Richters neue Legende

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Richter's neue Legende [] Der Dolchstoß gegen den Frieden [] Von Wenzel Jaksch [] Zu den Waffen des deutschen Rechtsradikalismus gehört auch heute wieder die zur Verleumdung der politischen Gegner und zur Irreführung des Volkes bestimmte...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Bundesvorstand
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 08.1949 - 04.1950
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/716952A4-D7A2-4276-96BB-C8841FD86CBA
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Richter's neue Legende [] Der Dolchstoß gegen den Frieden [] Von Wenzel Jaksch [] Zu den Waffen des deutschen Rechtsradikalismus gehört auch heute wieder die zur Verleumdung der politischen Gegner und zur Irreführung des Volkes bestimmte Geschichtsfälschung. Der kürzlich zum Vorsitzende der "Deutschen Reichspartei" ernannte Bundestagsabgeordnete, Dr. Richter, der aus dem Sudetengebiet kam und aus dem niedersächsischen Schuldienst entlassen wurde, weil er seine Schüler Aufsätze über die durch "Verrat" verschuldete Niederlage des Hitler-Reiches schreiben ließ, hat in letzter Zeit in Versammlungen und Interviews die während der Hitler-Herrschaft ins Exil gegangenen Sozialdemokraten, besonders die Sudetendeutschen, des Landesverrats bezichtigt, obwohl es weltbekannt ist, daß gerade die sudetendeutschen Sozialdemokraten im Exil unermüdlich gegen die Austreibungsabsichten der tschechoslowakischen Regierung und der Sowjets ihre Stimme erhoben haben. Wenzel Jaksch, der als Vorsitzender der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei ins Exil nach England ging, wo er die "Treugemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten" leitete, und vor einiger Zeit nach Deutschland übersiedelte, nimmt hier gegen die Kampfesweise der Richter, Remer und Hedler Stellung und weist auf die schwere Mitschuld der sudetendeutschen Henlein-Nazis am Kriegsausbruch und an der Katastrophe hin, die über die Welt und mit besonderer Heftigkeit über die Deutschen im Osten und Südosten kam. [] Der Herausgeber [] In dieser grotesken Welt geschieht momentan zweierlei: [] Alle Freunde des deutschen Volkes machen verzweifelte Anstrengungen, die These von der deutschen Kollektivschuld zu zerstören, und in Deutschland selbst geht der Bundestagsabgeordnete Dr. Richter mit einer neuen Dolchstoßlegende hausieren, deren Effekt ein freiwilliges Bekenntnis zu einer deutschen Kollektivverantwortung für den zweiten Weltkrieg wäre. [] Die Anhänger der Kollektivschuld-These stützen sich auf die Behauptung, der Hitlerkrieg sei von Anfang bis Ende mit begeisterter Zustimmung des deutschen Volkes geführt worden. Genau der gleichen Meinung ist Herr Dr. Richter von der "Deutschen Reichspartei". Er möchte nachträglich jeden, der nicht mit Begeisterung für Hitler gekämpft hat, zu einem Verräter an der Sache des deutschen Volkes stempeln. [] Mit verteilten Rollen [] Auch Herr Remer ist der Meinung, daß es die nationale und vaterländische Pflicht jedes Deutschen war, Hitlers Verbrechen mitzumachen und sie womöglich vollenden zu helfen. Er hat sich die Männer des 20. Juli zur Zielscheibe seiner Dolchstoßvorwürfe ausgewählt. Dr. Richters Lieblingsthema ist hingegen der "Verrat" der sozialistischen Emigration am Dritten Reich. Gerne nimmt er in Kauf, daß ein Victor Gollancz als Engländer und Jude für Deutschland Partei ergreift. Die deutschen Sozialdemokraten aber, die während des Krieges mit Victor Gollancz in einer Front für Freiheit und Menschlichkeit stritten, sind nach Richters Meinung dem deutschen Volke "in den Rücken gefallen". Gegenüber dem Bonner Korrespondenten der "Frankfurter Rundschau" hat er unlängst die Tätigkeit der "Treugemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten" in England als "Beweis" zitiert, daß heutige "SPD-Leute" den "Dolchstoß" geführt hätten. Dabei verläßt sich Herr Dr. Richter auf die Uninformiertheit seines Publikums in sudetendeutschen Dingen. [] Wie der Krieg verloren ging, das haben ja die Menschen in Deutschland selbst erlebt und darüber mit Dr. Richter zu streiten, wäre müßig. Wichtiger ist die Klarstellung, wie mutwillig und verbrecherisch dieser Krieg angefangen wurde. Hierüber ist der Sudetennazi Dr. Richter dem deutschen Volke ein Stück Rechenschaft schuldig. [] Die Geheimgeschichte von 1937 - 1938 [] Vor zwölf Jahren ist der Friede verraten worden, und nur wenige Zeitgenossen kennen die Geschichte jenes Verrats. Es ist nicht richtig, daß der zweite Weltkrieg wegen der Sudetendeutschen ausgebrochen ist. Wahr ist jedoch, daß die politischen Kumpane Dr. Richters im Sudetenland Adolf Hitler geholfen haben, den Friedenswillen des deutschen Volkes zu überspielen. Zu diesem Urteil kommt auch das umfassende Werk des englischen Historikers J. W. Wheeler Bennet über die politisch-diplomatische Vorgeschichte des Hitlerkrieges ("Munich - Prologue to Tragedy", London 1948), welches sich weitgehend auf amtliche deutsche Dokumente aus dem Nürnberger Hauptprozeß stützt. Darunter befindet sich auch das Protokoll jener schicksalhaften Beratung Hitlers mit den Chefs der deutschen Wehrmacht und Kriegsmarine (v, Blomberg, v. Fritsch, Raeder, Göring) und dem Reichsaußenminister v. Neurath, die am 5. November 1937 in der Reichskanzlei stattgefunden hat. Dort ging Hitler von der These aus, "Deutschland habe von einer langen Friedensperiode nichts zu gewinnen". Die Aufgabe der deutschen Politik sei daher, so fügte er hinzu, die Vergrößerung des Lebensraums, hauptsächlich "landwirtschaftlich nutzbaren Raumes". Als Weg hierzu skizzierte Hitler die Machtausdehnung in Zentraleuropa als Sprungbrett nach Polen und nach der schwarzen Erde der Ukraine. Die Unterwerfung Oesterreichs und der Tschechoslowakei sollte dazu die erste Etappe sein. Der Angriff auf die Tschechoslowakei müsse "blitzartig schnell" erfolgen. [] Am Anfang der totalen Niederlage stand also das klar definierte Eroberungsprogramm Hitlers vom 5. November 1937. Die Armeeführer waren erschrocken. Blomberg verwies darauf, daß die tschechischen Grenzbefestigungen für jede Angriffsoperation ein großes Hindernis bedeuten würden. Neurath und Fritsch bezweifelten, daß sich Frankreich und England in Zentraleuropa desinteressieren würden. Sogar der Prahlhans Göring wünschte vorerst eine Liquidierung der militärischen Verbindlichkeiten des Dritten Reiches in Spanien. Von da ab datierten die Versuche der Armeespitzen, gegen Hitlers Kriegspläne zu konspirieren. Von Fritsch stürzte über seine Opposition gegen den Einmarsch in Oesterreich. Von Beck trat von seinem Posten als Chef des Generalstabes zurück, nachdem Hitler Anfang Juni 1938 auf dem Truppenübungsplatz Jüterbog noch mehr seine Angriffsabsichten gegen die Tschechoslowakei unterstrichen hatte. Becks Nachfolger Halder wollte die Ausführung dieser Absicht mit einem Militärputsch beantworten. [] Kriegswillige Zivilisten [] Die weit in der Welt bekannten Geschichtsakten sagten also aus, daß führende deutsche Militärs im Laufe des Schicksalsjahres 1938 Karriere und Leben aufs Spiel setzten, um Hitlers Krieg zu verhindern, Hitler fand unter den Zivilisten willigere Werkzeuge, um nur den Einbläser Ribbentrop zu nennen, der von der Nichteinmischung des "dekadenten" England überzeugt war. Wesentlich kleinere, aber unentbehrliche Handlangerdienste leisteten der Katastrophenpolitik des "Führers" die sudetendeutschen Naziführer, Henlein, K.H. Frank und Konsorten. Am 28. März desselben Jahres fuhr Henlein persönlich nach Berlin, um sich von Ribbentrop und Hitler die nötigen Instruktionen zu holen, Die Weisungen lauteten, Henlein und seine Partei sollten radikale innerpolitische Forderungen aufstellen, aber diese so hoch schrauben, daß kein Ausgleich mit den Tschechen zustande kommen könne. Von da ab ging die Komödie über die Bühne, bei der Henlein als radikal gewordener Autonomist und Hitler als künftiger Erlöser der Sudetendeutschen auftraten. [] Im September 1938 wurde dann der europäische Friede verspielt. Ein großer Teil des deutschen Volkes ist damals über die wahren Absichten der Reichsführung getäuscht worden. Viele glaubten, Hitler wolle bloß mit der Unterdrückung der Grenzdeutschen Schluß machen. Auch im Kabinett Chamberlain überwog die Auffassung, Hitler ginge es um die Wiederherstellung des Selbstbestimmungsrechtes der Sudetendeutschen und der Danziger. Darum wurde im Hochsommer 1938 Lord Runciman nach Prag beordert, damit er zwischen Tschechen und Sudetendeutschen vermittle. Für die Sudetendeutschen ergab sich damit die einzigartige Gelegenheit, mit Hilfe einer westeuropäischen Großmacht ihre Stellung zu verbessern. Der deutschen Opposition eröffnete sich die Aussicht, daß Hitler mit Hilfe der englischen Diplomatie der nächste Kriegsvorwand aus der Hand geschlagen werden könnte. So kam denn auf englischen Vorschlag jener "Vierte Plan" zustande, der die Sudetendeutschen zum Range eines zweiten Staatsvolkes neben den Tschechen erhoben hätte. Die gemäßigten Führer der Henleinpartei wollten darüber verhandeln, aber aus Berlin kam der Befehl zum Abbruch der Verhandlungen. In seiner Nürnberger Parteitagsrede vom 12. Sept. forderte Hitler dann die Sudetendeutschen zur Revolte auf, aber kaum zehn Prozent von ihnen folgten der Parole. Der Aufstand brach kläglich zusammen, Henlein und seine Unterführer flohen ins Dritte Reich. Im Altreich selber herrschte völliger Mangel an Kriegsstimmung. Die Opposition schöpfte Mut. In der Reichsführung herrschte Angst und Verwirrung. Mitte September 1938 hatte sich die letzte Möglichkeit aufgetan, den Frieden zu retten und die nationalsozialistische Diktatur ohne Krieg loszuwerden. [] Die Entscheidung von München [] Als Chamberlain zuerst nach Berchtesgaden, dann nach Godesberg und schließlich nach München flog, hat er Hitler aus der größten Verlegenheit gerettet und der deutschen Opposition ihre beste Chance entwunden. Wegen dieser Regenschirmpolitik sind Chamberlain und seine Mitarbeiter in England heftig genug kritisiert worden. Es bleibt daneben aber noch eine innerdeutsche Verantwortung zu klären gegenüber jenen Kräften, die Hitler unterstützt haben in dem vollen Bewußtsein, daß er wahnwitzige Welteroberungspläne verfolgte. Deshalb will ich Herrn Dr. Richter daran erinnern, daß wir schon damals in verschiedenen Schützengräben lagen, als der Dolchstoß gegen den Frieden geführt wurde. Wir sudetendeutschen Sozialdemokraten haben damals auf der Seite der deutschen Freiheitskräfte gestanden. Seit 1933 war uns im Grenzland die Pflicht zugefallen, jenen Menschen beizustehen, die wegen ihrer politischen Gesinnung oder aus Glaubensgründen von Hitler und seiner Gestapo vertrieben worden sind. Was taten zur gleichen Zeit die fanatischen Sudetennazis als deren Konkursmasseverwalter sich nunmehr Herr Dr. Richter fühlt? Sie stellten schwarze Listen von politischen Gegnern auf, die nach dem Anschluß der Gestapo übergeben werden sollten. 20000 Sudetendeutsche Sozialdemokraten sind diesen Denunziationen zum Opfer gefallen und im Oktober 1938 in die Konzentrationslager des Dritten Reiches verschleppt worden. Viertausend konnten sich ins freie Ausland retten, je tausend davon nach England und nach Kanada, und diese sollen nach der Meinung Dr. Richters den "Dolchstoß" gegen das "Dritte Reich" geführt haben. Er hätte sie lieber in Dachau oder Buchenwald den "Heldentod" sterben gesehen! [] Wer verriet die Heimat? [] Herr Dr. Richter hat der Wahrheit einen unfreiwilligen Dienst erwiesen, indem er das Protokoll der Landeskonferenz sudetendeutscher Sozialdemokraten in England vom Nov. 1943 als Beweisstück für seine Dolchstoß-Behauptungen zitierte. Auf dieser Tagung ist in Gegenwart führender französischer und belgischer Sozialisten noch einmal der Austreibungsparole der tschechischen Exilregierung der Anspruch des Sudetenvolkes auf autonome Selbstverwaltung in einer vom Faschismus gereinigten Heimat entgegengesetzt worden. Auf dieser Konferenz wurde auch festgestellt, daß emigrierte sudetendeutsche Sozialdemokraten in alliierten Armeen dienten. Dr. Richter spekuliert auf die Unkenntnis der Auslandsverhältnisse in deutschen Kreisen, wenn er daraus seinen Angriff fabriziert, "SPD-Leute" hätten den "Dolchstoß" geführt. Er verschweigt bloß, daß damals die englische Regierung das Münchener Abkommen bereits feierlich widerrufen hatte, und daß damit die exilierten Sudetendeutschen als Angehörige eines alliierten Staates galten und daher dienstpflichtig waren! Niemals wird Herr Dr. Richter den moralischen Mut haben, aus jenem Konferenzprotokoll vom 7, Nov. 1943 die folgenden Sätze einer Botschaft zu zitieren, welche die sudetendeutschen Sozialdemokraten auf illegalen Wegen an ihre Landsleute in der Heimat richteten: [] "Die Tage der Achse sind gezählt. Es geht um die einzige Frage, wieviel Menschen noch sinnlos sterben sollen. Je länger der Krieg, desto schlimmer das Ende. Die Welt steht vor dem Rätsel, wie lange unser Volk diese Politik des Selbstmordes noch mitmachen will. [] Wir wirken als Diener der leidenden Heimat. Wir verteidigen in vielen Sprachen die Unschuldigen, ihre Leiden und Opfer. Bis zum Massenmord von Lidice fanden wir viel Verständnis. Seither wird es immer schwerer. K. H. Frank bedeckt unser Volk mit Schande. Er ist ein Totengräber der Heimat. Alle, die ihm helfen, mögen es wissen. Sie fordern ein furchtbares Schicksal heraus." [] Getrieben von der gleichen Sorge um die Zukunft der Heimat gingen ein Jahr darauf sudetendeutsche Sozialdemokraten aus dem sicheren Exil illegal ins Sudetenland zurück, um bei einem letzten Rettungsversuch mitzuhelfen. Das Scheitern der Aktion des 20. Juli 1944 war auch für sie das Todesurteil. Die Nazis waren aber so wahnwitzig, Hitlers längst verlorenen Eroberungskrieg noch in Bayern und Böhmen weiterzuführen, bis das Verhängnis des deutschen Volkes vollendet war. Jener Dr. Richter, dem der Krieg bis zum Weißbluten noch zu kurz war, ist ein Totengräber der Heimat, wie seine Vorbilder Konrad Henlein und K, H, Frank es gewesen sind. Derselbe Ungeist, der 1938 den Dolchstoß gegen den Friedenswillen des deutschen Volkes geführt hat, versetzte nach dem 20. Juli 1944 der Heimat von 20 Millionen Ostdeutschen den Todesstoß. [] Herausgeber: Partei-Vorstand der SPD
Published:08.1949 - 04.1950