Genossinnen und Genossen!

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Yella Schaar, Heidelberg [] Mitglied des Parteivorstandes der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Mitglied der Programmkommission [] z.Z. Berlin [] Im Juli 1947 [] An den Parteivorstand der Sozialistischen Einheitspartei Deutschla...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Schaar, Yella, Hannoversche Presse
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 07.1947
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/EBC00508-C629-4C7A-A787-3CC39F16A6B5
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Yella Schaar, Heidelberg [] Mitglied des Parteivorstandes der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Mitglied der Programmkommission [] z.Z. Berlin [] Im Juli 1947 [] An den Parteivorstand der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands [] Berlin [] Lothringer Str. 1 [] Genossinnen und Genossen! [] Als ich Anfang vorigen Jahres aus der Sozialdemokratischen Partei zur Sozialistischen Einheitspartei kam, ganz und gar freiwillig und aus leidenschaftlicher Ueberzeugung, glaubte ich daran, daß die SED die Partei sei, die den Sozialismus in unserem Lande verwirklichen werde. Jetzt, nach eineinhalb Jahren, muß ich Euch verlassen, denn mir ist bei Euch der Boden, auf dem ich zu stehen glaubte, unter den Füßen weggesunken. [] Ich kann der SED nicht mehr das Recht zuerkennen, sozialistisches Gedankengut zu verwalten, kann sie nicht mehr als Treuhänderin des Marxismus ansehen. Nachdem ich eineinhalb Jahre die Ausgangspunkte der SED für ihre ideologische und praktische Haltung am einzig gültigen Kriterium, an der Idee des Marxismus, nachgeprüft habe, muß ich in tiefer Erschütterung feststellen, daß Weg und System der SED eine schwere Schädigung des Kampfes um die Gewinnung und Ueberzeugung der Menschen zum Sozialismus bedeuten und daß die SED den Marxismus verrät, indem sie den elementarsten sozialistischen Grundbegriffen ins Gesicht schlägt. [] Die SED führt den ungeschulten Mann des Volkes irre, der nicht die Aufgabe hat, grundsätzliche und taktische Fragen zu lösen, und der, ohne die Möglichkeit einer Kontrolle der SED-Methoden und -Taktiken zu besitzen, an die SED als an die Wahrerin der Menschenrechte und Vertreterin seiner Interessen glaubt. Das ist schlimmer, als wenn ein Blinder einen falschen Weg geführt wird: der Blinde kann bei auftretendem Zweifel einen anderen fragen, nicht aber der Sozialist, der sich in gläubiger Zuversicht dieser angeblich sozialistischen Partei verschworen hat. Seine Frage, sein Tasten nach dem Grundsätzlichen würde in ihm schon das Gefühl erwecken, ein Verräter der Partei zu rein. [] Im vollen Bewußtsein der schweren Verantwortung, die ich als Vorstandsmitglied der SED, als Mitglied der am Vereinigungsparteitag gewählten Programmkommission und als Exponent zahlreicher außerhalb der Kommunistischen Partei stehender sozialistischer Genossen in Westdeutschland übernahm, sah ich in meiner Wahl in den Vorstand und in die Programmkommission mit großer Freude die Möglichkeit, mit allen Kräften an der endlichen Ausgestaltung und Vollendung einer Partei des konsequenten Marxismus mitzuarbeiten, die unseren jahrzehntelangen Wunsch erfüllen sollte, Verkünderin und Trägerin und das kämpferische Instrument für die Verwirklichung des Sozialismus zu sein. Mit ganzem Herzen habe ich geglaubt, daß die SED eine Partei werden würde, auf deren marxistischen Gehalt die Worte Lenins angewandt werden könnten: "Eine Partei, getragen von einer Idee, einer Theorie, einem Programm und einer Taktik, die sich konkret und praktisch vom Sozialchauvinismus und Sozialpazifismus unterscheidet". Ich habe geglaubt, daß die SED das werden würde, was Karl Marx gefordert hat: "Eine Partei, die keinen Augenblick unterläßt, bei den Arbeitern ein klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten." [] Das ungeheuerliche Versagen der SED in dieser Hinsicht verpflichtet mich zum schärfsten Protest: [] 1. Im Namen der Arbeiterschaft protestiere ich dagegen, daß die SED die Verwirklichung des Sozialismus ablehnt, indem sie im "Neuen Deutschland" vom 12. Juli 1947 in dem Kommentar zur künftigen Politik der SED durch den Mund Anton Ackermanns verkünden läßt: "Es ist eine neue Ordnung, die aufgebaut werden muß; diese neue Ordnung ist kein Sozialismus, für den die hauptsächlichste Voraussetzung fehlt, nämlich die Reife der Millionen des ganzen schaffenden Volkes." Diese schulmeisterhafte Schmähung des Proletariats bezweckt lediglich, die eigene politische Unfähigkeit zu verdecken. [] 2. Im Namen der Gesamtmitgliedschaft der SED protestiere ich dagegen, daß, entgegen dem Auftrage des Vereinigungsparteitages, die von ihm gewählte Programmkommission bis heute nicht zusammengetreten ist und daher kein Programm geschaffen wurde, das sich auf dem konsequenten Marxismus aufbaut. [] 3. Ich protestiere dagegen, daß an Stelle eines solchen auf einheitlicher Idee und Theorie beruhenden Programms die auf dem Vereinigungsparteitag als Provisorium entgegengenommenen "Grundsätze und Ziele" vom zweiten Parteitag der Gesamtpartei als auch weiterhin vollgültig aufgezwungen werden sollen. Die "Grundsätze und Ziele" sind ein ideologischer Zwitter, der mit den Worten gebrandmarkt werden muß, mit denen Engels den Entwurf des Erfurter Programms kritisierte: "Die politischen Forderungen des Entwurfs haben einen großen Fehler: das, was eigentlich gesagt werden sollte, steht nicht darin." Ich protestiere mit Entschiedenheit dagegen, daß der Parteivorstand dazu mißbraucht wird und sich dazu hergibt, dem Parteitag den Fortbestand dieser improvisierten Richtlinien als bindend für die Gesamtpartei zu empfehlen. [] 4. Ich protestiere dagegen, daß als Folge davon den Funktionären und Mitgliedern der SED auch weiterhin die Möglichkeit genommen bleiben soll, die politische Haltung, die Zielsetzung und die Taktik der führenden Genossen an Hand eines eindeutigen, von der Mitgliedschaft bestätigten Parteiprogramms zu kontrollieren, und daß die Politik der Partei also auch in Zukunft ohne anerkannte Planung gesteuert wird. [] 5. Ich protestiere gegen die Behauptung der SED, daß sie als Organisation eine aus der SPD und KPD hervorgegangene Einheit sei und stelle fest, daß die Vereinigung weder organisatorisch noch ideologisch zur Synthese geführt hat, sondern eine leere Geste geblieben ist. [] 6. Als Marxist muß ich es ablehnen, einer Partei anzugehören, die sich weder zum wichtigsten Grundsatz unserer Idee, zum Internationalismus, bekennt, noch dem deutschen Proletariat die gleichen Rechte zuerkennt wie dem Proletariat anderer Völker. [] 7. Ich lehne eine Partei ab, die das Bekenntnis zur direkten sozialistischen Aktion verleugnet, und ich protestiere dagegen, daß die SED, statt ihre revolutionäre Pflicht zu tun, nämlich den unwissenden und ungeschulten Massen die Notwendigkeit des Sofortkampfes für die Verwirklichung des Sozialismus klarzumachen, und zwar auf der Grundlage internationaler Forderungen und auf Grund der gegenwärtigen politischen Situation, als Fernziel ansieht. [] Resultat: Als Marxist stelle ich fest, daß die Gesamthaltung der SED nicht marxistisch, nicht sozialistisch, nicht internationalistisch ist und auf diese Weise in den Interessen der deutschen Arbeiterschaft die internationale Bewegung verrät. Die Politik der SED ist opportunistisch und kasuistisch. Ihre Steuerung, deren mangelndes proletarisches Bewußtsein, deren mangelnder Verantwortungswille für die reine marxistische Weltauffassung symptomatisch ist für ihre geistige Struktur, manifestiert sich in einer Politik, die konterrevolutionäre Wirkungen auf die proletarische Masse hat. [] Aus diesen schweren grundsätzlichen Vorwürfen, die ich gegen die SED erheben muß, kann für mich nur eine Konsequenz erwachsen: ich lege meine Funktionen als Vorstandsmitglied der Sozialstischen [!] Einheitspartei sowie als Mitglied der Programmkommission, die bis zum heutigen Tage nicht zur Arbeit zugelassen wurde, um ihr Mandat vom Parteitag zu erfüllen, nieder und scheide gleichzeitig auch als einfaches Mitglied aus der SED aus. [] Ich verbinde mit meinem Austritt den leidenschaftlichen Wunsch, daß meine weiteren Veröffentlichungen über meine Stellungnahme zur SED und ihrer Politik allen Genossen der SED, gleichgültig, ob sie aus den Reihen der KPD oder der SPD gekommen sind, eine Mahnung zum Hinwenden auf den konsequenten Marxismus bedeuten, sie aufrütteln und zum Nachdenken über die Existenzlüge der SED bringen werden. [] Druck: Hannoversche Presse", 394/ 10000/ 9./ Kl. C
Published:07.1947