Offener Brief an den Herrn Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Erich Ollenhauer

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Den Parteivorständen zur Verbreitung [] Den Wahlrednern zum Vorlesen in Versammlungen [] Den Redaktionen zum Nachdruck [] Den Betriebsleitern zum Umlauf unter der Belegschaft [] Der SPD und dem DGB zur Besinnung [] Offener Brief [] an den He...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Koester, Bernhard
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 06.09.1953
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/B8BD21E3-C012-409B-8DAD-2C23AB98D31B
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Den Parteivorständen zur Verbreitung [] Den Wahlrednern zum Vorlesen in Versammlungen [] Den Redaktionen zum Nachdruck [] Den Betriebsleitern zum Umlauf unter der Belegschaft [] Der SPD und dem DGB zur Besinnung [] Offener Brief [] an den Herrn Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands [] Erich Ollenhauer [] Sehr geehrter Herr Ollenhauer! [] Seit Sie die Führung der SPD und der Opposition übernommen haben, sind die Gegensätze zwischen Koalition und Opposition, d. h. die Gegensätze innerhalb des deutschen Volkes erschreckend vertieft worden. Das ist um so bedenklicher, als eine Aufsplitterung unserer Kräfte angesichts der sowjetischen Bedrohung Deutschland, Europa und die gesamte freie Welt schwer gefährdet. Dieser Umstand gibt mir nicht nur das Recht, sondern macht es mir, wenn der Begriff Demokratie kein leeres Wort sein soll, zur staatsbürgerlichen Pflicht, Ihre Oppositions- und Wahlkampfpolitik öffentlich zu erörtern. Dazu muß ich zunächst [] die Aufgabe der Opposition [] innerhalb eines demokratischen Staatswesens kurz umreißen. [] Vom Standpunkt einer Partei ist die Opposition ein Mittel, an die Macht zu gelangen. Vom Standpunkt des Volkes aus gesehen - und nur dieser Standpunkt zählt für die Allgemeinheit - hat die Opposition die Aufgabe, die Regierung ständig auf Nützlichkeit und Schädlichkeit ihres Handelns zu überprüfen, sie durch sachlich richtige Kritik anzuspornen, weltanschauliche Einseitigkeiten zu korrigieren und darüber zu wachen, daß die Regierung sich nicht Rechte anmaßt, die ihr die Verfassung verwehrt. Wird die Regierung ihren Aufgaben nicht gerecht, so hat die Opposition die Pflicht, die Öffentlichkeit durch sachlich richtige Kritik auf die Fehler ihrer Regierung aufmerksam zu machen. Der Wähler kann dann mit seinem Stimmzettel den Regierungsauftrag in würdigere Hände geben. Zeigt sich die Regierung aber befähigt, das Volk aus einer schwierigen Lage mit Energie und Geschick herauszuführen, dann darf die Opposition diese wichtige Aufbauarbeit nicht durch eine unsachliche Kritik stören, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Opposition durch faire Anerkennung der Verdienste der Regierung um die Aussicht bringt, innerhalb der nächsten Wahlperiode an die Macht zu gelangen. [] Das ist das Idealbild einer parlamentarischen Opposition, wie es - das sei zugegeben - auch in anderen demokratischen Ländern nicht immer erreicht wird. Keines dieser Länder befindet sich aber in einer ähnlich gefährlichen Lage wie Deutschland; keines braucht mithin so nötig eine vorbildliche Regierung und Opposition wie die Bundesrepublik mit ihrer Verantwortung für 18 Millionen vom Volkskörper abgetrennter und brutal unterdrückter Menschen. In einer solchen Lage muß es dem Volk unrichtig erscheinen, welcher Partei seine führenden Männer angehören. Entscheidend ist allein, ob diese Männer genügend Weitblick, Tatkraft und Selbstlosigkeit besitzen, die Schwierigkeiten, die aus Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft erwachsen, zu meistern. [] Hieraus ist zu folgern, daß eine richtig verstandene Opposition die Regierung nicht grundsätzlich kritisieren darf, nur um sie aus politischer Gegnerschaft anzugreifen. Regierung und Opposition gehören vielmehr in lebenswichtigen Fragen der Nation zusammen. Dies gilt um so mehr, je größer die Bedrohung des Volkes von außen ist. [] Betrachtet man die [] Tätigkeit der Opposition [] unter diesen Gesichtspunkten, so kann das Ergebnis nicht befriedigen. Von Ihnen geführt, hat die Opposition nicht einmal in lebenswichtigen außenpolitischen Fragen die Geschlossenheit des deutschen Willens gewahrt, sondern durch eine grundsätzliche Gegnerschaft zur Bundesregierung Gegensätze bis zur Unüberbrückbarkeit geschaffen. Diese Gegnerschaft wurde auch dann bewußt herausgestellt, wenn die Opposition eine überzeugende Kritik oder realisierbare Vorschläge für eine bessere Lösung nicht vorzubringen hatte. Nutznießer dieser Oppositionspolitik waren diejenigen, die an der Schwächung und politischen Zersetzung des deutschen Volkes interessiert sind, nämlich die Sowjets. [] Es bedarf keiner Beweise, daß die Weltlage heute nicht so verworren und ausweglos wäre, wenn die Politiker der westlichen Demokratien rechtzeitig begriffen hätten, worauf die Sowjets hinzielen. Diese Ziele waren der Welt im Jahre 1945 nicht mehr unbekannt. Die Sowjets hatten ihr System seit 1917, also seit 28 Jahren, in Taktik und Strategie vorexerziert. Sie hatten durch ihre Zwangsarbeitslager, die an Zahl und Größe die Konzentrationslager Hitlers weit übertrafen, ihre zynische Menschenverachtung längst offenbart. Aus alledem war die weitere Richtung der sowjetischen Politik unschwer zu erkennen. Trotzdem war man geneigt, die unauslöschliche Leidensgeschichte der Völker der Sowjetunion und der inzwischen besetzten Länder immer sofort zu vergessen, wenn die führenden Männer des Kreml ihrem Gesicht nur ein biedermännisches Lächeln aufzwangen. [] Dieser Haltung der westlichen Politiker sind die Erfolge der Sowjets seit 1945 zuzuschreiben. Die sowjetischen Staatsmänner errangen ihre Erfolge nicht deshalb, weil sie wirklich grob gewesen wären, sondern weil sie in den entscheidenden Jahren [] keine Gegenspieler von Format [] hatten. Erst Korea war nötig, um den verantwortlichen Politikern die Augen zu öffnen. Aber sind die Augen nun wirklich geöffnet? Mitunter möchte man es bezweifeln, wenn man sieht, wie Aufgaben, die für die freie Welt lebenswichtig sind, zur heimlichen Genugtuung des Kreml sorglos zerredet werden, während die Sowjets fieberhaft die Unterhöhlung der freien Welt betreiben. [] Die westlichen Politiker - auch die Vorsitzenden der SPD und des DGB - fragen heute die Verantwortung dafür, daß nicht eine kurzsichtige Politik betrieben wird, die wiederum die Sowjets dazu einladet, den Zustand unentschlossener Schwäche auszunutzen. Nach allem was geschehen ist, könnte sich niemand mehr darauf berufen, er hätte nicht gewußt, worum es gehe. Wenn Politiker anderer Länder, z. B. Frankreichs, die Gefahr in ihrem vollen Ausmaße noch nicht erkennen, so ist dies für deutsche Politiker, die aus den Erfahrungen von 1,3 Millionen leidender Menschen ihres Volkes täglich den besten Anschauungsunterricht erhalten, keine Entschuldigung. Die größere Erfahrung verpflichtet die deutschen Politiker, den führenden Männern der anderen westlichen Demokratien ein überzeugendes und mitreißendes Beispiel geschlossener Willensausrichtung zu geben. [] Statt in dieser Weise vorbildlich zu wirken, hat die Opposition durch das [] Beispiel der inneren Unausgeglichenheit [] Deutschlands die schwankende Haltung westeuropäischer Politiker weiterhin erweicht. Gewiß! Sie und Ihre politischen Freunde bekennen sich unstreitig aus Überzeugung zum Westen, zu Europa und der Menschenwürde in Freiheit. Es ist aber unreal, für den Westen und für die Freiheit einzutreten sich gleichzeitig aber so zu verhalten, daß man den Sowjets nützt, also der freien Welt, zu der man sich bekennt, schadet. [] Auf dieser Ebene zwiegesichtiger Politik liegt der [] Wahlaufruf des DGB, [] dem Sie vorbehaltlos beigetreten sind, den aber noch mehr die Sowjets begrüßt haben werden, weil ihnen die durch den Wahlaufruf angerichtete Verwirrung der Gemüter grade in diesem Zeitpunkt besonders gelegen kommt. Verwirrung weshalb? [] 1. Weil der Wahlaufruf die von der Bundesregierung und dem Bundestag geleistete Aufbauarbeit in einer Weise entstellt, wie es die sowjethörige Ostzonenpresse nicht besser hätte tun können. [] 2. Weil der DGB sich unvermutet als parteipolitische Organisation enttarnt hat. [] Wenn der Vorsitzende des DGB, Herr Walter Freitag, letzteres auch in Abrede stellt, so spricht gegen ihn der Wortlaut des von ihm an erster Stelle unterzeichneten Aufrufes, fast mehr aber noch die Tatsache, daß Sie, der Vorsitzende der SPD, sich vorbehaltlos hinter den Aufruf stellen, ihn also für Ihre Partei in Anspruch nehmen. [] Vermutlich haben Sie, als Sie den Wahlaufruf des DGB vorbehaltlos bejahten, an eine objektive Unterrichtung des deutschen Volkes nicht gedacht; denn [] der Wahlaufruf verrät den Geist von Demagogen, [] wie wir sie in Deutschland nicht mehr wünschen. Die Demagogie besteht darin, daß die Führung des DGB in dem Wahlaufruf mit dem Augenaufschlag Tartüffs darstellt, was sie für die arbeitende Bevölkerung "gefordert", und was die Regierung angeblich nicht erfüllt habe. Man tut so, als sei es schon eine befreiende Tat, etwas für die arbeitenden Menschen zu fordern, und als sei die Nichterfüllung dieser Forderungen nur Böswilligkeit und Unfähigkeit der Regierung. Wer hier nicht klar überlegt, kann leicht irregeführt werden, und dieser Zweck wird offensichtlich angestrebt. Sozialer Fortschritt wird nicht dadurch erzielt, daß man eine Menge Forderungen aufstellt, sondern dadurch, daß man das Erreichbare anstrebt und es mit vereinten Kräften zu verwirklichen sucht. [] Fordert man etwas, wozu die Kräfte der Nation nicht ausreichen, oder etwas, was die Einflüsse der Umwelt verhindern, und nimmt man dann die unerfüllten Forderungen zum Anlaß, Zwietracht innerhalb des eigenen Volkes zu säen, dann verhindert man an sozialem Fortschritt das, was bei sachlicher Einstellung unter Zusammenfassung der Volkskraft zu erreichen gewesen wäre. Man handelt unsozial. [] Deutschland ist [] - was der Wahlaufruf des DGB geflissentlich unerwähnt läßt - [] ein besiegter, amputierter und in seinem Restbestand geteilter Staat innerhalb einer vor Sozialer Spannung brodelnden Umwelt, die durch gegenseitige Anfeindung soziales, wirtschaftliches und politisches Planen erschwert oder gar unmöglich macht. In einer solchen Zeitepoche und nach einem unvergleichlichen Niederbruch Deutschlands hochfahrend Forderungen nach besserer Steuergesetzgebung, nach höherem Lebensstandard, nach Vollbeschäftigung, staatlichen Zuschüssen u. a. zu stellen, ist recht billig. Demagogisch werden solche Forderungen aber, wenn diejenigen, die sie aussprechen, wider besseres Wissen so tun, als wäre Deutschland ein Staatswesen, das nur an seiner Regierung kranke; wenn sie so tun, als läge Deutschland mit unbegrenzten Möglichkeiten inmitten einer gesunden und geordneten Welt; oder wenn sie sich so stellen, als würden sie nach der Wahl allen Umwelteinflüssen zum Trotz die Wunder vollbringen, die sie von der Regierung gefordert haben, und um die sich die Politiker der wirtschaftlich starken Siegerstaaten vergeblich bemühen. [] Der Vorsitzende des DGB und Sie scheinen, wenn man den DGB-Wahlaufruf und die Wahlparolen der SPD betrachtet, der Ansicht zu sein, daß es bei den Bundestagswahlen am 6. September 1953 darum gehe, ob die bisherigen Koalitions- oder Oppositionsparteien gewinnen. [] Gewinnen werden die Deutschen oder die Sowjets. [] Nur diese beiden Parteien liegen im Wahlkampf, was immer auch kurzsichtige Politiker wähnen mögen. Das größte Hindernis auf dem Wege zur Sowjetisierung Westeuropas war die klare Linie in der Außenpolitik der Bundesregierung. Dies ist dadurch erwiesen, daß die Sowjets alles aufbieten, um diese ihnen hinderliche Politik durch den Sturz Dr. Konrad Adenauers zu beseitigen. Wer nicht blind ist und aus den Jahren seit 1945 gelernt hat, weiß, daß die Sowjets den loben, der ihnen nützlich ist, und den beschimpfen, der sie in ihren welterobernden Plänen behindert. Hieraus ist zu schließen, daß derjenige, den sie am meisten beschimpfen - und das ist gegenwärtig Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer - die Sowjetisierung des freien Deutschland am festesten abgewehrt, dem deutschen Volk in den letzten Jahren also den größten Dienst erwiesen hat. Es sollte Ihnen unter diesen Gesichtspunkten zu denken geben, daß die Sowjets Dr. Konrad Adenauer als Bundeskanzler gehässig ablehnen, Sie hingegen akzeptieren wollen. [] Es bedarf nicht der Gabe der Prophetie, folgendes vorauszusehen: [] Wenn nicht Deutschland die kommende Wahl gewinnt, [] wenn die Sowjets durch die Zwietracht und Eigenbrötelei deutscher Politiker diese Wahl für sich entscheiden, wird die SPD ihre Parteiziele schließlich einmal aufzugeben und sich der SED "linientreu" anzugliedern haben. Auch der DGB wird dann nicht mehr die Interessen seiner Mitglieder wahrnehmen dürfen, sondern sie im Auftrage des Staates, ungeachtet des Lebensstandards, zur Erfüllung der Arbeitsnormen anhalten müssen. Ist diese Gefahr weniger schrecklich als die der "Bombennächte", die der DGB-Wahlaufruf mit dem Ziele heraufbeschwört, unfaire Wahlbeeinflussung zu betreiben ? [] Wenn heute Politiker kleine Vorteile suchen, wo es um alles geht, was Menschen je wert und heilig war, wenn sie zögern und kleinlich wägen, wenn sie hadern und streiten, statt sich zu einer unzerstörbaren Schicksalsgemeinschaft mit den von ihnen geführten Völkern zusammenzufinden, werden sie in nicht zu ferner Zeit begreifen lernen, wem sie damit dienten, dann jedoch vor einer unlösbar gewordenen Aufgabe stehen. Sie werden willenlose Werkzeuge der Sowjets sein, welche ihre Blindheit allmächtig machen half. Sie werden in das Joch von Arbeitssklaven gezwängt, gequält, erniedrigt und ausgelöscht werden, wie, es Tausenden von Menschen im Bereich der Sowjetmacht täglich geschieht. Und es wird dann einmal die Zeit kommen, wo der Mensch vergibt, daß man ihn einst das Ebenbild Gottes nannte. [] Auch Sie werden dafür verantwortlich sein! [] Hochachtungsvoll [] BERNHARD KOESTER [] BERLIN W 30, POSTSCHLIESSFACH 11 [] Wenn dieser Offene Brief das wiedergibt, was Sie selbst schon oft empfunden haben; wenn Sie helfen wollen, die Zersplitterung unseres politischen Lebens zu überwinden, dann wenden Sie sich an die obige Anschrift.
Published:06.09.1953