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Offener Brief [] von unter dem Naziterror verfolgten Sozialdemokraten an die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. [] Dortmund, im Juni 1953 [] Werte Kameraden! Werte Genossen! [] Mit diesem Brief wenden wir uns in einer entscheidungsvollen Stunde an alle Sozialdemokraten, denen die Verwirklichung einer Welt der sozialen Gerechtigkeit Lebensinhalt und Lebensziel bedeutet. Mit ernster Besorgnis verfolgen wir eine Entwicklung, deren Auswirkungen für unser Volk nur katastrophale Folgen haben kann. [] Wir Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die wir uns trotz größter Gefahren für Leben und Eigentum dem Faschismus in den Weg stellten, leiten aus den in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern gebrachten Opfern das Recht und die Pflicht ab, uns in dieser ernsten Stunde an alle Sozialdemokraten zu wenden, sich mit ihrer ganzen Kraft für die Realisierung unserer in schwerster Zeit festgelegten programmatischen Grundsätze einzusetzen. [] Unser Parteivorstand stellte im PRAGER MANIFEST vom Januar 1934 sehr richtig fest: [] "Daß sie (die Arbeiterbewegung) den alten Staatsapparat nach dem ersten Weltkrieg fast unverändert übernahm, war der schwere historische Fehler, den die während des Krieges desorganisierte deutsche Arbeiterbewegung beging." [] Dieser Fehler war eine der Ursachen dafür, daß es zum 30. Januar 1933 kam. Die andere Ursache, daß die Machtergreifung nicht verhindert werden konnte, lag darin, daß es zur Herstellung einer gemeinsam kämpfenden antifaschistischen Front nicht kam, ja, daß sie geradezu verhindert wurde. [] Mit vielen anderen antifaschistischen Kämpfern standen Tausende und Abertausende unserer Parteigenossen und Gewerkschaftler in schwerem antifaschistischen Widerstand. In ihm wurden unsere teuren Genossen Rudi Breitscheid, Dr. Leber, Dr. Mierendorf, Dr. Marum, der Bergarbeiterführer Husemann und abertausende Ungenannte Opfer des faschistischen Terrors. Durch ihren Opfertod konnten sie das deutsche Volk vor seinem schlimmen Schicksal nicht bewahren. [] Aber wollen wir es noch einmal zulassen, daß faschistische Henker über deutsche Arbeiter und ihre Führer triumphieren? Die Entwicklung von 1945 bis 1953 zeichnet das Wiederaufkommen dieser Gefahr deutlich ab! [] Im deutschen Wirtschaftsleben setzen die Wehrwirtschaftsführer und Bankiers Hitlers ihren alten Unternehmerstandpunkt durch. Die Behörden und Regierungsstellen sind - bis hinauf ins Bundesinnen- und -außenministerium - wiederum von ehemaligen prominenten Nazis besetzt. [] Selbst die Leitung von Bundesverfassungsschutzämtern wurde den Fachleuten der Himmler-Gestapo "anvertraut". [] Ehemalige Hitlergenerale und in Nürnberg verurteilte - inzwischen beurlaubte und freigelassene - Kriegsverbrecher gründen und leiten Frontkämpfer- und Soldatenbünde und werden von Bundesstellen herangezogen, um das Wiedererstehen des Militarismus vorzubereiten Wie weit dieser Geist selbst in Gemeindeparlamente eingedrungen ist, zeigt die Umbenennung der Friedrich-Ebert-Straße in Osthofen und Peine. [] Von Ministerien geduldet und gefördert, und aus durchsichtigen Gründen von interessierten Kreisen finanziert, entstanden Streikbrecher- und Terrororganisationen, wie B. D. J., Heimatschutz usw., auf deren "Liquidierungslisten für den Tag X" auch viele Sozialdemokraten und Gewerkschaftler verzeichnet sind. [] Mit einem neuen Bundeswahlgesetz versuchen die Beherrscher Westdeutschlands, die alten Kanonen- und Grubenkönige, ihre Machtstellung im Bundestag zu verewigen. Einige Landtagsnachwahlen in Nordrhein/Westfalen haben bereits die Konzentration der reaktionären Kräfte gezeigt und unserer Partei Verluste zugefügt. Der Parteitag der CDU in Hamburg war in seinen Angriffen gegen unsere Partei ein deutlicher Beweis, daß die herrschenden reaktionären Kräfte in Westdeutschland ihre Politik rücksichtslos und brutal durchzusetzen gewillt sind. Daß wir eine ähnliche Entwicklung wie 1932/33 haben, das beweisen auch die von der Bundesregierung und leider auch einigen Landesregierungen durchgeführte Verbote und Verhaftungen. Diese Entwicklung ist nicht verwunderlich, wenn man daran erinnert, daß der Bundesinnenminister Dr. Lehr, einst prominenter Vertreter der Harzburgerfront, wie der genügend bekannte Bundesjustizminister Dr. Dehler wiederholt sowohl die Gewerkschaften für zuchthausreif erklärten, als auch die Kriegsopferorganisationen auf das schwerste beschimpften. [] Es ist also so, daß heute die alten reaktionären Kräfte wieder den Staatsapparat besetzt haben. Daß es soweit kommen konnte, ist die logische Folge dessen, daß verantwortliche Kräfte in der Parteiführung die Schlußfolgerungen aus dem PRAGER MANIFEST nicht gezogen haben. Wir verfolgten Sozialdemokraten sind der Meinung, daß gerade jetzt die Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden müssen und sich alle antifaschistischen Kräfte zum gemeinsamen Handeln zusammenfinden müssen. [] Denn schon im PRAGER MANIFEST heißt es: [] "Die Einigung der Arbeiterklasse wird zum Zwang, den die Geschichte selbst auferlegt." [] Wir verfolgten Sozialdemokraten sind der Meinung, daß die Losung des PRAGER MANIFESTES: [] "In diesem Kampf wird die Sozialdemokratische Partei eine Front aller antifaschistischen Schichten anstreben", [] unverzüglich verwirklicht werden muß. [] Die Auffassung unseres Parteivorstandes, als ob in der jetzigen Situation nur auf dem parlamentarischen Wege oder über das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Lebensfrage unseres Volkes gelöst werden können, führt zu gefährlichen Schlußfolgerungen. Das gefährliche Hinsteuern der Bundesregierung auf einen neuen Krieg mit Hilfe des General- und EVG-Vertrages kann nicht allein durch Parlamentabstimmungen verhindert werden, auch nicht durch das Warten auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, sondern durch das gemeinsame Handeln der Arbeiterschaft. Daß dies jetzt der notwendige Weg ist, beweisen die Erfolge, die die Arbeiterklasse beim Kapp-Putsch und gegen die Cuno-Regierung erzielt hat. [] Kameraden! Genossen! [] Auf Grund der Erfahrungen der deutschen Arbeiterbewegung gilt es jetzt, zu handeln! [] Wir sind der Meinung, daß es jetzt darauf ankommt: [] 1. Uns mit allen Arbeitern, wo sie immer stehen mögen, über die Durchführung gemeinsamer Aktionen gegen die Bundesregierung zu verständigen; [] 2. Uns gemeinsam gegen die undemokratischen Methoden der Bundesregierung zur Wehr zu setzen, die mit Verhaftungen und Verboten, ebenso wie Hitler, die Arbeiterschaft und ihre Organisationen zu knebeln und zu unterdrücken versucht; [] 3. überall in den Betrieben und in den Orten uns mit allen antifaschistischen Kräften zusammenzuschließen, um die Arbeiterorganisationen und ihre Versammlungen gegen die faschistischen Terrororganisationen zu schützen. [] Handeln wir! Die Zeit drängt! Es geht um das Leben der deutschen Arbeiterklasse, es geht um das Leben des deutschen Volkes! [] Fritz Winteroll, Heidelberg [] Heinrich Rautenhaus, Bremen [] Friedrich Kuhn, Stuttgart [] Johannes Leuschner, Hamburg [] Max Heymann, Hamm i. W. [] Richard Männle, Schopfeim/Boden [] Willy Jansen, Kiel [] Heinrich Löwer, Stuttgart [] Wilhelm Ullrich, Bremen-Blumenthal [] Josef Pauly, Saarbrücken [] Hermann Haslau, Frankfurt [] Harm Garn, Detmold/Lippe [] Margarethe Kölln, Bremerhaven [] Franz Zapadio, Geislingen [] Alois Herque, Hess.-Oldendorf [] Verantwortl. für Druck und Inhalt: Jupp Wiegel, Hamm [] Buchdruckerei: A. Nierhoff, Herne
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