Massen heraus!

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; [!] = sic!; [?] = vermutete Leseart Massen heraus! [] Arbeiter und Angestellte! Männer und Frauen! [] Eine Angelegenheit von höchster Bedeutung ist es, auf die wir Euch mit diesen Zeilen hinweisen wollen, nämlich Euer Recht, Euch beruflich zu...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: N.N., Buchdruckerei und Verlagsanstalt Auer & Co., Hamburg / Wilh. Sievert, Altona
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 13.01.1914
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/9763B225-D390-4C8C-9581-D84D578F3E1B
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; [!] = sic!; [?] = vermutete Leseart Massen heraus! [] Arbeiter und Angestellte! Männer und Frauen! [] Eine Angelegenheit von höchster Bedeutung ist es, auf die wir Euch mit diesen Zeilen hinweisen wollen, nämlich Euer Recht, Euch beruflich zu vereinigen und Eure Berufsinteressen wahrzunehmen. In allen nicht vom Kapitalismus beeinflußten Kreisen sieht man heute ein, daß dies Recht, Koalitionsrecht genannt, in seinem Geltungsbereich unzulänglich, in Einzelheiten ungerecht, als Ganzes gründlich verbesserungsbedürftig ist. [] Die in der deutschen Gesetzgebung maßgebenden Kreise denken freilich anders darüber. Denen ist selbst dies mangelhafte Koalitionsrecht schon lange ein Dorn im Auge. Von der Zeit an, wo die Arbeiter versuchten, dies Recht für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen nutzbar zu machen, begegnen wir den nie ruhenden Bestrebungen der Behörden und Unternehmer, das Koalitionsrecht zu beschneiden, einzuschränken, mit Fallgruben zu umgeben, um den Arbeitern seinen Gebrauch zu verleiden und es zu einem leeren Schaustück, zu einer wertlosen Attrappe herabzumindern. Das Koalitionsrecht bedrohte ja den Unternehmerprofit: Kann es aber für die in Deutschland tonangebenden Kreise etwas Heiligeres geben, als diesen Profit zu schützen, als dem Kapital in allen Dingen dienstbar und gefällig zu sein? [] Die helle Zornesröte muß jedem Arbeiter ins Gesicht steigen, wenn er sich die lange Reihe der Versuche vergegenwärtigt, die die Regierung auf Anstiften der kapitalistischen Scharfmacher anstellte, um das Koalitionsrecht zu meucheln. Kaum hatten die Arbeiter begonnen, Gewerkschaften zu bilden und sich den gewerkschaftlichen Aufgaben zu widmen, als schon die Reichsregierung - im Jahre 1873, zur gleichen Zeit als das Kapital die blutige Goldernte der Gründerjahre in die Scheuern stopfte - mit dem Ansinnen vor den Reichstag trat, einer weiteren ausnahmerechtlichen Verhunzung des § 153 der Gewerbeordnung zuzustimmen, der ohnehin schon, wie wir noch nachweisen werden, den Charakter eines Ausnahmegesetzes gegen die Arbeiter trägt. Wohl lehnte der Reichstag diese Zumutung ab, aber was man erreichen wollte, [] die Knebelung der Berufsvereine [] das erreichte man bald, ohne Aenderung der gesetzlichen Grundlagen, durch jene Handhabung der Polizei und Justiz, die geschichtlich mit dem Namen des Oberstaatsanwalts Tessendorf verbunden ist. Eine von obenher geforderte und geförderte Niederknüttelung der Gewerkschaften begann, ohne das die an der Gewalt sitzenden bürgerlichen Parteien auch nur den leisesten Einspruch gegen diese Rechtsschändung erhoben. Was sich von den Organisationen aus diesem Gemetzel rettete, das fiel nachher dem Sozialistengesetze zum Opfer, das, entgegen den bündigsten Erklärungen seines Schöpfers und der Vertreter der Mehrheitsparteien, sogleich mit den allermeisten [?] Berufsvereinen aufräumte und wie eine Dampfwalze über die junge Arbeiterbewegung ging. [] Und weiter: der Streikerlaß des Polizeiministers v. Puttkamer im Jahre 1886, die Berlepschen Vorschläge zur Verschärfung der Strafbestimmungen wegen Streikvergehen vom Jahre 1890 und schließlich die vielberufene Zuchthausvorlage - das alles waren sorgfältig vorbereitete Vorstöße gegen das Koalitionsrecht. Nebenher liefen nach den gleichen Ziele strebende Maßnahmen der einzelstaatlichen Regierungen und mit zäher Ausdauer verfolgte Versuche der Polizei, das Koalitionsrecht durch das Verbot des Streikpostenstehens gerade dann praktisch aufzuheben, wenn es die Arbeiter am nötigsten brauchen. Da sich das Reichsgericht nicht dazu verstand, diesen Rechtsraub gutzuheißen, so ist seither der ganze Eifer der Kamarilla der Scharfmacher darauf gerichtet, das Streikpostenstehen gesetzlich zu verbieten, wobei sie sich der verständnisvollen Unterstützung der Junkerkamarilla erfreut. [] Junker und Scharfmacher, Bund der Landwirte und Zentralverband der Industriellen, die Kumpane des Zollwuchers und der Plünderung des Volkes bei der Finanzreform vom Jahre 1909, stehen auch jetzt zusammen, um der Arbeiterschaft ihr wichtigstes Recht zu entreißen! [] Diesen beiden Gruppen, die sicherlich die Sammelpunkte der giftigsten Arbeiterfeinde bilden, hat sich kürzlich die Organisation der zünftlerischen Arbeiterhasser, der Reichs-Mittelstandsverband, angeschlossen. Alle drei Organisationen bilden ein Kartell, das zu seiner Hauptaufgabe auch den Kampf gegen das Koalitionsrecht gesetzt hat. [] Aber nicht nur dies würdige Trio bläst zum Sturm gegen der Arbeiter Grundrecht, auch der Hansabund, der vorgebliche "Kämpfer gegen die Reaktion", der zeitweilig sogar die Arbeiterpresse seiner Propaganda dienstbar machen wollte, ist für einen "Schutz der Arbeitswilligen" auf den Plan getreten! Selbst in den Reihen der "Fortschrittlichen Volkspartei" sind Stimmen laut geworden, daß man über einen "paritätischen und streng gerechten Schutz der Arbeitswilligen" mit sich reden ließe! Mögen sich solche Stimmen hier auch nur vereinzelt finden, sie beweisen doch: [] die Feinde des Koalitionsrechts rüsten zu einem neuen Ansturm! [] Und wir haben diesen Ansturm ernster zu nehmen als alle gleichen Versuche des letzten Jahrzehnts! Seit dem blamablen Abfall der Konservativen und der Reichspartei im Jahre 1912 bei der Abstimmung im Reichstage über den Antrag, das Streikpostenstehen zu verbieten, hat man unablässig unter der Oberfläche gewühlt und konspiriert, und mancher ist umgefallen, der damals gegen die Verschlechterung des Koalitionsrechts war. [] All diesen Wühlereien gegenüber bietet nur die treue und furchtlose Hüterin der Volksrechte, [] die Sozialdemokratie, [] die Gewähr entschlossenen und unbeugsamen Widerstandes. Wie sie zu jeder Zeit ihre ganze Kraft für Recht und Freiheit einsetzte, so wird sie sich auch dem neuen Ansturm gegen das Koalitionsrecht wuchtig entgegenstellen. [] Der jetzige Ansturm wird einen bespiellos heftigen Kampf entfesseln; [] die Arbeiterfeinde kämpfen in dem Bewußtsein: Jetzt oder nie! Sie wissen: verlieren sie diesen großzügig vorbereiteten Feldzug, so bleibt ihnen keine Hoffnung mehr, die immer größer und stärker werdende Arbeiterbewegung zurückzuwerfen. [] Aber wir wollen ihren Angriff nicht abwarten, wir wollen, noch bevor sie mit ihren Vorbereitungen fertig sind, [] den Kampf für ein wirklich freies und allgemeines Koalitionsrecht eröffnen! [] Für diesen Kampf rufen wir Euch, Arbeiter und Angestellte, Männer und Frauen, rufen wir die Massen aller Erwerbstätigen heraus! [] Es ist so oft und so viel von der "Erhaltung des Koalitionsrechts" gesprochen und geschrieben worden, daß die Notwendigkeit, das bestehende Koalitionsrecht zu erweitern und zu säubern, darüber entschieden zu kurz gekommen ist. Und doch ergibt sich diese Notwendigkeit schon aus einer nur kurzen Aufzählung der Erwerbstätigen, die das Koalitionsrecht heute überhaupt noch nicht besitzen. Das sind zunächst die Millionen der Arbeiter in den landwirtschaftlichen und forstwirtschaftlichen Betrieben, das große Heer der Hausangestellten und die Schiffsleute bei der Binnenschiffahrt, die nach dem preußischen Gesetze vom 21. April 1854 mit Geldbuße oder Haft bestraft werden, wenn sie "hartnäckigen Ungehorsam oder Widerspenstigkeit" zeigen oder "ohne gesetzmäßige Ursache den Dienst versagen oder verlassen". Die Land- und Waldarbeiter und die Schiffsleute haben sogar, wenn sie "die Arbeitgeber oder die Obrigkeit zu gewissen Handlungen und Zugeständnissen dadurch zu bestimmen suchen, daß sie die Einstellung der Arbeit... verabreden oder zu einer solchen Verabredung auffordern, Gefängnis bis zu einem Jahre verwirkt". [] Diese Millionen von Arbeitern und Arbeiterinnen haben also heute noch kein gesetzliches Mittel, gemeinsam eine Verbesserung, ihrer Arbeitsbedingungen anzustreben. Was das praktisch bedeutet, sehen wir an den Zuständen, unter denen diese Parias der Arbeiterschaft leben und leiden. Elende Bezahlung, unmenschlich lange Arbeitszeit, Behausungen, die nach einem Worte Wilhelms II. schlechter als die Schweineställe sind, und viehische Behandlung: das ist das Los der Landarbeiter - ihr natürliches Los; denn wer kümmert sich um ihr Wohlergehen, wenn sie selbst wehrlos sind? Man klagt über die Landflucht und die Entblößung des Landes von brauchbaren Arbeitskräften, man veranstaltetet Preisausschreiben nach dem besten Mittel zur Milderung der Leutenot: man gebe den Landarbeitern durch das Koalitionsrecht die Möglichkeit, ihre Lebensbedingungen verbessern zu können, dann werden sicherlich nicht mehr so große Scharen in die Städte flüchten, wie das heute geschieht! [] Neben diesen großen Gruppen entbehren die Arbeiter und Angestellten in den Staatsbetrieben, die nicht unter die Gewerbeordnung fallen, des Koalitionsrechts. Diesen nach vielen Hunderttausenden zählenden Erwerbstätigen bleibt kein anderer Weg zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, als der der alleruntertänigsten Petition, ein Zustand, der denn glücklich dazu geführt hat, in diesen hungrigen Uniformträgern einen Geist der Knechtseligkeit und Lakaienhaftigkeit zu züchten, der einen aufrechten Menschen übel werden lassen könnte. [] Neben dieser Erweiterung des Koalitionsrechts müssen wir seine Säuberung von ungerechten und ausnahmerechtlichen Bestimmungen fordern. [] Ein Ausnahmerecht bildet, der § 153 der Gewerbeordnung, der für Vergehen, die nach dem allgemeinen Strafrecht mit leichten Geldstrafen bedroht sind, Gefängnisstrafe androht, sobald diese Vergehen mit dem Koalitionswesen zusammenhängen. Was bei jedem andern Staatsbürger mit 15 oder 30 Mark Geldstrafe geahndet werden kann, trägt dem Arbeiter, der für sein Brot oder für seine Organisation kämpft, monatelange Gefängnishaft ein. Das ist das "freie Koalitionsrecht" von heute! [] Ein Ausnahmerecht liegt darin, daß wohl der Arbeiter bestraft wird, der seinen Arbeitsgenossen durch Drohung und dergleichen zu bestimmen sucht, der Organisation beizutreten, daß aber der Unternehmer straffrei bleibt, der durch Androhung der Entlassung den Arbeiter zwingt, der Organisation fernzubleiben oder sie zu verlassen. [] Der Zwang, der von Arbeitern ausgeht, wird mit Gefängnis bestraft; der Zwang, den der Unternehmer gegen Arbeiter ausübt, ist gesetzlich erlaubt! [] Man lamentiert über den Terrorismus der organisierten Arbeiter, der in allen Fällen seine schwere Sühne findet, aber von dem Terrorismus der Unternehmer, der straffei [!] bleibt, wissen diese Leute nichts zu vermelden! Denn er steht nicht in den Akten! [] Neben diesen brutalen ausnahmerechtlichen Bestimmungen, deren Beseitigung wir je und je fordern müssen, bleiben noch Unvollkommenheiten auszugleichen, die wir in diesen Zeilen unerwähnt lassen wollen. Nur auf eins sei hingewiesen: auf die Ausnahmebestimmungen für Juaendliche und Ausländer im Reichsvereinsgesetz, die jetzt allen Versicherungen der Regierungsvertreter entgegen auf die Gewerkschaften angewendet werden. [] Genug! Es bedarf keiner weiteren Worte, um die Notwendigkeit darzutun, unser heutiges Koalitionsrecht in freiheitlichem Sinne und im Sinne der Rechtsgleichheit auszugestalten. Für diese notwendige Ausgestaltung rufen wir Euch, Arbeiter und Angestellte, Männer und Frauen, auf den Plan! In einer Reihe [] großer öffentlicher Versammlungen [] soll diese Frage behandelt werden. Zeigt durch Eure Teilnahme, daß Ihr von der hohen Bedeutung des Koalitionsrechts durchdrungen und gewillt seid, nicht nur gegen die geplanten Verschlechterungen, sondern auch für die längst als notwendig erkannte und nachgewiesene Ausgestaltung zu kämpfen. [] Seid auch durchdrungen von der entscheidenden Bedeutung der kommenden Kämpfe und denkt daran: das Koalitionsrecht ist Euer Haupt- und Grundrecht. In Staat und Gemeinde thront und regiert der Geldsack; im Reich kommt die Wucht Eurer Stimmen nicht voll zur Geltung; die Türen der Verwaltung schließt man gegen Euch sorgfältig ab - darum [] wahrt und erweitert Euer Koalitionsrecht, die vornehmste Waffe im Kampfe gegen die Uebermacht des Kapitals! [] An den Versammlungstagen muß es wie Sturmesbrausen durch Eure Reihen gehen: [] Massen heraus! [] Versammlungen. [] Dienstag, 13. Januar 1914, abends 8 ½ Uhr: [] Für Altona [] im Lokale "Englischer Garten", Gr. Freiheit. [] Für Ottensen [] im Lokale "Carlsruhe", Am Felde 5. [] Tagesordnung: [] Der Kampf für ein wirklich freies Koalitionsrecht. [] Verlag: Wilh. Sievert in Altona. - Rotationsdruck: Hamburger Buchdruckerei und Verlagsanstalt Auer & Co. in Hamburg.
Published:13.01.1914