London und was nun?

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Karl Schmid hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Carlo umbenannt. LONDON [] und was nun? [] Von Staatsrat Prof. Dr. Karl Schmid, Tübingen [] Die meisten der Menschen unseres Landes, die überhaupt noch über politische Geschehnisse nachdenken...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Parteivorstand, Schmid, Carlo (Karl), Hannoversche Presse, Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Hannover
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 12.1947 - 02.1948
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/D8065BFC-12CF-47E9-85DC-D2F7132956CF
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Karl Schmid hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Carlo umbenannt. LONDON [] und was nun? [] Von Staatsrat Prof. Dr. Karl Schmid, Tübingen [] Die meisten der Menschen unseres Landes, die überhaupt noch über politische Geschehnisse nachdenken mögen, haben die Zusammenkunft der Außenminister der vier Besatzungsmächte in London als eine Konferenz betrachtet, deren Ziel die Feststellung der Grundzüge des Friedensvertrages für Deutschland sei, sie irrten sich. Diese Außenministerkonferenz ist von vornherein nichts anderes gewesen als der letzte der bisherigen Versuche, unter den Besatzungsmächten eine Einigung über eine Deutschland gegenüber zu treibende gemeinsame Politik herbeizuführen. Versuche dieser Art sind schon mehrere unternommen worden; einige Male konnte man sich sogar einigen, wie in Jalta und in Potsdam - um allerdings nach kurzer Zeit feststellen zu müssen, daß jeder der Partner unter den Einigungsformeln etwas anderes verstand und daß gewisse Klauseln sich angesichts gewisser Fakten als undurchführbar oder ruinös für ihre Urheber erwiesen. Die Konferenz von Moskau war der erste Versuch, unbeschwert von der Vogel-friß-oder-stirb-Situation gewisser Epochen des Krieges und unbelastet von der Siegespsychose der ersten Nachkriegszeit die Grundlinien einer allen vier Besatzungsmächten gemeinsamen Deutschlandpolitik zu finden, er scheiterte. Die Londoner Konferenz, die es besser machen sollte, ist auf unbestimmte Zeit vertagt worden. Den Ungeduldigen, die meinen sollten, die Einigung von vier Besatzungsmächtenüber eine gemeinsame Besatzungspolitik sei ein zu geringes Thema für eine Konferenz, für die der [] Anspruch erhoben wurde, Markstein einer Epoche der Nachkriegsgeschichte zu sein, die im Zeichen allgemeinsten Verlangens nach einem endgültigen Frieden steht, sind die folgenden Zeilen zugedacht. [] Der Gedanke, daß das endgültige Schicksal Deutschlands - mit allen seinen Rückwirkungen auf das Verhältnis der Sieger untereinander, auf dritte Staaten und den künftigen Lauf der Dinge überhaupt - ohne aktive Beteiligung eines politisch organisierten und damit handlungs- und verpflichtungsfähigen deutschen Volkes einseitig durch die Sieger festgestellt werden könnte - etwa so wie man dem Verbrecher das Urteil spricht - hat dem Angriff der allmählich erwachenden politischen Vernunft nicht standhalten können; er kann wohl als aufgegeben gelten. Was würde eintreten, wenn man ihn verwirklicht hätte? Es würde geschehen, daß das deutsche Volk weder rechtlich und moralisch verpflichtet wäre, das ihm oktroyierte Friedensstatut zu achten, noch von seinem Interesse aus Veranlassung hätte, es als endgültiges Fundament für den Aufbau seiner Zukunft zu betrachten. Seine Nutznießer würden die kommenden Jahrzehnte damit verbringen müssen, den Gendarmen zu spielen - ein mühseliges, aufwendiges und wenig aussichtsreiches Geschäft! Es müßte notwendig alle ihre politischen Energien auf Gestriges konzentrieren und damit auf das Abstellgeleise schieben; sie würden damit sicherlich zu einer Politik, die die Zukunft ins Auge faßt, unfähig werden. Dazuhin müßte man damit rechnen, daß die eine oder andere Macht bei ihrem Wettbewerb mit anderen, einst verbündeten Mächten auf den Gedanken kommen könnte, ihr eigenes Potential durch das Deutschland verbliebene zu vergrößern, indem sie sich den [] Deutschen als den selbstlosen Helfer vorstellt, der ihnen wieder zu Ehre und nationaler Größe verhilft, die "Habgier und Imperialismus der anderen" ihnen vorenthielten. Es könnte - bedauerlicherweise - immerhin sein, daß ein zu tief gedemütigtes deutsches Volk sich auf ein solches Spiel einließe. [] Es gibt eine alte Regel - Staatsmännern politischerer Jahrhunderte war sie immer gegenwärtig - die besagt, daß ein Sieger, der nicht die Kraft oder den Willen hat, sich das besiegte Volk einzustücken und zu assimilieren, niemanden nötiger braucht, um seinen Sieg fruchtbar machen zu können, als den Besiegten und dessen Mitarbeit am neuen Stande der Dinge, und zwar eine Mitarbeit aus eigenem Interesse mag dieses im Einzelfalle woher auch immer bestimmt sein. Darum haben sich diese Staatsmänner, auch den Militärs gegenüber - die überall und zu allen Zeiten vor dem politisch so törichten Ideal des totalen Sieges nicht lassen konnten - immer bemüht, den Besiegten "in Verfassung" und lebensfähig zu erhalten. Denn nur wenn dieser in der Lage ist, die durch seine Niederlage geschaffene Situation zu akzeptieren - und sei es nur als das kleinere Uebel -, wird er am Ausbau der durch sie geschaffenen neuen Verhältnisse mitwirken können; und nur dort, wo dies geschieht, hat der Sieger etwas von seinem Siege. [] Man hat den Eindruck, daß diese alte Erkenntnis sich auch bei den Siegern dieses Krieges langsam Bahn bricht und daß sie sich um ein Deutschland bemühen, das imstande sein könnte, mit ihnen einen regulären Friedensvertrag abzuschließen. Das Leidige ist, daß sie sich offenbar von der Art und Weise, wie dieses Deutschland auszusehen hätte, und wer es repräsentieren, d. h. vergegenwärtigen könnte, sehr verschiedene Vorstellungen machen. Ein verhandlungs- und vertragsfähiges Deutschland - ja auch ein Deutschland, das Ratschläge erteilen oder warnen könnte - wird aber erst dann in Erscheinung treten können, wenn zumindest die Besatzungsmächte sich darüber geeinigt haben, welcherart Deutschland sie anerkennen wollen, was wiederum die vorgängige Einigung über die Deutschland gegenüber einzuschlagende Besatzungspolitik voraussetzt. Ehe diese nicht hergestellt ist, kann auch unter den Siegern selbst nicht über eine Friedensregelung verhandelt werden. Aus diesem Grunde ist es durchaus folgerichtig gewesen, daß die bisherigen Konferenzen sich darauf beschränkt haben, eine einheitliche Besatzungspolitik der Alliierten zustande zu bringen. [] Nachdem nun die Londoner Konferenz diese Einigung nicht gebracht hat und auf unbestimmte Zeit vertagt werden mußte, wird Deutschland weiter unter der Herrschaft des Zwielichtes und der Vorläufigkeit leben müssen - eines Provisoriums übrigens, das so viele Formen und Inhalte angenommen hat, als es Zonen und Besatzungsmächte gibt. Alle Kundigen sind sich aber darüber einig, daß es in der bisherigen Gestalt nicht fortgeführt werden kann, wenn anders nicht die Wirtschaft und die administrative Ordnung in Deutschland zugrunde gerichtet werden sollen, woran niemand ein Interesse haben kann. Deren Ruin kann aber nur dadurch verhindert werden, daß man das Provisorium vernünftig organisiert; dies kann aber wiederum nur so geschehen, daß entweder die Besatzungsmächte alle Befugnisse und damit alle, auch die technisch-administrative Verantwortung auf sich nehmen; oder so, daß die Befugnisse der Besatzungsbehörden auf echte politische Kontrolle reduziert und zu denen der deutschen Behörden in ein vernünftiges und berechenbares Verhältnis gebracht werden. Dazuhin muß das Besatzungsregime überhaupt verrechtsstaatlicht werden, mit Wirkung nicht nur für die Länder als solche, sondern auch für den einzelnen Deutschen. Aber auch das müßte ohne die für alle wünschbaren Auswirkungen bleiben, wenn nicht gleichzeitig die deutsche Wirtschaftseinheit hergestellt und die Leistungen des deutschen Volkes für die Durchführung der Besetzung genau begrenzt würden. Mit anderen Worten: unsere Antwort auf [] die Vertagung der Londoner Konferenz muß die Forderung eines Besatzungsstatuts sein, das für ganz Deutschland die Durchführung der Besatzungshoheit rechtsstaatlich und einheitlich macht. [] Dieses Statut müßte alles regieren, was innerhalb des Zeitraumes noch geschehen mag, der bis zur endgültigen Friedensregelung noch verstreichen wird - auch die Institutionen, die durch die Gewalt der Verhältnisse etwa auf einzelne Zonen beschränkt bleiben müßten, wie z. B. der Wirtschaftsrat. Und selbst wenn es einmal gewissen Besatzungsmächten als nützlich oder notwendig erscheinen sollte, diese Einrichtung nach der administrativen oder legislativen Seite auszuweiten, müßten diese Schritte in Anwendung des Besatzungsstatuts getan werden, sie wären dann als Teilstücke der Maßnahmen zu betrachten, die für die einstweilige Organisation des Provisoriums getroffen werden mußten. [] Mit einem vernünftigen Besatzungsstatut werden wir die Zeit überbrücken können, die bis zum Friedensschluß und damit bis zur Wiederherstellung deutscher Selbstregierung verstreichen wird; damit erübrigen sich alle besorgten und profitlichen Spekulationen, ob deutscherseits die Errichtung eines Oststaates oder eines Weststaates empfohlen oder gar gefordert werden sollte. Dazu wäre übrigens noch folgendes Grundsätzliche zu sagen: [] Solange es eine aus freier Entfaltung der Volkssouveränität hervorgegangene politische Organisation und Vertretung Deutschlands nicht gibt, können politische Entscheidungen mit unmittelbarer oder auch nur präjudizierender Wirkung für Deutschland nur von den Besatzungsmächten ausgehen, denn solange die deutsche Volkssouveränität in ihrer Entfaltung gehemmt ist, ruht die oberste Gewalt bei denen, die sich das Recht zuordnen konnten, sie zu hemmen, und sei es auch nur via facti. Oberste Gewalt ist aber identisch mit dem Monopol auf das Recht zu originären, d. h. nicht weiter abgeleiteten Entscheidungen, und diese sind es, die den Bereich des Politischen ausmachen. Diese oberste Gewalt kann mit denen, die ihr Objekt sind, nicht geteilt werden; sie ist "une et indivisible" als Fremdherrschaft so gut wie als Volkssouveränität. Die Kompetenz der bisher in Deutschland bestehenden und mit Hoheitsrechten ausgestatteten Organe beschränkt sich territorial und materiell auf die einzelnen Länder und die einzelnen Zonen; es ist ihnen damit von vornherein alles verwehrt, was sich, wenn auch nur in der Rückwirkung, gestaltend oder präjudizierend auf das Ganze auswirken könnte - ganz abgesehen davon, daß sie ja unter der Kontrolle der jeweiligen Besatzungsmächte stehen und deren "Ja" oder "Nein" die eigentliche konstitutive Entscheidung darstellt. Das bedeutet aber nicht weniger, als daß unsere Länder- und Zonenorgane (Parlamente so gut wie Regierungen) heute nichts anderes sind als [] heteronome administrative Körperschaften, woraus sich a priori ergibt, daß auch die Gesamtheit dieser Organe keine eigenständige politische Vertretung Deutschlands sein kann. [] Eine echte politische Vertretung Deutschlands wird es erst geben können, wenn einmal eine deutsche Republik in Erscheinung treten kann; dies wird erst dann möglich sein, wenn die Sieger die von ihnen auferlegten Einschränkungen der in einem Zeitalter, das die Demokratie universell und prinzipiell zum Gesetze erhebt, dem deutschen Volke wie jedem anderen Volke originär zustehenden Souveränität weggenommen haben werden, und wenn dann dieses deutsche Volk sich durch eine Nationalversammlung seine Staatsform gegeben haben wird (die ich mir so föderalistisch, als mit dem Gesamtinteresse vereinbar ist, wünsche). Es wird also erst möglich sein, wenn die Besatzungsmächte sich in dem oben besprochenen Sinne geeinigt haben werden. [] Theoretisch wäre freilich denkbar, daß z. B. die Westmächte das Volk ihrer drei Zonen von den Servituten befreien, die auf der Souveränität des deutschen Volkes liegen; es könnte sich dann auf dem Gebiet dieser drei Zonen etwas wie ein deutscher Staat konstituieren. Dasselbe wäre für die Ostzone möglich. Ein solcher Schritt wäre verhängnisvoll. Er würde nichts anderes bedeuten, als den Zuschlag von Teilen Deutschlands zu dem Machtbereich des einen oder des anderen Blockes, also eine Etappe im Aufmarsch der beiden Giganten - mit der Wirkung eines tödlichen Risses nicht nur durch Deutschland, sondern auch durch das politische Gefüge der Welt. Ein solcher Schritt würde aber noch ein Weiteres im Gefolge haben: jede der beiden Hälften Deutschlands würde entweder zur anderen streben oder die andere zu sich heranholen wollen, je nachdem, wo ihr der Kern des echten Deutschlands zu liegen schiene. In jeder Hälfte würde das Volk also entweder sich gegen die Besatzungsmacht auflehnen, die den "Anschluß" der anderen oder an die andere Hälfte verhindert, oder "ihre" Besatzungsmacht dafür zu gewinnen suchen, diesen Anschluß durch Einsatz ihrer politischen Macht herbeizuführen. Die Folgen beider Eventualitäten wären gleich verhängnisvoll. [] Denkbar wäre auch der Fall, daß die eine oder andere Besatzungsmacht im Namen volltönender Grundsätze das Volk eines Landes oder einer Zone für "souverän" erklärt und mit Hilfe deutscher Interessenten eigene Staaten errichten läßt, um Deutschland zu zerstückeln. Deutsche, die dabei mithülfen, würden von ihren Landsleuten als Quislinge angesehen werden; das Schicksal der Quislinge und dessen, was sie ins Werk gesetzt haben, ist aber bisher auf der ganzen Welt das gleiche gewesen. Die Gefahren eines neu sich bildenden Einheitsnationalismus brauchen hier nicht besonders dargestellt zu werden, so wenig wie die ökonomische Unmöglichkeit einer Zerstückelung Deutschlands. [] Wahrscheinlich kann man über manche Einzelheiten des hier dargestellten Stoffes anders denken als der Verfasser; über die Grundtatsachen werden aber die verantwortungsbewußten Männer auf beiden Seiten, die es mit den künftigen Vereinigten Staaten von Europa gut meinen, kaum verschiedener Meinung sein können. [] Herausgeber: Vorstand der SPD. Druck: Hannoversche Presse, Druck- und Verlagsgesellschaft m. b. H., Hannover
Published:12.1947 - 02.1948