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Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Fotos: Brigitte Kraemer, Joker; Redaktion: Petra Bläss Alle sichern! [] [] Soziale Grundsicherung gegen Armut, Bedürftigkeitsprüfung und Abhängigkeit. [] [] PDS LINKE LISTE IM BUNDESTAG [] [] Sozialversicherung am Ende? [] [] 150Während [!] die Bundesregierung nahezu tagtäglich ihren Generalangriff auf den Sozialstaat Deutschland fortsetzt, hat die Bundestagsgruppe der PDS/Linke Liste ihr umfassendes Konzept für eine soziale Grundsicherung in das Parlament eingebracht. Es zielt darauf ab, allen Menschen, die ein angemessenes Lebensniveau nicht aus eigener Kraft erreichen können, eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen. Dabei geht es nicht um die Abschaffung des Versicherungsprinzips, sondern um einen Ausbau der Sozialversicherung und ihre Ergänzung durch steuerfinanzierte Elemente. [] [] Die PDS/Linke Liste hält eine soziale Grundsicherung für notwendig, weil die bestehende Sozialversicherung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gestoßen ist und immer weniger Schutz vor Lebensrisiken bietet. Das hat zum einen mit der Rotstiftpolltik der Bundesregierung zu tun, hängt andererseits aber auch ab von der Struktur des sozialen Sicherungssystems und seinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die sich in den v ergangenen zwei Jahrzehnten grundlegend geändert haben. [] [] Die Kassen der Sozialversicherungen werden durch die Sozialabgaben der ArbeiterInnen und Angestellten und der Unternehmen sowie, wenn notwendig, durch Zuschüsse des Bundes gefüllt. Leistungen für die Anspruchsberechtigten werden nach den Erwerbsarbeitsjahren und der Höhe des Einkommens errechnet. Die enge Koppelung von versicherungspflichtiger Erwerbsarbeit und Versicherungsleistungen hat schon immer bestimmte Tätigkeiten ungesichert gelassen. Frauen z.B., die ein ganzes Leben der Erziehung von Kindern oder der Pflege von Familienangehörigen widmen - in Westdeutschland keine Seltenheit -, konnten keine eigenen Ansprüche erwerben. Ihre Sicherung erfolgte immer schon aus zweiter Hand. Aber die Schutzfunktion der Familie hat ihre Bedeutung längst verloren. Durch Massenarbeitslosigkeit und andere Deformationen des "Normalarbeitslebens" hat sich in den letzten Jahren ein Mißverhältnis von Beitragseinnahmen und Leistungen herausgebildet: Für die ansteigende Zahl von Leistungsberechtigten reichen die Beitragseinnahmen kaum noch aus, und der staatliche Zuschußbedarf wächst unaufhörlich. [] [] Diese Situation wird sich nicht ändern, so lange Millionen Menschen das Recht auf Arbeit vorenthalten und die Umverteilung vorhandener Arbeit durch radikale Arbeitszeitverkürzung ebenso wenig in Angriff genommen wird wie die Neubewertung von unbezahlt geleisteter Arbeit. [] [] Forderungen nach einer Grundsicherung sind nicht neu. Aus liberalen Kreisen wurde schon Mitte der 70er Jahre für ein Mindesteinkommen plädiert. Ähnlich wie mit dem heute von der FDP geforderten Bürgergeld wurde so versucht, das solidarisch finanzierte Versicherungssystem zugunsten eines staatlichen Existenzminimums für alle abzuschaffen. Die Absicherung von Lebensrisiken sollte weitgehend privatisiert und die Unternehmen von Lohnkosten entlastet werden. Dieses Anliegen besteht fort, es erhält durch die Debatte um den Wirtschaftsstandort Deutschland und die Demontage des Sozialstaats neue Schubkraft. [] [] Grundsicherung im Bundestag. [] [] In der Debatte am 30. September 1993 erläuterte Petra Bläss das Anliegen des Gesetzentwurfes der PDS/Linke Liste u.a. mit den Worten: "Das Konzept, das wir heute ... auf den parlamentarischen Weg bringen möchten, ist ein Konzept von Arbeit und sozialer Sicherung für alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Familienstand, Nationalität und Weltanschauung. Wir gehen davon aus, daß jede/r das Recht auf ein Einkommen haben muß, das ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht und Armut abwendet. [] [] Die Lösungsvorschläge gehen davon aus, daß alle Bürgerinnen und Bürger das Recht haben müssen, ihren Lebensunterhalt durch freigewählte Arbeit zu menschenwürdigen und gerechten Bedingungen zu verdienen. Zugleich soll die Grundsicherung ein Ausgleich für die derzeitige Unfähigkeit der Gesellschaft sein, allen ihren Mitgliedern in ausreichendem Maße bezahlte Arbeit zur Verfügung zu stellen. Das Konzept wahrt vor Altersarmut und sichert Menschen mit Behinderungen. Es schließt ein, Kinder und jugendliche als selbständige Persönlichkeiten anzuerkennen und elternunabhängig zu sichern. [] [] Unsere Lösungsvorschläge sind teuer, insgesamt 155 Milliarden DM ergeben die Berechnungen. Unser Finanzierungsvorschlag liegt jenseits von höherer Beitragsbelastung und weiterer Staatsverschuldung. Wir wollen mit der Unterbindung von Steuerhinterziehung und Wirtschaftskriminalität die Gelder mobilisieren, die jährlich in dreistelliger Milliardenhöhe - wie Sachverständige unlängst im Finanzausschuß bestätigten - der Staatskasse entzogen werden." [] [] Grundsicherung kontrovers. [] [] Wolfgang Mecklenburg von der CDU/CSU reagierte als erster mit den Worten: "Das hat uns gerade noch gefehlt ... Wir dürfen den vordergründigen Verlockungen von sozialen Grundsicherungsmodellen nicht auf den Leim gehen, egal, wie sie sich nennen und egal, von wem sie kommen. Solche Modelle sind letztlich unbezahlbar. Wenn Sie meinen, daß Sie das mit der Verhinderung von Steuerhinterziehungen und so üblichen, Schlagwörtern finanzieren können ... Das ist doch völliger Verlust der Realität." [] [] Barbara Weiler von der SPD konzentrierte sich auf eine soziale Grundsicherung im Alter, dazu hatte die SPD bereits im Mal '92 einen eigenen Antrag vorgelegt. Zum Konzept der PDS/LL erklärte sie: "Bei der Analyse der Probleme stimmen wir überein ... Bei aller Sympathie für das gemeinsame Grundanliegen: Die Finanzierungsvorschläge Ihrer Gruppe gehen völlig an der Realität vorbei. 155 Mrd. DM kostet Ihr Modell, wo wir um jede Milliarde kämpfen." [] [] Eva Pohl, Ostabgeordnete der FDP, bemängelte, daß das Konzept der PDS/Linken Liste "dem gegliederten System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik widerspricht ... Im Bereich der Rente würde es z.B. die Grundlage des bestehenden Systems der lohn- und beitragsbezogenen Rente zerstören, wohlgemerkt, jenes System, das seit über hundert Jahren besteht und sich als größtes soziales Sicherungssystem in der Bundesrepublik Deutschland bewährt hat." Weiter greift sie an, daß das Konzept ein Katalog von populistischen Fragmenten aus sozialistischer Zeit" sei, und sie fährt fort: "Ich möchte hier jedoch nicht ... über solche auf die Wiedereinführung des Sozialismus zielende sogenannte Prämissen sprechen wie den Rechtsanspruch auf Arbeit ... Lassen Sie mich zu dem, wie mir scheint, zentralen Kritikpunkt gegenüber der Grundsicherung kommen, Vollkaskomentalität. Unser Grundgesetz verlangt den freiheitlichen Sozialstaat. Ziel des Sozialstaates kann aber nicht der allumfassend versorgte und betreute Mensch sein. Im Gegenteil, für uns Liberale muß jeder einzelne die Verantwortung für sich selbst und seine Freiheit zur eigenen Lebensentscheidung behalten." [] [] Die Armutsproblematik in Deutschland anerkennend stellte Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen) den eigenen Gesetzentwurf für eine Grundsicherung im Alter als "Teillösung ... von einer notfallorientierten zu einer menschenrechtsbegründeten Sozialpolitik" vor. Er schloß seine Begründung mit den Worten: "'Ihr habt allezeit Arme bei Euch', sagt Jesus. Er meinte damit gewiß nicht, man könne gegen Armut nichts tun." [] [] Armut im reichen Deutschland. [] [] Im Positionspapier der Nationalen Armutskonferenz in der BRD vom Januar 1993 heißt es: "Die Bundesrepublik ist - auch nach der Vereinigung - eines der reichsten Länder der Erde. Dennoch hat sich seit Anfang der 80er Jahre Armut wieder zu einem zentralen sozialpolitischem Problem entwickelt ... Bei einem insgesamt hohen Versorgungsniveau der Bevölkerung wächst die Zahl derer, die in einem oder mehreren Bereichen wie Wohnen, Arbeit, Bildung, Gesundheit keine ausreichende Versorgung finden." [] [] Zur sozialen Wirklichkeit in der Bundesrepublik gehört: [] Über sechs Millionen Menschen sind arbeitslos oder haben kein reguläres Arbeitsverhältnis, täglich wächst die Zahl in Ost und West. [] Zehntausende Jugendliche, vor allem im Osten, suchen vergeblich nach geeigneten Ausbildungsplätzen. [] Etwa ein Drittel der Arbeitslosen bekommt keine Leistungen vom Arbeitsamt. Mit der Kürzung der Lohnersatzleistungen und der zeitlichen Begrenzung des Arbeitslosenhilfebezugs auf zwei Jahre werden schlagartig zusätzlich mehrere Hunderttausend in die Sozialhilfe abgedrängt. [] Von schätzungsweise 6 bis 8 Millionen Sozialhilfeberechtigten überwinden sich nur 4 Millionen zum entwürdigenden Gang aufs Sozialamt. [] Millionen Frauen haben nur von ihren Ehemännern abgeleitete Versicherungsansprüche. Immer mehr ostdeutsche Frauen geraten in diese, im Westen seit Jahren ausgeprägte Lage. [] Knapp eine Million Menschen hat kein Dach über dem Kopf oder lebt in Notunterkünften. [] Mindestens eine Million Kinder ist direkt von Armut betroffen. [] Viele Studierende sichern ihre Existenz nur durch Nebenerwerb, das verlängert die Studienzeit unverantwortbar. [] Asylbewerberinnen und Asylbewerber erhalten statt Sozialhilfe vor allem Sachleistungen und ein bescheidenes Taschengeld von 80 DM im Monat. [] Altersarmut ist hunderttausendfach vorhanden und vor allem weiblich. [] [] Wer in diesem Sozialstaat Bundesrepublik pflegebedürftig wird, gerät fast schon automatisch in die Abhängigkeit von der Sozialhilfe und hat im Heim nur ein Taschengeld zur Verfügung. Auch die jüngsten Vorschläge der Regierungskoalition für ein neues Pflegegesetz werden an diesem Sachverhalt nichts Wesentliches ändern. [] [] Wer soll was bekommen? [] [] Die Höhe des Grundsicherungsbetrages soll sich am durchschnittlichen Nettoeinkommen orientieren. Eine Empfehlung des EG-Ministerrats für Einkommensstandards zur Verhinderung von Armut geht von der Hälfte des jeweiligen Durchschnittseinkommens eines Landes aus. Für die Bundesrepublik Deutschland wären das gegenwärtig ca. 1250 DM. [] [] Der Vorschlag der PDS/Linke Liste [] [] Während der gesamten Dauer von Arbeitslosigkeit sowie für Rentnerinnen und Rentner sind mindestens 1250 DM monatlich zu zahlen. [] Studierende werden mit einem Stipendium von 1250 DM gesichert. [] Schülerinnen und Schüler höherer Klassen erhalten 40 Prozent des Durchschnittseinkommens, also derzeit 1000 DM; in gleicher Höhe sollte eine Mindestausbildungsvergütung fixiert werden. [] Das Kindergeld wird auf 20 bis 30 Prozent des Durchschnittseinkommens erhöht und - gestaffelt nach dem Alter des Kindes - in Beträgen von 500 DM, 625 DM und 750 DM gezahlt. [] Die Sozialhilfe erhält ihre eigentliche Funktion als Hilfe in besonderen Lebenslagen zurück. Sie dient u.a. der Unterstützung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, aber auch mit dem vollen Grundsicherungsbetrag. [] [] Wir wollen dieses Konzept schrittweise, unter Einlösung folgender Prinzipien durchsetzen: [] vorleistungsunabhängige Gewährung der Grundsicherung, [] Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung und [] Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht. [] [] Dazu halten wir es für vertretbar, vorerst die Beträge beim Kindergeld auf generell 250 DM zu beschränken, womit sich der Finanzbedarf für den Einstieg in die soziale Grundsicherung von 155 Milliarden DM auf 75 Milliarden DM reduzieren würde. Das entspräche etwa der Hälfte der Summe, die nach Expertenschätzung der Staatskasse durch Steuerhinterziehung und andere Formen der Wirtschaftskriminalität entzogen werden. [] [] Eine besondere Bedeutung hat das Konzept der sozialen Grundsicherung für die Kommunen: Ihre Haushaltskassen würden um mindestens 16 Milliarden DM - derzeitige Sozialhilfeleistungen - entlastet. [] [] Herausgeberin: PDS/Linke Liste im Bundestag [] Arbeitskreis "Ökologie, Soziales, Wirtschaft", Arbeitsgruppe Soziales, 53113 Bonn, Bundeshaus [] Redaktion: Petra Bliss (V.i.S.d.P.), Dr. Martina Bunge, Dr. Heidi Knake-Werner [] Reduktionsschluß: 3. 11. 1993 [] Fotos: Brigitte Kraemer, Joker
Published:16.10.1994