Amerikanische Gewerkschaftler sehen die Sowjet-Union

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Herkunft: SPD-Landesvorstand Bayern, Signatur 76 Amerikanische Gewerkschaftler sehen die Sowjet-Union. [] Im Oktober 1945 reiste eine Delegation von elf Mitgliedern des amerikanischen CIO (Verband der Industriegewerkschaften) auf Einladung de...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Schirmer, H., M. Beißwanger, Nürnberg
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 04.1946
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/B8F8B6FE-39E5-4E58-ACB2-6680E560101C
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Herkunft: SPD-Landesvorstand Bayern, Signatur 76 Amerikanische Gewerkschaftler sehen die Sowjet-Union. [] Im Oktober 1945 reiste eine Delegation von elf Mitgliedern des amerikanischen CIO (Verband der Industriegewerkschaften) auf Einladung des russischen Zentralrats des Gewerkschaftsbundes in die Sowjetunion. Nachstehend bringen wir einen Auszug aus dem Bericht der Delegation, den wir der "Neuen Zeitung" vom 5.4.1946 entnehmen: [] "Am 12. Oktober besuchten wir die großen Stalin-Automobilwerke in einer Vorstadt von Moskau. Dieses Werk, das eine Produktionskapazität von jährlich 100000 Lastwagen hat, wurde bei Ausbruch des Krieges auf die Rüstungsproduktion umgestellt, und als die Deutschen sich Moskau näherten, wurden 50 v.H. der Einrichtungen hinter den Ural verlagert, wo ein zweites,ähnliches Werk aufgebaut wurde. Löhne und Arbeitsbedingungen werden in Uebereinstimmung mit der Gewerkschaft festgesetzt. Im allgemeinen herrscht das System des Stücklohns vor. Etwa die Hälfte der Arbeitskräfte sind Frauen, die gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekommen. Die Arbeiter bekommen zwei Wochen bezahlten Urlaub (wer besonders anstrengende und harte Arbeit zu leisten hat, bekommt vier Wochen) und für je fünf Jahre Dienst im Werk weitere drei Tage. In dieser und in anderen Fabriken wird acht Stunden täglich gearbeitet, und zwar an sechs Tagen in der Woche, für die erste Ueberstunde gibt es anderthalbfachen, für die zweite doppelten Lohn. In Nachtschichten und bei gesundheitsschädigender Arbeit wird sieben Stunden gearbeitet. Vor dem Kriege betrug die Arbeitszeit sieben Stunden am Tag, während des Krieges stieg sie auf zehn Stunden und mehr. Der tatsächliche Nettolohn bleibt, wie uns gesagt wurde, derselbe wie im Kriege, obwohl die Arbeitszeit herabgesetzt worden ist. Der Werkleiter führte das auf die höhere Produktivität der Arbeiter, auf die besseren maschinellen Einrichtungen und Arbeitsverhältnisse und auf die [] geringere Anstrengung durch kürzere Arbeitszeit zurück. [] Am 13. Oktober besichtigte die Delegation die Krasny-Proletariat-Maschinenfabrik in Moskau. Der Leiter des Werkes, das jetzt Drehbänke herstellt, erzählte uns von dem Heroismus, den die Arbeiter während des Krieges gezeigt haben. Er berichtete, daß in einem einzigen Monat hundert Brandbomben auf das Werk gefallen seien, daß es wegen der Brennstoffknappheit in der Fabrik und bei den Arbeitern zu Hause bitter kalt und daß es um die Ernährung und Kleidung jämmerlich bestellt gewesen sei. Aber trotz all dieser Schwierigkeiten hätten die Arbeiter unermüdlich weitergeschafft, und die Produktion sei von Monat zu Monat gestiegen. [] Der Werkleiter berichtete, daß der Verdienst gleich geblieben sei, obwohl mit der Einstellung der Feindseligkeiten die Arbeitszeit verkürzt worden ist. Ein Getriebebeschneider erzählte uns, daß er seit 21 Jahren im Werk arbeite. Er sagte, seine Arbeit könne man in sechs Monaten lernen, und er verdiene 3000 Rubel im Monat. Der Getriebebeschneider ist nebenamtlich Herausgeber der Werkzeitung. [] Hier und in anderen Fabriken besichtigten die Delegierten die Fabrikklinik, wo die Arbeiter, wie überall sonst in der Sowjetunion, kostenlos ärztlich behandelt werden: die prophylaktische Abteilung, in der die Arbeiter, die überanstrengt sind, ärztliche Beobachtung oder eine besondere Diät brauchen, vorbeugend behandelt werden, den Kinderhort für die Kinder von arbeitenden Müttern, und ähnliche soziale Wohlfahrtseinrichtungen. [] Am 15. Oktober hörten die Delegierten einen Bericht über das sowjetische System des Sozialschutzes. Die Sozialversicherung wird ausschließlich aus den Beiträgen finanziert, die die Regierung von allen Unternehmungen, entsprechend der Zahl ihrer Arbeitskräfte, einzieht; die Arbeiter selber brauchen zu diesem Fonds aus ihren Einnahmen nichts beizusteuern. Die Verwaltung und Verteilung des Sozialversicherungsfonds ruht in den Händen der Gewerkschaften. [] Bis 1939 gehörte auch die Arbeitslosenversicherung zum System der Sozialversicherung; aber seit dem Verschwinden der Arbeitslosigkeit ist sie nicht mehr in Anspruch genommen worden, und die Fonds der Arbeitslosenunterstützung wurden für andere Zwecke verwertet. Wenn ein Arbeiter vorübergehend zur Müßigkeit gezwungen wird (durch ein Versagen der Maschinen, durch einen Umbau der Werkanlagen usw.), gilt in der ganzen Sowjetunion die Regel, daß er seinen Durchschnittslohn weiter bekommen muß, bis die Produktion wieder aufgenommen wird. [] Am 15. Oktober traf die Delegation mit dem Flugzeug in Leningrad ein und hatte kurz nach ihrer Ankunft eine Unterredung mit dem Bürgermeister dieser Stadt, Peter Popkow. Bürgermeister Popkow erzählte uns von der heldenhaften Verteidigung Leningrads durch seine Bevölkerung, die die Deutschen an den Toren ihrer Stadt zum Stehen brachte und sie während der langen Belagerung in Schach hielt. Die Bewohner hatten wenig oder überhaupt nichts zu essen, keinen Brennstoff und kein Wasser, und in dem ersten furchtbaren Winter starben 650000 Menschen an Hunger und Kälte. Bürgermeister Popkow erklärte, daß bis 1950, d. h. in 5 Jahren, über zwei Millionen Quadratkilometer Bodenfläche neu bebaut sein sollen." [] Am nächsten Tage sah die Delegation weitere Beweise für die bewunderungswürdigen Kriegsleistungen der Bevölkerung von Leningrad, zuerst in einer Ausstellung über die heldenhafte Verteidigung der Stadt und später in den Fabriken, die sie besichtigte. Auf der Ausstellung sahen wir Bilder und Beispiele von Vernichtung, Leiden und Tod und heroischen Widerstand, die uns einen starken Eindruck vermittelten. [] So weit der Bericht der amerikanischen Gewerkschaften. [] Verantw.: H. Schirmer. Druck: M. Beißwanger, beide in Nürnberg. Aufl.
Published:04.1946