Liebe Wählerin! Lieber Wähler!

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Liebe Wählerin! [] Lieber Wähler! [] Viel Propagandamaterial wird Ihnen in diesen Tagen vor der Wahl zum ersten deutschen Bundesparlament in die Hand gegeben. Ich möchte Ihnen als Kandidat im Hamburger Wahlkreis 1 einiges über mich und meine...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Blachstein, Peter, Auerdruck GmbH, Hamburg
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 14.08.1949
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/5AD72B94-40F8-4590-B504-0DCC906DC55C
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Liebe Wählerin! [] Lieber Wähler! [] Viel Propagandamaterial wird Ihnen in diesen Tagen vor der Wahl zum ersten deutschen Bundesparlament in die Hand gegeben. Ich möchte Ihnen als Kandidat im Hamburger Wahlkreis 1 einiges über mich und meine Auffassungen zu den Entscheidungen mitteilen, die das westdeutsche Parlament 2u treffen haben wird. [] Ich bitte Sie, mir ein wenig Ihrer Zeit zu schenken und diesen Brief zu lesen. Unser Wahlsystem erlaubt es Ihnen, zwischen verschiedenen Kandidaten zu wählen, und durch einige Kenntnis über den Kandidaten mag die Entscheidung erleichtert werden. [] Ich meine, es ist gut, daß die Wähler eine Person und nicht eine Liste wählen. Das Persönlichkeitswahlrecht bietet eine Auflockerung der starren Parteilisten und gibt den Wählern größere Freiheit, sich zu entscheiden. Es dürften auf diese Weise auch klare Mehrheitsverhältnisse im Parlament entstehen, die stabile Regierungen ermöglichen. Schließlich repräsentiert der Abgeordnete eines Wahlkreises nicht nur seine Partei, sondern die ganze Bevölkerung des Kreises. Es sollte möglichst enge Verbindung zwischen den Abgeordneten und dem Wähler nicht nur zur Wahl, sondern ständig bestehen, damit die politischen Entscheidungen unter Teilnahme möglichst breiter Schichten der Bevölkerung und aus ihrem Geiste erfolgen können. [] Nun erlauben Sie mir bitte einige persönliche Daten, die für Sie vielleicht von Interesse sind. Ich bin 1911 in Dresden geboren und habe dort die Volksschule und das Gymnasium besucht. Durch Kindheitserlebnisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre und durch die Jugendbewegung entstand ein frühes politisches Interesse und der Wunsch nach europäischer Verständigung und Frieden. Nicht Not, sondern der Protest gegen soziale Ungerechtigkeit führten mich über die sozialistische Jugend zur Sozialdemokratischen Partei. Die Lehrjahre und ein als Angestellter selbst verdientes Studium gaben mir Einblick in das praktische Leben, Kenntnisse der Literatur, Geschichte und Wirtschaft als Grundlage für der Beruf eines Journalisten. Die eigene Erfahrung der Schwierigkeiten der Ausbildung und des Studiums neben dem Broterwerb haben mich in der alten demokratischen Forderung bestärkt, daß es Aufgabe der Gesellschaft ist, jedem Jugendlichen die Ausbildung angedeihen zu lassen, die seiner geistigen und handwerklichen Befähigung entspricht. Jede Befähigung sollte - unabhängig von den wirtschaftlichen und häuslichen Verhältnissen - gefördert und genutzt werden. Gleiche Aufstiegsmöglichkeiten für alle Jungen und Mädchen sind eine wichtige Voraussetzung der Demokratie, wobei die Verbesserung der Volksschule besonders bedeutungsvoll ist. [] Unheilvoll zog die Weltkrise 1930 auch über Deutschland und führte den Nationalsozialismus an die Macht. Unsere damalige nicht sozialistische Staats- und Wirtschaftsführung war unfähig, das Massenelend der sechs Millionen Arbeitslosen zu beseitigen. Die Toten des Krieges, die Zerstückelung der Heimat, das Elend unseres Volkes, die Not der Flüchtlinge, die gewaltsame Abtrennung der Ostgebiete sind der Preis, den wir für den Irrtum des Jahres 1933 bezahlen müssen. Aber wir sollten daraus auch gelernt haben, daß die Freiheit verteidigt werden muß und der schlimmste Feind der Demokratie ihre eigene Schwäche und Schlappheit sein kann. Es darf kein Zurück geben zu einer Wirtschaft, die Millionen die Existenz nimmt, und zu einer Politik, die vor den roten oder braunen Feinden der Freiheit kapituliert. [] Eine kleine Schar entschlossener Demokraten und Sozialisten nahm den Kampf gegen das Dritte Reich auf. Wer wußte, daß Hitler Krieg bedeutete und Krieg die Niederlage Deutschlands, der mußte den Kampf wagen. Viele haben ihn mit dem Leben bezahlen müssen. Doch das Gewissen ließ keinen anderen Ausweg. Es mußte versucht werden, Europa den Krieg und Deutschland die Niederlage zu ersparen. [] Wie viele meiner illegalen Kameraden wanderte ich bald den Weg vom SA-Keller durch Gefängnisse ins Konzentrationslager. Es war eine grauenhafte Zeit. Aber wäre es um diese Opfer noch einmal, es gäbe auch heute keinen anderen Weg. Politik verlangt den Einsatz der ganzen Person, und wer dazu nicht bereit ist, soll davon lassen. Leider hat der Zusammenbruch des Dritten Reiches kein Ende des Terrors in der deutschen Politik gebracht. In Berlin finden Menschenjagden statt, in der Ostzone sind nicht weniger Menschen, sondern mehr als zur Zeit Hitlers im Konzentrationslager. Der Kampf um Wahrheit, Recht und Freiheit geht weiter, und auch bei uns wird die persönliche und staatsbürgerliche Freiheit nur erhalten bleiben, wenn wir Politiker haben, die dafür einzustehen bereit sind. [] Ende 1934 wurde ich aus dem KZ entlassen und konnte mich einer neuen Verhaftung 1935 durch die Flucht ins Ausland entziehen. Wir waren im Ausland nicht gern gesehen. Als Botenjunge, Gärtner, Übersetzer, Deutschlehrer und wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an der Universität Upsala habe ich gearbeitet. Der Blick blieb auf Deutschland gerichtet, die Gedanken auf den Tag der Rückkehr. So qualvoll lang die Trennung von der Heimat war, brachte sie die Möglichkeit eines eingehenden Studiums der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse verschiedener Länder. [] Mit amerikanischen und schwedischen Gewerkschaften ging es nach Kriegsende an die Organisation von Lebensmittelhilfssendungen nach dem hungernden Deutschland, und als die Möglichkeit der Rückkehr gegeben war, erfolgte die Heimreise. [] Hamburg ist eine weltoffene Stadt, die jedem Aufgaben stellt, der mitarbeiten will. Wenn mich die Hamburger Sozialdemokraten als Kandidaten zum Bundesparlament erwählt haben, so ist dieses Vertrauen eine Verpflichtung gegenüber der ganzen Bevölkerung. Wie ich als Journalist meine höchste Aufgabe darin sehe, der Wahrheit zu dienen, meine ich, daß es auch unser politisches Leben anziehender für viele machen würde, wenn die Politiker ehrlicher wären. Wir haben viel große Worte und fette Phrasen, aber wenig echte Taten. [] Doch dürfen die entscheidenden Taten nicht mehr lange auf sich warten lassen, da die Not groß ist. Wohnungen müssen gebaut werden, was außerhalb Hamburgs recht vernachlässigt wurde! Flüchtlinge warten auf Arbeit und menschliche Unterkünfte. Die Rentner können nur die Hälfte von dem verbrauchen, was sie 1936 hatten. Eine unsoziale Wirtschaftspolitik hat 1,3 Millionen Menschen arbeitslos gemacht und den Arbeitenden ständig die Kaufkraft des Lohnes durch Preiserhöhungen gesenkt. Deutschland hat den Krieg verloren, aber ein Teil möchte, wie bisher, die Lasten nur den Schwächsten aufbürden. Wir könnten ein Beispiel sozialer Gesinnung geben! [] Als Sozialdemokraten möchten wir es tun. Der sozialistische Weg sichert durch sinnvolle Planung der Wirtschaft allen volle Beschäftigung und bei niedrigen Preisen den Arbeitenden besseren Lohn. Westdeutschland ist die Hoffnung Ostdeutschlands und soll durch wirtschaftlichen Aufbau und soziale Leistungen allen eine Heimat geben und zum Vorbild für die unterdrückte Ostzone werden. Die Einheit Deutschlands wiederherzustellen, ist unsere vornehmste Aufgabe. Doch nur, wenn Überall gleiches Recht und politische und persönliche Freiheit garantiert sind, kann die Einheit sich segensreich auswirken. Die Berliner Bevölkerung hat unter der Führung der SPD gezeigt, daß es sich lohnt, die eigenen Rechte zu verteidigen. Der beharrliche Widerstand der SPD gegen ein weiteres Vordringen der Sowjets in Deutschland ist die beste Garantie für die Wiedererlangung unserer nationalen Freiheit und Selbstbestimmung. Unser leidenschaftliches Bekenntnis zu Europa, zur Zusammenarbeit freier Völker, setzt die Freiheit und Gleichberechtigung Deutschlands voraus. [] Wie unser Volk sein Haus neu baut, das wird in den nächsten Jahren von dem Parlament entschieden, das Sie am 14. August wählen. [] Durch meinen Brief wollte ich Ihnen meine Auflassungen zu einigen Fragen näherbringen, und ich würde mich freuen, Ihre Zustimmung gewonnen zu haben. In allen Stadtteilen werden Versammlungen stattfinden, wo ich zu den Wählern sprechen werde und auch Gelegenheit zu Anfragen und zur Aussprache sein wird. Ich würde mich freuen, Sie dort begrüßen zu dürfen. [] Für heute mit verbindlichem Gruß [] Ihr [] Peter Blachstein [] Wahlkreis I, Kandidat der SPD: Peter Blachstein [] Stadtteile: Lokstedt, Schnelsen, Niendorf, Eidelstedt, Stellingen, Eimsbüttel und Nordteil von Altona. [] Herausgeber: Peter Blachstein, Hamburg 36, Gr. Theaterstr. 44 [] Druck: AUERDRUCK GmbH., EP 36, Hamburg 1, Pressehaus
Published:14.08.1949