"Leb wohl, Andrea, und auf Wiedersehen!"

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; "Leb wohl, Andrea, und auf Wiedersehen!" [] Tatsachen zu den Literaturprozessen [] um "Andrea und die rote Nacht" und "Endlos süße Lockung" von Gilbert Merlin [] "... für nötig gefunden zu sorgen, daß diese...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Verlag der Europäischen Bücherei H.M. Hieronimi
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 1955
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/2386D696-8841-4C5F-8D4A-239D8F9156D8
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; "Leb wohl, Andrea, und auf Wiedersehen!" [] Tatsachen zu den Literaturprozessen [] um "Andrea und die rote Nacht" und "Endlos süße Lockung" von Gilbert Merlin [] "... für nötig gefunden zu sorgen, daß diese Schrift unterdrückt werde ..." [] (Theol. Fakultät Leipzig 1775 zu Goethes "Werther") [] "Verfluchungswürdige Schrift ... Lockspeise des Satans ..." [] (Hamburger Hauptpastor Goetze 1775 über Goethes "Werther") [] "Unmoralische Lizenz ... properzische Lüsternheit ..." [] (Herr Pustkuchen 1832 über Goethe) [] "Ohne die Bibel mitzuzählen, waren die meisten Schriftsteller von Plato bis Havelock Ellis, von Aristophanes bis Shaw, von Catull und Ovid bis Shakespeare, und Shelley jederzeit Zielscheibe jener, die immer gierig Ausschau halten nach Unreinheit, Unanständigkeit oder Unmoral." [] Henry Miller [] Nach fast sechsjährigen, nur zeitweise unterbrochenen Bemühungen, die von der Münchener Staatsanwaltschaft begonnen und anschließend vom "Volkswartbund" in Köln weitergeführt wurden, sind die beiden Liebesromane von Gilbert Merlin zunächst eingezogen worden. Das OLG Köln (gez. Dr. Dr. Wimmer, Deuster und Rettner) hat mit zwei Beschlüssen vom 30. 12. 1955 [] 1. die vom Verlag gegen das einziehende Urteil des Bonner Schöffengerichts vom März 1955 betr. "Andrea" (LGR Klinkhammer als Vorsitzender) eingelegte Revision verworfen, ohne diese Verwerfung weiter zu begründen, [] 2. der auf Anweisung eingelegten Beschwerde der Bonner Staatsanwaltschaft gegen den freigebenden Beschluß der Großen Strafkammer Bonn vom 28. 2. 1955 betr. "Endlos süße Lockung" stattgegeben. [] Damit sind beide Bücher, die mit einer Auflage von fast 80000 Exemplaren im Laufe der Jahre eine so große deutsche Leserschaft gefunden hatten, von der selbstverständlich blütenweißen Weste bundesrepublikanischer Moral wie zwei höchst ärgerniserregende Flecken entfernt worden. Leider bleiben dennoch gewisse Trübungen und mißfarbene Ränder zurück, da das im Kampfe gegen die beiden Flecken angewandte Verfahren unserer Meinung nach auch das Gewebe dieser Moralweste ziemlich angegriffen hat. Für die deutsche Justiz scheint es uns wenig rühmlich zu sein, daß sie - gegen die formulierte Auffassung von so manchen ihrer Vertreter, so z. B. der Staatsanwaltschaft Bonn, eines Bonner Amtsrichters, der Bonner Großen Strafkammer, eines früheren Bonner Staatsanwalts und heutigen Bonner Landgerichtsdirektors, eines Amtsrichters in Neresheim sowie weiterer hoher Justizbeamter u. a. auch in der Generalstaatsanwaltschaft Köln - erneut in die zwar alte, deshalb aber noch nicht ehrenwerte Tradition der "Literaturprozesse" wieder eingestiegen ist. [] Rekapitulieren wir doch noch einmal: [] Wie ist es dazu gekommen? [] Alle in den nachfolgenden Abschnitten aufgeführten, mit den beiden Literaturprozessen und ihrem Ablauf zusammenhängenden Tatsachen sind aktenkundig. [] Stichworte [] Ende 1949 wird "Andrea" in München beanstandet. Der Bonner Staatsanwalt und heutige Landgerichtsdirektor Schroeder zitiert den Verleger zu sich. Verleger erklärt sich nach Fühlungnahme mit dem Autor zur Streichung bzw. Abmilderung einiger Abschnitte bereit. Die neugestaltete Auflage wird der Bonner Staatsanwaltschaft vorgelegt und genehmigt. [] Wichtig ist: Schon in dem geschilderten Schritt der StA München werden die ersten weltanschaulichen Hintergründe insofern sichtbar, als Merlin auch "Gotteslästerung" vorgeworfen wird. In der Folgezeit wird der "Volkswartbund" (Dr. Michael Calmes) seinen verbreiterten Angriff gegen Merlin zwar unter dauerndem Gejammere über die angebliche "Unmoral" vortragen (obwohl Merlin in der Beschreibung erotischer Szenen sicherlich viel zurückhaltender ist als viele Dutzende von Romanen moderner Autoren, die in Deutschland ganz unbeanstandet verbreitet werden!), aber es wird gleichzeitig der weltanschauliche Pferdefuß immer wieder sichtbar. [] "Andrea" erscheint weiter. Im Jahre 1952 kommt es seitens mehrerer deutscher Verlage zu einem Zusammenstoß mit dem "Volkswartbund", und zwar im Zusammenhang mit einer Schrift, die ein Kölner Staatsanwalt verfaßt und im Verlag des "Volkswartbundes" herausgebracht hat. In dieser Schrift werden hinsichtlich einiger weltbekannter Autoren Behauptungen aufgestellt, die zumindest mißverständlich sind. Der unterzeichnete Verlag wird, da er in Bonn sitzt und infolgedessen nahe beim "Volkswartbund" und dem Verfasser der Schrift, von Kollegen gebeten, Rücknahme dieser Behauptung notfalls durch Klageandrohung zu erreichen. Es kommt zu einem äußerst heftigen brieflichen Zusammenstoß und von beiden Seiten aus zu Polemiken, die in die Öffentlichkeit gelangen ("Die Literatur" u. a.). "Volkswartbund" und Verfasser sehen sich veranlaßt, in einer Neuauflage der Schrift die vorher bestehende Mißverständlichkeit durch einen erläuternden Zusatz auszuräumen. [] Nur wenige Monate nach dieser Auseinandersetzung erstattet der "Volkswartbund" Anzeige gegen "Andrea", und zwar bei dem gleichen Staatsanwalt. Es erfolgt die erste Anweisung seitens Köln an die Staatsanwaltschaft Bonn, wodurch diese gezwungen wird, das Buch beim Verlag zu beschlagnahmen, obwohl sie es selbst ausdrücklich genehmigt hatte! Es sollte nicht die letzte Anweisung solcher Art bleiben. [] Das Bonner Amtsgericht gibt am 1. 9. 1953 das Buch als "nicht unzüchtig" frei. Schon mehr als zwei Jahre vorher ist das Amtsgericht Neresheim zum gleichen Ergebnis gekommen. Die Bonner StA wird angewiesen, und zwar vom Justizministerium Düsseldorf, gegen das Bonner Urteil in Berufung zu gehen. [] Am 7. 12. 1953 ergeht plötzlich von Köln aus auf Veranlassung des erwähnten Staatsanwalts und wiederum auf Anzeige des "Volkswartbundes" (diesmal handelt es sich um eine mündliche Anzeige!) ein Beschlagnahmebeschluß, der "Endlos süße Lockung" und den Roman des Goncourtpreisträgers Druon "Rendezvous in der Hölle" betrifft. Allgemeines Aufsehen in der Öffentlichkeit. Noch nicht einen Monat später (am 12. 1. 1954) werden die Beschlagnahmen wieder aufgehoben. Das trifft den "Volkswartbund" und seine Helfershelfer gewaltig, und er beschwert sich. Der Kölner Generalstaatsanwalt lehnt die Beschwerde ab. Aber Herr Dr. Calmes ist fest dazu entschlossen, stellvertretend für das ganze deutsche Volk Anstoß zu nehmen. Er tut zweierlei: [] 1. Er richtet eine Beschwerde an den Justizminister Dr. Amelunxen, und in diesem Brief ist vom Sittlichkeitsempfinden der "staatstragenden Schicht" die Rede. [] 2. Er schreibt im Kölner Kirchenblatt einen Artikel, schimpft über die "liberalistische Justiz" (wo haben wir das schon mal gehört?) und äußert abschließend die Hoffnung, daß es "noch Richter in Berlin geben möge". [] Minister Dr. Amelunxen nimmt sich fürderhin dieser Angelegenheit persönlich an. Am 5. Oktober 1954, Zeichen 4736 E-III B. 611, weist er die Beschwerde des" Volkswartbundes " betr. den Roman von Druon zurück. Unter gleichem Datum und mit persönlicher Unterschrift teilt er jedoch mit, daß er hinsichtlich "Endlos süße Lockung" den Oberstaatsanwalt in Bonn angewiesen habe, das objektive Einziehungsverfahren im Gegensatz zur ausdrücklichen und schriftlichen Freigabe des Buches seitens des gleichen Oberstaatsanwalts (8 AR 241/53 vom 26. 1. 1954) durchzuführen. [] Damit ist beiden Romanen das Schicksal zuteil geworden, auf dem Anweisungswege gegen die Auffassung der Bonner Dezernenten (die also offenbar kein richtiges Empfinden für "züchtig" und "unzüchtig" zu haben scheinen!) verfolgt zu werden, wobei diese Anweisungspraxis in Literaturprozessen erstmalig gehandhabt wird. Es folgt am 28. Februar 1955 der Beschluß der Großen Strafkammer in Bonn, durch den "Endlos süße Lockung", im Gegensatz zur Auffassung des Herrn Dr. Amelunxen, freigegeben wird. Gemäß ihrer eigenen dokumentierten Auffassung würde es die Bonner StA gern dabei belassen. Jedoch muß sie erneut gegen den freigebenden Beschluß Beschwerde einlegen. [] Vom 1. bis 3. März 1955, also nur einen Tag nach Freigabe von "Endlos süße Lockung", spielt sich vor der Bonner Strafkammer der Literaturprozeß um "Andrea" ab. Herr LGR Klinkhammer, der gerade aus einem Urlaub in Zermatt zurück ist, wo er mit seinem Bruder, dem "Ruhrkaplan" Klinkhammer und tatkräftigem Bekämpfer der filmischen "Sünderin", zusammen war, eröffnet die Verhandlung gegen die literarische "Sünderin". Er hat als Sachverständigen den Herrn Oberstudiendirektor Dr. Wilhelm Grenzmann bestellt, der einige löbliche Arbeiten wie z. B. ein Buch über "Dichtung und Glaube" veröffentlicht hat und als aktiver Katholik bekannt ist. LGR Klinkhammer kennt ihn nicht nur als Literaturkritiker, sondern auch als Mitarbeiter in Akademikergremien, die wiederum mit dem Prälaten Wolff zu tun haben. LGR Klinkhammer kennt gleichfalls die "Andrea" und weiß somit auch, daß sie aus der Feder eines Freidenkers stammt. Was liegt also näher, als einen streng katholischen Sachverständigen zu bestellen, selbst wenn er nicht zu den ganz großen literaturwissenschaftlichen Kapazitäten Deutschlands gehört? Bei "Andrea" soll die Frage der Unzüchtigkeit geprüft werden? Ist es da nicht selbstverständlich, sie durch einen Oberstudiendirektor prüfen zu lassen? Sind nicht gerade die Schulmeister aller Generationen stets die milden Protektoren für jeglichen literarischen Avantguardismus gewesen? Hat nicht auch Beckmesser die Auswüchse eines gewissen Hans Sachs lange Zeit zu stoppen verstanden? Kurzum: das [] Gutachten fällt entsprechend aus. Sein erweiterter mündlicher Vortrag vor Gericht seitens des Dr. Grenzmann läßt zum zweiten Male den gleichen weltanschaulichen Pferdefuß hervorschauen, den bereits München vor Jahren enthüllt hat. Herr Dr. Grenzmann gutachtet über Merlin mit der gleichen Berechtigung und dem gleichen Einfühlungsvermögen, die etwa Ernst Haeckel in einem Gutachten über die biblischen Wunder an den Tag gelegt hätte. Nur ist Haeckel eben nie mit einem solchen Gutachten betraut worden, und in jedem Falle hätte er sich wohl unter, Rücksichtnahme auf seine eigene intellektuelle Ehrlichkeit für unzuständig erklärt ... Der von der Verteidigung benannte Sachverständige und weltbekannte Schriftsteller Dr. Walther von Hollander versucht ganz vergeblich, dem Vorsitzenden und den beiden durch keinerlei literarisches Wertungsvermögen belasteten Schöffen den Sinn der Merlinschen Anschauungen und sein hohes literarisches Können vor Augen zu führen. Das Gericht starrt fasziniert auf sich öffnende Morgenmäntel und darauf, daß nirgendwo von Ehe und Treue die Rede ist. Eine umfangreiche Urteilsbegründung verdonnert die "Andrea" in Grund und Boden. Die übergroße Mehrheit der öffentlichen Meinung empört sich, der bekannte Schauspieldirektor Kurt Hoffmann schreibt LGR Klinkhammer einen Brief, in dem er alle Argumente gegen dieses Urteil auf eindrucksvolle Art zusammenfaßt und dem Richter Unterricht im rechten Verständnis des Buches zu erteilen versucht. Er erhält keine Antwort, [] jedenfalls nicht von LGR Klinkhammer. Statt dessen aber von Herrn Dr. Grenzmann und dem Prälaten Wolff. Beide beklagen sich bitter über Kurt Hoffmanns Einstellung, und kurze Zeit darauf tritt wiederum das Kirchenblättchen in Aktion. Es veröffentlicht aus der Feder eines Kollegen des Herrn Dr. Grenzmann einen Artikel, der sich wenig freundlich mit Kurt Hoffmann befaßt, aber zu dem beruhigenden Schluß kommt, daß "Christi Königsbanner" doch siegen werde ... [] Aus dieser Atmosphäre heraus, für die der Begriff "Bonner Luft" außerordentlich passend erscheint, verlagerte sich der Prozeß durch die Revision des Verlages dann an das OLG Köln zu Senatspräsident Dr. Dr. Wimmer. Der Verlag erstellte ein mehr als fünfzigseitiges Schriftstück, mit dem er versuchte, die fürchterlichen Entstellungen, die der "Andrea" von ihren Gegnern zugefügt worden waren, zu beseitigen und die unbeweisbare Verdächtigung ihrer Motive durch eine große Zahl von detaillierten Texthinweisen zu entkräften. Leider vergeblich. Auch im Falle "Endlos süße Lockung". [] Die deutschsprachigen Lizenzen beider Bücher wurden an ausländische Verlage des deutschen Sprachgebiets außerhalb der Bundesrepublik abgetreten. Beide Bücher werden weitererscheinen, aber in Deutschland nicht mehr verkauft werden dürfen. Vor fast fünfzig Jahren ging es Frank Wedekind ganz ähnlich. Aber nach einer Reihe von Jahren änderten sich die Verhältnisse ... Der Autor Gilbert Merlin wird seine schriftstellerische Arbeit fortsetzen und ist mit uns gespannt darauf, ob nun der "Volkswartbund" zu neuen Taten schreiten wird. Wir wollen noch nichts über zwei Bücher sagen, die der Autor vorbereitet: "Notre-Dame und die Sünderin" und "Andrea oder Eine Pariserin in Bonn." Wir freuen uns sehr auf diese Bücher, und viele Tausende freuen sich mit uns. [] Ergebnis [] Zwei Bücher wurden verboten. Die Meinung des "Volkswartbundes" war die "richtige", die Bonner Staatsanwälte, der Neresheimer Richter, der Bonner Amtsrichter und so viele andere haben sich "geirrt". Der Freidenker Merlin wird durch den Verfasser von "Dichtung und Glaube" erfolgreich "vergutachtet". Der Schriftsteller Dr. Walther von Hollander, Mitglied des PEN und Verfasser von fast dreißig erfolgreichen Büchern, sowie der mutige und künstlerisch bahnbrechende Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor Kurt Hoffmann "verkennen" die "Andrea", wohingegen sie Herr Dr. Grenzmann mit einem von starker religiöser Überzeugung getragenem Scharfsinn "entlarvt". "Ruhrkaplan" Klinkhammer erhebt sich auf einem Kölner Mittwochsgespräch und verkündet, daß die Demokratie doch nicht das höchste aller Güter sei. Es sieht so aus, als hätte er recht ... [] ZITATE [] I. "Andrea und die rote Nacht" [] 1. Aus dem Urteil des Amtsgerichts Neresheim vom 27. Juli 1950, Zeichen Ds 14/50. [] "Das Buch ist ein modernes Werk, das sich mit der Problematik des bindungs- und grundsatzlosen Menschen unserer Zeit auf dem Gebiet der Erotik beschäftigt. Der Mann des Romans ist der Typus dieser menschlichen Zeiterscheinung. Der Roman zeigt, wie dieser Mann, vermittels seines Intellektes von sämtlichen Bindungen befreit, unter die Herrschaft des Instinktes und des Triebes gerät und dabei sogar glaubt, die Wahrheit, den rein historischen Geschehensablauf, nämlich sein Verhältnis zu der von ihm nicht geliebten Marietta der von ihm geliebten Andrea gegenüber ignorieren zu können. Würde er den Mut zum Bekenntnis dieser Wahrheit finden, wäre er gerettet (vgl. den Brief der Andrea Seite 411). Er findet diesen Mut nicht und scheitert. Von dieser eigentlichen Mitte des Romans her gesehen wird die Notwendigkeit des 'zärtlichen Vorspiels' verständlich. Auch hier droht dem Manne von neuem die Gefahr, durch die Fesseln seines starken erotischen Triebes die Liebe auch zu der nun von ihm geliebten Frau zu verscherzen. Da bewegt ihn diese zum Bekenntnis der Wahrheit. Nun findet der Mann den Mut zur Wahrheit, bekennt sich damit zum vielleicht einzig für ihn existierenden Absoluten und wird gerettet. Wird so der Anfang des Romans vom Ende her betrachtet, so verletzt das 'zärtliche Vorspiel' das Scham- und Sittlichkeitsgefühl eines reifen gesund empfindenden Menschen nicht, da es dem nicht unedlen Gesamtzweck des Buches untergeordnet und diesem höheren Zweck zu dienen bestimmt ist." [] 2. Aus dem Urteil der 4. kleinen Strafkammer des Landgerichts Bonn (Vorsitzender LGR Klinkhammer) vom 3. März 1955, Zeichen 8 Ns 12/53 44 Ds 2N/53 AG. Bonn. [] "Die von der Kammer beanstandeten und oben ausführlich gekennzeichneten Stellen spielen also nicht, wie der Erstrichter meint (auch das Amtsgericht in Bonn hatte am 1. September 1953 das Buch unbeanstandet freigegeben! Zusatz des Verlages), im Gesamtzusammenhang des Buches eine zweitrangige Rolle, und sie treten auch nicht angesichts des Umfanges des Buches in den Hintergrund ... Das Scham- und Sittenverletzende vieler Stellen des Buches wird weder durch den Gesamtcharakter des Werkes vergeistigt oder veredelt, noch wird es einem sittlich guten Endzweck untergeordnet. Im Gegenteil, auch die sittliche Grundhaltung des Buches kann in keiner Weise bejaht werden. Ohne Zweifel ist in dem Buch eine Verherrlichung des außerehelichen Verkehrs zu sehen, wie dennüberhaupt das Buch den Begriff der Liebe nur als Begriff außerehelicher Ich-Du-Beziehungen kennt ... An keiner Stelle des Buches findet sich ein Bekenntnis zu den die echte Liebe erfüllenden Werten von Treue und Ehrfurcht ... Es fehlt jede kontrapunktische Darstellung, die Wert und Unwert voneinander abhebt ... Eingehend hat sich die Kammer auch mit der künstlerischen Seite des Romans auseinandergesetzt. Sie verkennt nicht, daß das Buch auch Stellen von überzeugender Ausdruckskraft enthält ... Selbst unterstellt, es handele sich bei dem Roman in formaler Hinsicht, insbesondere, was Stoffgliederung und Aufbau betrifft, um ein Werk der Kunst, so würde die Kammer die Unzüchtigkeit des Buches im Sinne von § 184 StGB bejahen [] müssen, da die scham- und sittlichkeitsverletzenden Stellen nicht von einer höherwertigen Idee, also nicht vom Inhalte her gemeistert werden ..." [] 3. Aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Walther von Hollander, schriftlich zu den Akten der kleinen Strafkammer Bonn und in mündlichem Vertrag in der Hauptverhandlung erläutert. [] "Die Bücher des Schriftstellers Gilbert Merlin sind in Deutschland seit drei oder vier Jahren bekannt. Merlin erweist sich in diesen Büchern als ein Mann von Welt und ein Mann von Geist, der es sich vorgesetzt hat, die Beziehungen der Geschlechter so zu schildern, wie sie heute sind. Auf der einen Seite nämlich außerordentlich gefühlvoll, zart und zärtlich, auf der anderen Seite außerordentlich brutal ... Merlin ist Feminist, d. h., er vertritt die Rechte und die Ansprüche der Frauen gegenüber den brutalen, im letzten auf Herabsetzung und Unterwerfung der Frau gerichteten Wünschen gewisser Männer und Übermänner. Es scheint mir seine Hauptabsicht zu sein, den Frauen die Wahrheit über die Männer zu sagen. Eine harte, nackte Wahrheit, durch die sie gewarnt werden sollen. Sein Anliegen ist demnach ein moralisches Anliegen. Merlin gehört zu den Moralisten, die freilich die unbarmherzige Wahrheit des Lebens zu schildern sich verpflichtet fühlen ... Der Versuch, die wahrhaftige Darstellung von Geschlechtsbeziehungen als unzüchtig hinzustellen, ist so alt wie der Versuch, die Darstellung des nackten menschlichen Körpers zu verpönen ... Unzüchtig können meiner Ansicht nach höchstens Schriften sein, die sich ausschließlich und allein mit der Darstellung geschlechtlicher Vorgänge befassen, die es versäumen, das Geschlechtliche in das Gesamtleben einzuordnen, die eindeutig darauf abgestellt sind, die Lüsternheit zu erwecken. Das alles ist in der Andrea nicht geschehen ... Über den [] literarischen Wert der Andrea ist folgendes zu sagen: Merlin ist ein ungewöhnlicher Schilderer der weiblichen Psyche, ein Mann, der ganz außerordentliche Kenntnisse des weiblichen Gefühlslebens besitzt. Er ist Feminist und in seiner Darstellungsweise zuweilen feministisch, d. h., etwas zu gefühlig vielleicht, was nicht jedermanns Geschmack ist. Aber die Schilderung besonders der Heldin Andrea ist im literarischen Sinne hinreißend, und der Roman enthält außerordentliche Partien und Szenen. Es ist ein ungleiches Buch, aber ein wertvolles Buch. Wertvoll besonders im Hinblick auf die Kenntnis und Erkenntnis heutiger erotischer Probleme. Ich verstehe daher nicht, wie irgend jemand im Sinne des Gesetzes Anstoß an dem Buch nehmen kann ..." [] 4. Aus dem Gutachten des von LGR Klinkhammer bestellten Sachverständigen Oberstudiendirektor Dr. Grenzmann, schriftlich zu den Akten und erläutert in der Hauptverhandlung. [] "... Nicht umsonst tritt das Tierhafte in den Vergleichen des Verfassers immer wieder hervor. Damit steht im Einklang die fortwährende Beschreibung der körperlichen Schönheit der Frau, die so gut wie nie ästhetisch, sondern immer triebhaft begriffen wird ... Literarisch hat das Buch keinen Wert. Von dieser Seite her ist es also nicht in Schutz zu nehmen. Zwar ist anzugeben, daß dem Verfasser die Gabe eignet, einen Stoff dieser Art aufzubauen und Spannungen primitiver Art zu erzeugen ... Die reichen Bezirke des seelischen Lebens bleiben in diesem Roman verschlossen. Es scheint sehr zweifelhaft, ob der Verfasser dazu überhaupt einen Zugang hat ... Der Roman kann nur die Wirkung haben, die Phantasie und Gesinnung der Leser noch mehr zu vergiften. Dies ist um so schlimmer, als er die Vorstellung erweckt, als ob das, was er berichtet, Liebe sei und sogar zur Ehe führe ... Das Buch erregt also im vollen Sinne des Gesetzes Anstoß, es ist zudem ein sittlich gefährliches Buch ..." [] 5. Aus dem Briefe des Schauspieldirektors Kurt Hoffmann, Bonn, an LGR Klinkhammer, März 1955. [] "Man fragt sich: Mußte das sein? Wer kommt auf die Kateridee, gegen ein solches Buch ein objektives Verfahren einzuleiten, und man fragt sich ferner: Hat weder der Gesetzgeber noch der Richter, vom Schöffen ganz zu schweigen, denn gar nichts gewußt von der nun doch schon seit vielen Jahrzehnten peinlichen und unsinnigen Tatsache von Literaturprozessen? Muß man sich immer wieder blamieren und glaubt man wirklich, daß die Menschheit besser wird durch Verbote und Paragraphen gegen die Literatur ... Es ist ein höchst persönlicher Roman, subjektiv, fast vom Frauengefühl aus geschrieben, aber es handelt sich um ein echtes Anliegen ... Wer kann den Abschiedsbrief der Andrea ohne Erschütterung und Selbstbezichtigung lesen, welcher Pharisäer und Mucker hebt da den Stein auf ... ? Steht nicht auf Seite 212 Gültiges und Großartiges in dem Wunsch der Andrea nach einem umfriedeten Glück, in der Weigerung, sich ohne Sicherheit (innere Sicherheit) ganz zu geben, für uns eben diese große, von Ihnen so vermißte Forderung? Spüren Sie nicht in der schonungslosen Beichte, daß er bereut ... ? ... Ist das nicht ein altes, furchtbares Don-Juan-Thema, zu dem nicht immer eine herrliche Musik geschrieben wird? Sagt Andrea nicht deutlich, daß sie die letzte sein möchte? Was heißt das anders, als daß sie den Mann von Herzen liebt, mit Seele und Körper! Wie weit ist da noch der Weg? Fragen Sie da keine Schulmeister, sondern den Künstler, von dem so leicht kein wirklicher Verzweiflungsschrei überhört [] oder mißverstanden wird ... Ist nicht diese Marietta eine durchaus überzeugende Gestalt? ... Wie ist das gestaltet! Mit welcher Dynamik und grausam-konsequenter Logik! Sollen wir es wirklich ankreiden, daß weder der Altar noch das Kloster zuletzt sich rettend zeigt? Welche Konstruktion für moralisch minderbemittelte Duckmäuser wäre das! ... Dazu eine Staatsanwaltschaft, die weisungsgebunden ist! Was soll man wirklich, wenn man gänzlich unbefangen da hineinkommt, von einem solchen Gericht halten? ... Die Staatsanwaltschaft Bonn hat aber doch nun ... das Buch nicht für unzüchtig erklärt und muß es doch anklagen nicht nur, sondern hat Weisung, den Antrag auf Unbrauchbarmachung und Einziehung zu vertreten! Welch eine Ungeheuerlichkeit! Nur noch ein Sprung und dasselbe Verfahren wird im politischen Prozeß angewandt! Waren wir da nicht schon einmal? Sie haben Herrn Grenzmann als Gutachter gewählt, der meiner Meinung nach völlig versagt hat ... Nun, die Bücher des Herrn Grenzmann sind eben Bücher, wie sie ein Schulmann schreibt ... Es sind aber doch keine wissenschaftlichen Werke von Rang, die ihn legitimieren, über eine Erscheinung wie die Andrea ... ein Gutachten abzugeben. Er ist doch viel zu eng ... Wenn ich Ihnen schreibe, so tue ich es nicht, weil ich irgendwie auffallen will, ich tue es aus tiefer Besorgnis heraus, daß es wirklich hier um die Freiheit der Kunst geht, um einen ungerechtfertigten Eingriff staatlicher Autorität ... Zu allen Zeiten waren die Literaturprozesse [] Blamagen der Justiz, und spätere Generationen haben sich dann geschämt. Dort, wo nun einmal eine bestimmte Tiefensicht und ein vielschichtiges künstlerisches, gesellschaftliches und menschliches Problem zu behandeln sind, kann man auch nicht mit Telegrapheninspektoren und Betriebswarten zu Gericht sitzen ... Es genügt nicht, mit dem Bleistift die Worte zu zählen, die einen unzüchtigen Begriff ergeben könnten oder die Schilderung eines erotischen Zusammenseins, und losgelöst vom Hauptthema zu einem Urteil zu formen ..." [] II. "Endlos süße Lockung" [] 1. Antwortschreiben des Generalstaatsanwalts Köln vom 21. März 1954 auf die Beschwerde des "Volkswartbunde" [!] gegen die Freigabe des Buches durch das Amtsgericht Köln am 12. Januar 1954. [] "Der Eindruck, das Buch sei unzüchtig, kann nur entstehen, wenn die von Ihnen bezeichneten gewagten Stellen dem Zusammenhang des Buches entrissen und aneinandergereiht werden. Eine solche Betrachtung wird aber dem Gesamtwerk nicht gerecht. Inhalt, Tendenz und die Darstellungsform des Romans sind vom Oberstaatsanwalt Bonn in seiner Ihnen bekannten Verfügung vom 14. Januar 1954 zutreffend erkannt und gewürdigt. Es handelt sich um seelische Konflikte im Liebesleben, die geschildert und gedeutet werden in einer Form, die keineswegs schamverletzend ist. Diesem künstlerischen Zweck sind die erotischen Darstellungen durchaus untergeordnet. Angesichts seiner unbedingt vorwiegend künstlerischen Tendenz und Wirkung kann das Buch nicht als unzüchtig bezeichnet werden." [] 2. Aus dem Beschwerdebrief des "Volkswartbundes" an den Justizminister von Nordrhein-Westfalen vom 30. März 1954. [] "Immerhin vertreten wir eine breite, sehr staatstragende Volksschicht ... Unsere Auffassungen entspringen immerhin einer ernsten Sorge um Zustand und Bestand unseres Gemeinwesens. Wir können uns kaum vorstellen, daß die oberste Justizbehörde des Landes NRW und die hinter ihr stehenden politischen Kräfte die Auffassungen der Vorinstanzen teilen ..." [] 3. Aus dem Urteil der großen Strafkammer des Landgerichts in Bonn vom 28. Februar 1955, Zeichen 8 Js 1123/54. [] "Die Strafbarkeit des Inhaltes des hier in Rede stehenden Romanes 'Endlos süße Lockung' könnte nur dann bejaht werden, wenn es sich bei ihm um eine unzüchtige Schrift im Sinne von § 184 Abs. I Ziff. I StGB handelte. Dies ist jedoch nicht der Fall ... Der Roman behandelt als Gesamtthema seelische Konflikte im Liebesleben moderner Menschen und versucht, die innere Entwicklung eines jungen Mannes von egoistischer Erotik zu einer tieferen Leidenschaft aufzuzeigen. Im Rahmen dieser Handlung kommt es zu einigen deutlichen Schilderungen erotischer Gedanken, Gefühle und Handlungen dieses Mannes ... Diese Stellen sind jedoch weder in ihrer Zahl und nach der Ausführlichkeit der Darstellung im Verhältnis zu dem über 300 Seiten umfassenden Gesamtroman so umfangreich noch auch in der Art der Darstellung so aufdringlich, daß sie den Gesamtcharakter des Romans bestimmten oder ihn gar lediglich als Rahmen für unzüchtige Darstellungen erscheinen ließen ... Bei einem Roman, der jeden literarischen Wert vermissen läßt und einem unbefangenen normalen Leser als künstlerisch belanglos erscheint, könnte dieser allerdings unter Umständen das Gesamtwerk mit Rücksicht auf in ihm enthaltene anstößige Stellen als unzüchtig empfinden. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Den in der Antragsschrift gerügten literarischen Mängeln des Romans steht gegenüber, daß dieser erkennbar einen mit der Sittenordnung im Einklang stehenden Endzweck verfolgt, sich um die Darstellung psychologischer [] Zusammenhänge ernstlich bemüht und in einem flüssigen und gewandten Stil geschrieben ist ..." [] 4. Aus dem Beschluß des OLG Köln vom 30. Dezember 1955, Zeichen Ws 440/55 8 Js 1123/54. [] "Auf diese Weise wirkt das Buch, wozu eine zwar geschickte, häufig jedoch rein spielerische und banale Sprache beitragen mag, in vielfältigen Partien geradezu frivol und dient es nicht nur in seiner Wirkung, sondern erkennbar auch nach seiner Tendenz der Erregung geschlechtlicher Lüsternheit. Trotz formalen Erzählertalents des Verfassers und einer nicht unbeträchtlichen Fähigkeit der psychologischen Einfühlung und Darstellung muß dem Roman der Rang eines Werkes von echter künstlerischer Zielsetzung und Wirkung, die vereinzelte Gewagtheiten ihres unzüchtigen Charakters möglicherweise zu entkleiden vermöchte, abgesprochen werden ..." [] III. Telegramm eines süddeutschen Buchhändlers nach Bekanntwerden des Verbots von "Andrea". [] "Leb wohl, Andrea, und auf Wiedersehen!" [] Verlag der Europäischen Bücherei H. M. Hieronimi - Bonn
Published:1955