschland der Revolution bis vor kurzem unbekannt. Die Welle vom 19. November schlug mit Riesenmacht jeden Gedanken daran nieder. Hinter der Energie der stürmenden Vortrupps rückte die breite Mauer der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes heran, alles beiseite drängend, was sich etwa anzustemmen versuchte. [] Das Fundament dieser Mauer war die Einigkeit der Arbeiter. Obwohl die Unabhängigen nur eine Minderheit von ihnen musterten, erhielten sie in der Regierung ebensoviel Plätze wie die Mehrheitssozialisten. Sie hielten aber nicht stand, sie ließen sich nach links abdrängen. Die Organisation der Berliner Unabhängigen lieferte die Massen, die Rückendeckung für die Spartakusbewegung. Die Führung der Unabhängigen ließ mit sich geschehen, was eine Parteiführung niemals zulassen darf: sie ließ - führerlos! - zwischen zwei Steinen ihre Massen zerreiben. [] Spartakus, die neue Minderheit, die die Revolution über sich selbst hinaus und damit ins Reaktionäre treiben wollte, führte den Terror ein; an ihren Folgen erstickten Liebknecht und Rosa Luxemburg! [] Erinnern wir uns doch: Die Spartakisten ließen die sozialdemokratische Presse und die bürgerlichen Zeitungen nicht erscheinen, aber die mit ihnen sympathisierenden Zeitungen und reaktionären Blätter durften während der Zeit ihrer skrupellosen Herrschaft in Berlin die Öffentlichkeit beeinflussen und unterrichten. [] Jeder Terror ist reaktionär, weil er große Teile des Volles mit ihrem Willen zur Mitbestimmung ausschaltet, niederknüppelt. Spartakus machte es wie die berüchtigsten Reaktionäre, er versuchte, die Volksmeinung durch Maschinengewehre zu erdrücken. Ein reichliches Teil Schuld an dieser Entwicklung hat die gewissenlose Hetze einiger Berliner spartakusfreundlicher Zeitungen, und die unbeständige, unklare Haltung des Organs der Unabhängigen. Beides förderte den Terror. [] Wie ist's denn heute dort, wo Spartakus herrscht? Im Moment regiert er in Bremen. [] Er hat über Bremen das Standrecht verhängt. [] Schon Personen, bei denen Waffen gefunden werden, verfallen dem Standrecht. Jede Meinung, gegen Spartakus in der Abwehr, mit der Waffe durchgesetzt, wird als Hochverrat mit sofortigem Erschießen bestraft! [] Die gesamte Presse ist unter Vorzensur gestellt. [] Die Zeitungen müssen ohne Kommentar aufnehmen, was ihnen Spartakus liefert. [] Das ist Spartakus, das ist Terror, [] das ist Reaktion. [] Solche Maßnahmen müssen bei der Gegenseite Empörung auslösen, und wer will es wagen, heute, wo Hunderttausende und Millionen, zum großen Teil ungeschult oder zum ersten Male praktisch in politische Auseinandersetzungen eingreifen, Bürgschaften für die Gerechtigkeit jeder einzelnen Handlung zu übernehmen, daß immer nur geschieht, was verständig und recht, was demokratisch und gesund ist? [] Es gibt nur ein wirkliches Recht, eine wahre Gerechtigkeit, und das ist [] die Entscheidung der Demokratie. [] Die Regierung, aus der Mehrheit des Volkes geboren und mit den übergroßen Massen des Volkes hinter sich, muß dafür sorgen, daß der Wille ihrer Wähler und nur dieser Wille in Wirklichkeit umgesetzt wird. Die Befehle der Regierung, kontrolliert vom allgemeinen Volkswillen, müssen ausgeführt werden. Jeder, der darüber hinausgeht, verfällt der gerechten Strafe. Minderheiten, die anderer Auffassung sind als die Mehrheit des Volkes, müssen mit den ihnen zur Verfügung stehenden geistigen Waffen sich durchzusehen versuchen. Aber Terror löst immer wieder Terror aus. Entfesselte Instinkte links erwecken nicht berechtigte Wildheiten rechts, und deswegen ist das traurige, ja entsetzliche Schicksal Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs eine der dunklen Folgen der Spariakusherrschaft. Auf Spartakus fällt die intellektuelle Urheberschaft des traurigen Sterbens ihrer beiden Führer zurück. [] Deswegen, Ihr Arbeiter, besinnt Such, leistet nicht dem Terror Gefolgschaft. Die Schatten ferner Taten sind blutige Schuld an der deutschen Revolution. [] Achtung. Gegenrevolution! [] Der von der Reichsregierung mit dem Oberkommando über die bereits versammelten oder noch aufzustellenden Truppen betraute frühere Reichstagsabg. Gustav Noske ist mit einem Teil seiner Macht in Berlin eingezogen, um dort Ruhe und Ordnung wieder herzustellen und die Durchführung der Nationalwahl am 19. Januar zu sichern. Dazu genügt nicht, daß die Spartakisten aus den von ihnen besetzten Zeitungsbetrieben und Regierungsgebäuden hinausgeworfen wurden, sondern es muß [] die Entwaffnung der Spartakisten und ihres Anhanges [] durchgeführt werden. Daß die Anhänger der Schreckensherrschaft der Minderheit auf eine bloße Aufforderung ihre Waffen nicht herausgeben werden, ist klar; daß sie sich auch durch Androhung von Geldstrafen bis zu 100 000 Mk. und Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren, ja selbst durch Androhung von Zuchthausstrafe nicht dazu bewegen lassen, bedarf auch keiner Erörterung. Es hilft nichts: die geheimen Waffenniederlagen müssen aufgespürt und ausgenommen werden: verdächtige Gestalten müssen auf der Straße oder wo man ihrer sonst habhaft werden kann, zum Ausweis über ihre Person gezwungen werden und, falls sie des unerlaubten Waffentragens zu überführen sind, in das Gewahrsam wandern. Nur so kann - - - [!] [] Wenn man so weit gekommen ist mit der unwiderleglichen Begründung der Maßnahmen Noskes, dann setzen die Wortführer des Spartakusbundes und die unentwegten Unabhängigen mit der Behauptung ein: "Das alles geschehe nur, um die Revolution abzustoppen und der Gegenrevolution die Wege zu ebnen." [] Nein, und dreimal nein! [] Das geschieht nicht der Gegenrevolution wegen, sondern es geschieht, um die Ergebnisse der Revolution selbst sicher zu stellen. Freilich über eins muß man sich klar sein: Während in den ersten Wochen nach der Umwälzung vom 9. November d. J. ein allgemeines Aufatmen durch alle Schichten des deutschen Volkes ging und jeder Gedanke an eine Wiederherstellung früherer Zustände als eine Lächerlichkeit abgetan werden konnte, haben Spartakus und seine Anhänger, immer unter der freundlichen Mithilfe der Unabhängigen, glücklich zuwege gebracht, daß in der Tat die Stimmung für die sozialistische Republik kälter geworden ist. Der Putsch der bewaffneten Banden, der von vornherein zur Aussichtslosigkeit verurteilt war, hat sich als ein wirksames reaktionäres Mittel erwiesen. Der alte Liebknecht, der im Gegensatz zu seinem entarteten Sohn ein kluger Mann und bei aller Leidenschaftlichkeit seines Temperaments ein weitblickender Politiker war, hat schon vor Jahrzehnten der deutschen Arbeiterschaft die Lehre gegeben, [] daß alle Gewaltanwendung letzten Endes reaktionär wirke. [] Jetzt haben wir den Beweis für die Wahrheit seiner Worte handgreiflich vor uns. [] Aber so stehen die Dinge heute denn doch nicht, daß ernsthaft mit einer Gefahr von rechts zu rechnen wäre. Spartakus hat während seiner tollen Woche alle Blätter der Junkerpartei in Berlin ruhig weiter erscheinen lassen, während er demokratische Blätter besetzt hielt. Das hat eine gewisse Wirkung gehabt, ist aber doch nicht tief gegangen. Auf wen sollte sich denn der Versuch zur Wiederherstellung der früheren Mißwirtschaft stützen? Wer soll denn heute in Deutschland aufstehen, um die Monarchie wieder herzustellen? Um das freie Wahlrecht dem Volke wieder zu nehmen? Wer die Gefahren der Gegenrevolution heute betont und der Regierung bei der Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung und der demokratischen Voraussetzungen unseres staatlichen Neubaues in den Arm fällt, [] macht sich der schäbigsten Demagogie schuldig. [] Er betrügt das Volk seiner eigenen Zwecke wegen. Die Schreier, die damit auf der Straße und in Versammlungen operieren, haben vielfach noch nicht einmal so viel Lebensjahre, wie die Männer, gegen die sich ihr Getobe richtet, Dienstjahre in der Arbeiterbewegung verbracht haben. Wo sie auftauchen, soll man sie erst einmal einem gründlichen Examen unterwerfen und feststellen, wie lange sie denn eigentlich schon organisiert sind und wo sie das Recht zu einer Kritik der Regierung erarbeitet haben. [] Die Uhr. [] Eine Uhr besteht aus einer großen Anzahl von einzelnen Teilen. Bei der einen können es sechzig, bei der anderen vielleicht dreihundertundsechzig sein. Aber jede Uhr braucht zwei unbedingt notwendige Teile: Einen Antrieb und eine Hemmung. Der Antrieb, ein Gewicht oder eine Feder, setzt das Werk in Gang: die Hemmung regelt es und verhindert das ziellose Abschnurren. Ohne Antrieb ist eine Uhr ebensowenig wie ohne Hemmung denkbar. [] Auch der Mensch, namentlich der politische Mensch, und ganz besonders der revolutionäre Mensch bedarf dieser beiden Elemente. Auf der einen Seite muß er den Antrieb des Temperaments, des Herzens, der Phantasie haben, damit er überhaupt in Bewegung und in Wallung gerät, damit er sich Ziele setzen und Zielen nachstreben kann; aber ebenso braucht er die Hemmung der Ueberlegung, des Nachdenkens, des Verstandes. Er braucht sie, um sich über sich selbst und über seine Umwelt keiner Täuschung hinzugeben, um seine Macht und die ihm entgegenstehenden Gegenkräfte richtig abzuschätzen. Hat ein Einzelmensch oder eine Klasse keine Hemmungen des Verstandes oder des Gewissens, dann irrt sie ins Planlose, vielleicht sogar ins Verbrecherische ab. Das Eine ist für die Menschheit ebenso gefährlich wie das Andere. Menschen, die nur Hemmungen haben, sind reaktionär, kleben am Alten; Menschen, die nur Antrieb fühlen, sind lärmende, aber wertlose Zeitgenossen Nur dort, wo in rechter Mischung Antrieb und Hemmungen vereint sind, kommt die Sicherheit des stetigen Fortschritts heraus, die der Einzelne wie die Gesamtheit brauchen. [] Vorwärts Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer & Co., Berlin SW. 68, Lindenstr. 3.
Published:ca. 1919