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Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Die Flugschrift gibt Redeauszüge von Willy Brandt, Herbert Wehner und Karl Schiller auf dem SPD-Parteitag in Saarbrücken vom 11.5.1970 - 14.5.1970 wieder. SPD Schnelldienst [] Landtagswahl 1970 [] Die sichere Hand für unser Land [] Nachstehend bringen wir eine Reihe kurzer Auszüge aus Reden, die während des Parteitags in Saarbrücken gehalten wurden. [] Willy Brandt: Wir stehen vor wichtigen Landtagswahlen [] Der SPD-Vorsitzende, Bundeskanzler Willy Brandt, sagte in Saarbrücken u. a.: "Die deutsche Gesellschaft hat ihrer ältesten Partei die Führung des Staates nicht oft überlassen. Wenn sie es tat, hat sie es allerdings niemals zu bereuen brauchen. Diese Partei hat ihrem Volk niemals Schaden zugefügt. Die deutsche Geschichte der letzten hundert Jahre wäre einen besseren Weg gegangen, wenn die Sozialdemokraten ihn früher und öfter hätten bestimmen können. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dürfen und müssen wir hieran erinnern ... [] Nun stehen wir vor wichtigen Landtagswahlen. Sie gelten als Bewährungsprobe für die sozial-liberale Koalition. Ich bin davon überzeugt, daß wir diese Probe gut bestehen werden. Aber dazu gehört zweierlei: [] Es gehört dazu einmal die Bereitschaft, mit dem Koalitionspartner vertrauensvoll zusammenzuarbeiten und sich mit ihm zusammenzufinden bei der Suche nach vernünftigen Lösungen in der Reformpolitik. Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, daß dies möglich ist. Ich möchte diese Gelegenheit benutzen, den führenden Männern der Freien Demokraten, insbesondere dem Vorsitzenden Walter Scheel für die bisherige Zusammenarbeit ausdrücklich zu danken. [] Wir müssen zum anderen ganz deutlich sehen, daß die CDU/CSU durch den übergang zur Opposition durchaus nicht zur Splitterpartei geworden ist. Die Unionsparteien sind in der Lage, beträchtliche Wählerschichten zu mobilisieren. Vor vier Jahren, in Dortmund, sprach ich von einem relativen Gleichgewicht der Kräfte in der Bundesrepublik. Dies gibt es auch heute, freilich zu unseren Gunsten. [] Ich bin zwar davon überzeugt, daß die Mehrheit für die Politik, der Regierung im Lande nennenswert größer ist als sie im Stimmenverhältnis des Bundestages zum Ausdruck kommt; wir müssen uns aber vor Augen halten, daß es erforderlich ist, die Bevölkerung ständig von der Richtigkeit unserer Politik zu überzeugen und diese Politik den gegebenen Möglichkeiten anzupassen, damit wir das in uns gesetzte Vertrauen nicht vergeben, sondern verstärken. [] Wir brauchen Zielvorstellungen und Zukunftsplanungen. Aber bloße Utopien nimmt man uns nicht ab. Die Menschen, um deren Vertrauen wir ringen, erwarten eine Politik der praktischen Vernunft, nicht der verbal-revolutionären Akrobatik. Wenn ich das sage, so verkenne ich nicht die Bedeutung der theoretischen Arbeit. Ich verkenne auch nicht die Bedeutung eines idealistischen Aktivismus, der die Lässigen zum Eifer und die Säumigen zur Eile antreiben will. Beides ist notwendig, für beides ist in unserer Partei Raum. [] Für beides muß Raum sein. Die SPD würde sich selbst aufgeben, wenn sie die Freiheit der Meinungsbildung in ihren eigenen Reihen beschneiden wollte. Aber es gilt auch, Entscheidungen zu treffen. Die Fähigkeit dazu darf nicht eingeschränkt werden. Und es gilt auch, zu verhindern, daß die Anhänger und die Wähler unserer Partei durch nebulöse Schlagworte verwirrt werden. Es gilt andererseits, uns selbst nicht verwirren zu lassen durch Klugredner, die uns einen blinden Pragmatismus andichten wollen. [] Soziale Demokratie verwirklichen [] Die jetzige Phase in der Entwicklung der deutschen und europäischen Sozialdemokratie, die Aufgabenstellung für die siebziger Jahre, handelt von der Verwirklichung der sozialen Demokratie. Wir sind überzeugt: Ohne Demokratie in Staat und Gesellschaft, ohne Mitbestimmung und ohne Mitverantwortung in allen großen Bereichen wird es keine stabile Demokratie geben. Die Aufgaben der Zukunft, wie wir sie sehen, sind nur auf dem Wege und mit den Mitteln der Demokratisierung zu bewältigen. Deshalb bezeichne ich als die politische Richtlinie der Sozialdemokratischen Partei für die siebziger Jahre die Verwirklichung der sozialen Demokratie, das heißt die Demokratisierung unserer Gesellschaft. Und Demokratisierung heißt hier damit es keine Unklarheiten gibt - zielstrebiger Abbau von Privilegien auf allen Gebieten. [] Die Auseinandersetzung um diese Frage wirkte mitten in den Wahlkampf hinein. Und Herr Strauß hat erst kürzlich in Anlehnung an die Thesen des Herrn Heck behauptet, für die Union gebe es Demokratie nur im staatlichen Bereich, nicht aber in der Gesellschaft. Ich wiederhole, was ich dazu bei früherer Gelegenheit gesagt habe: Hier handelt es sich um eine echte Alternative. Wir haben den Kampf um diese Alternative aufgenommen und wir werden diesen Kampf durchstehen. [] Der Verfassungsauftrag lautet, daß diese Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Bundesstaat sein soll. Eine der großen Aufgaben unserer Gesellschaft für die siebziger Jahre - und bestimmt darüber hinaus - heißt deshalb Mitbestimmung. Sie wird oft viel zu eng aufgefaßt. Sie ist nicht nur auf das Wirtschaftsleben beschränkt, und sie ist auch keinesweg etwas, das nur vom Gesetzgeber geregelt werden kann ... [] Permanente Verbesserung der Lebensbedingungen [] Das wirtschaftliche Leistungspotential unseres Volkes ist groß genug, um die Möglichkeit einer permanenten Verbesserung der Lebensbedingungen aller kontinuierlich zu erhöhen. Doch es wird für die künftigen Aufgaben nur groß genug bleiben, wenn wir eine bessere Infrastruktur und bessere Umweltbedingungen schaffen. Zukunftsorientierte Stätten der Ausbildung und Bildung, erfolgreiche Gesundheitsvorsorge, ein funktionierendes Verkehrssystem und befriedigende Wohnverhältnisse sind nicht nur gesellschaftspolitisch notwendig, sie tragen gleichzeitig wesentlich dazu bei, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu steigern ... [] Wenn die vom Wissenschaftsrat und Minister Leussink gefütterten Computer richtig gerechnet haben, werden wir im Jahre 1980 rund 100 Milliarden für Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen bereitzustellen haben. Das ist mehr als die Gesamtsumme des Bundeshaushaltes 1970, und das würde - auch bei noch so kräftigem Wachstum - mindestens eine Verdoppelung des gegenwärtigen Anteils der Bildungsausgaben am Sozialprodukt bedeuten. [] Nun sind wir Sozialdemokraten jahrelang dafür eingetreten, die Bildungsreform an die Spitze der Dringlichkeitsliste notwendiger Gemeinschaftsaufgaben zu stellen. Die Größe der Aufgabe kann uns nicht schrecken. Aber wir müssen wissen - und das in Qualität und Quantität -, daß weitere zahlreiche und dringliche Aufgaben zu erfüllen sind. Bildungsinvestitionen sind Investitionen in die Zukunft. Und doch darf eine noch so folgerichtige Zukunftsplanung sich vor der heutigen Not nicht blind und taub stellen. [] Bildung für jedermann [] Wir Sozialdemokraten werden das auch nicht tun. Um so notwendiger ist eine Gesamtschau der künftigen Aufgaben und neben der Qualifizierung unserer Zielvorstellungen die jeweilige Quantifizierung. Um noch einmal die Bildungspolitik als Beispiel zu nehmen: Wir sind mit viel Sachverstand - und gelegentlich auch mit Bildungsvorstellungen, die übersehen, daß die Bildung der einen immer nur durch die Arbeit anderer bezahlt werden kann - dabei, Weg und Inhalt der Bildung, vom Kindergarten bis zur Universität, neu zu durchdenken und zu programmieren. Ich meine, wir haben auch für die Bildungschancen jener, die mit 15 Jahren von der Schule an den Arbeitsplatz kommen, mit gleicher Energie und schöpferischer Phantasie Pläne zu entwickeln, um das Tor zur Bildung für jedermann weiter aufzustoßen ... [] Unsere ersten außenpolitischen Entscheidungen in der neuen Bundesregierung galten a) der Ankurbelung der westeuropäischen Integration, b) der Unterzeichnung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen und c) der Einleitung seriöser Gespräche mit den Nachbarn im Osten. Das bedeutet kontinuierliche Weiterführung unserer Politik. Vor einer Wende stehen nicht wir, sondern die Herren Strauß und Barzel mit ihren Parteien. Sie müssen sich entscheiden, ob sie die Politik ihrer leeren Formeln fortsetzen wollen, unter denen sich die Spaltung vertieft hat. Sie müssen sich entscheiden, ob sie sich weiter der politischen Unfruchtbarkeit verschreiben wollen mit Formeln, die einer Gebetsmühle gleichen: Sie bewegen sich selbst, aber nichts und niemanden sonst. [] Ich will die Opposition nicht in Bausch und Bogen verdammen. Mir geht es um einen Appell an die Vernunft. Auch bei der Opposition muß man doch einsehen, daß die Beschwörungen, die bloßen Forderungen und Resolutionen, mit denen sie die Bundesrepublik viele Jahre lang führte, an der Wirklichkeit der Spaltung nichts geändert haben. Weder Empörung noch Jammer, weder Entrüstung noch Pathos haben in Europa die Grenzen verändert, dort, wo sie seit fünfundzwanzig Jahren sind. Die Opposition wäre glaubwürdiger, wenn sich ein einziger Mann in ihr fände, der den Mut hätte, öffentlich zu sagen: "Wir haben uns geirrt, unsere Erwartungen haben sich nicht erfüllt ... [] Eine Wende ist für die Bundesrepublik tatsächlich dadurch eingetreten, daß uns die Wähler in die Lage versetzt haben, gemeinsam mit den Freien Demokraten die neue Regierung zu bilden. Frieden in Europa und Selbstbestimmung in Europa - dies sind dabei für uns auch in der Regierungsverantwortung die unveränderlichen Richtpunkte. Sie sollten für Bundesregierung und Opposition gleichermaßen gelten. Es sind die Richtpunkte, zu denen auch alle unsere Nachbarn ja sagen können, ja sagen können müßten ... [] Wir sind uns mit den in der DDR Verantwortlichen einig darin, daß von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen darf. Wir sollten uns auch darin einig sein, daß beide Staaten in Deutschland in den siebziger Jahren ihrer positiven Verantwortung gerecht werden sollen, daß vom deutschen Boden die europäische Friedensordnung gefördert, die Konfrontation abgebaut, die Kooperation entwickelt wird, so daß Europa werden kann ein Kontinent des Friedens, des hohen Lebensstandards, des Austausches, der technischen Spitzenleistungen. Und wenn wir ja sagen zum Europa der Völker, so wünschen wir aus dieser Familie kein einziges Volk ausgeschlossen zu sehen ... [] Wer die Grenzpfähle verrücken will, wird sie festigen. Wer die Grenzpfähle in Europa abbauen will, muß aufhören, sie verrücken zu wollen. Die Bundesrepublik Deutschland hat keine territorialen Forderungen. Nicht in den siebziger Jahren und nicht darüber hinaus. Wer gegen diese Politik ist, ist nicht nur dagegen, daß Europa gesundet, sondern er verdunkelt jede Aussicht auf eine bessere Zukunft - für unser eigenes Volk und für die Völker Europas. [] Wenn es der Bundesregierung gelingen sollte, im Rahmen ihrer Politik zu Verträgen über den Gewaltverzicht und die damit verbundenen Fragen zu kommen, dann wird der Weg frei sein für den ernsten Versuch, die Konfrontation in Europa abzubauen. Dann wird es leichter werden, die Streitkräfte zu verringern in beiden Paktsystemen und sich sogar heranzuarbeiten an Vorbereitungen für ein Sicherheitssystem für Europa. Eines Tages wird ein solches System die beiden heutigen Blöcke ersetzen, unter voller Sicherheit für alle Beteiligten ... [] Erstens ist nochmals zu betonen, wie wirklichkeitsfremd eine deutsche Politik in dieser Zeit ohne Verankerung im Atlantischen Bündnis wäre. Da das so ist, muß man auch wissen, daß es einen Verteidigungsbeitrag ohne beträchtliche finanzielle Lasten nicht gibt. [] Zweitens soll bitte jeder zur Kenntnis nehmen: Zu den Realitäten, über die wir nicht mit uns handeln lassen, gehören die gewachsenen Bindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin. [] Drittens: Unsere Bereitschaft zum geregelten Nebeneinander zwischen den beiden Staaten in Deutschland darf nicht aufgefaßt werden, als hißten wir in der ideologischen Auseinandersetzung die weiße Fahne. Davon kann keine Rede sein. Wir bleiben auch in dieser Phase der Entwicklung deutsche Demokraten und europäische Sozialisten. [] Um diesen Punkt noch etwas zu verdeutlichen: Daß wir bereit sind, in der DDR einen gleichberechtigten Staat zu sehen, heißt natürlich nicht, daß wir in ihr einen gleichartigen Staat sehen wollen oder können. Die deutsche Sozialdemokratie braucht von niemandem Belehrungen über den grundsätzlichen Unterschied zu empfangen, der zwischen der freiheitlichen Ordnung der Bundesrepublik und der Parteiherrschaft in der DDR besteht. Drüben spricht man immer vom Gegensatz der Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme. Ich sage: Noch wichtiger ist der Gegensatz der politischen Systeme. Die deutsche Sozialdemokratie hat in den zwanzig Jahren der Bundesrepublik den Beweis erbracht, daß die Gesellschaftsordnung dieses unseres Staates auf demokratischem Wege verändert werden kann in der Richtung auf größere soziale Gerechtigkeit, und wir werden fortfahren, durch die Tat diesen Beweis zu erbringen. Die SED ist den Beweis, daß ihr Staat wandlungsfähig ist in der Richtung auf größere Freiheit, bisher leider schuldig geblieben. Die deutsche Sozialdemokratie wird eine Verwischung der demokratischen Grundsätze nicht zulassen ..." [] Löhne und Gehälter haben nachgezogen [] Bundeswirtschaftsminister Prof. Karl Schiller sagte u. a.: "Die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg dieser Bundesregierung - nach innen wie nach außen - ist die Erhaltung und Steigerung unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Wirtschaftswachstum ist in unserer Gesellschaft die selbstverständliche Vorbedingung für politische Entwicklung. Wenn etwas an der Unterbau-Überbau-These von Karl Marx richtig war, so ist es dieses. Nur in der ständigen Ausweitung ihres ökonomischen Potentials können sich die modernen Industriegesellschaften behaupten; können sie ihre Spannungen in den eigenen Produktionsverhältnissen überwinden und ihre sozialen Gleichgewichte finden. Sobald die ökonomische Expansion zum Stillstand kommt, treten sofort besondere gesellschaftliche Probleme zutage. [] Wer daran noch Zweifel hatte, wird durch die Ereignisse des Jahres 1966 in der Bundesrepublik eines Besseren belehrt worden sein. Politische Radikalisierung und Verluste an Vertrauen in die demokratische Ordnung waren damals das Ergebnis einer Politik steigender Arbeitslosigkeit und steigender Preise. Um 4 % stiegen die Lebenshaltungskosten im Frühjahr 1966 - das wollen die Rezessionsapostel heute gern vergessen lassen. Wir haben seitdem sozialdemokratische Wirtschaftspolitik und erleben einen "Wirtschaftsaufschwung in japanischen Dimensionen". Niemals zuvor hat es in der Bundesrepublik eine stärkere Wohlstandssteigerung gegeben. Das Wort vom Produktivitätswunder ist sicher nicht übertrieben. Nach der Gewinnexplosion der Jahre 1968 und 1969 haben jetzt auch die Löhne und Gehälter nachgezogen. Spät kamen sie, aber sie kamen. [] Wohlstandssteigerung [] Diese Verzögerungen in einer gerechteren Einkommensverteilung waren klare Flogen [!] der Rezession 1966. Seit 1968 hatte der Bundeswirtschaftsminister immer wieder für eine Korrektur nach oben (in den Lohn- und Gehaltsbewegungen) geworben. Wer gespürt hat, wie lange gerade die Arbeitnehmer an den Folgen der Rezession zu leiden hatten, der weiß, warum wir Sozialdemokraten in allen Phasen der Konjunktur für Stabilität und Wachstum eintreten. Die inzwischen erreichte Wohlstandssteigerung ist ein klarer Erfolg unserer Politik, und er kann sich sehen lassen. Ich sage das auch im Hinblick auf die gerade erzielte Einigung in den Tarifverhandlungen des Ruhrbergbaues. Beide Seiten haben dort ihre Verantwortung bewiesen. Aber die neue Regelung wäre gewiß nicht möglich gewesen, hätte unsere Politik nicht den Boden dafür bereitet. Im Frühjahr und Sommer 1969 haben bestimmte Leute mit allen Kräften eine rechtzeitige und konsequente Stabilitätspolitik verhindert. Wenn dieselben Leute aus der CDU/CSU uns nun Versäumnisse vorwerfen, und - mit einem Blick auf den 14. Juni - ein Inflationspsychose künstlich anheizen wollen, so ist dies eine Spekulation auf die Vergeßlichkeit des Bürgers - eine Fehlspekulation. [] Sicherlich, die Preissteigerungsrate, die wir zur Zeit haben, ist zu hoch. Aber, wer hat uns denn damals daran gehindert, zum optimalen Zeitpunkt auf die Bremse zu treten? [] Barzels Fehlprognose [] Am 25. August 1969 prophezeite der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Rainer Barzel, offiziell "eine Phase internationaler Konjunkturberuhigung infolge der Stabilisierungsbemühungen anderer Länder." Das war ein Plädoyer gegen die Aufwertung. Nun, wir haben die DM aufgewertet und uns nicht von den Prophezeiungen von Dr. Barzel irreleiten lassen. Wo wären wir bei der gegenwärtigen internationalen Preissteigerung, ohne die Aufwertung geblieben? Sechs Prozent Preissteigerung wären uns heute sicher gewesen. [] Und der damalige Bundeskanzler, Kurt Georg Kiesinger, ging gleich voll ins Zeug: "Außerdem rechnet man nahezu in der ganzen Welt damit, daß sich die Konjunktur in den nächsten Monaten abflacht." [] Franz Josef Strauß sprach sich dann am 12. September 1969 auf einer Veranstaltung der hessischen CDU in Frankfurt schlicht gegen weitere Maßnahmen zur Konjunkturdämpfung aus. [] Viele reden von Stabilität. Aber wir haben etwas dafür getan. Wir haben den Wert der D-Mark um einen Satz erhöht, den wir gegen starken Widerstand durchsetzen mußten. Dank der Aufwertung ist es uns wenigstens gelungen, uns an das Ende des Geleitzuges eines weltweiten Preissteigerungsprozesses zu setzen. Eine unbezweifelbare Tatsache ist es auch, daß erst die Aufwertung das Schwert der Kreditpolitik wieder scharf machte. 20 Milliarden DM heiße Gelder sind abgeflossen. Sie waren das Öl im Feuer der Konjunktur. [] Gelegentlich wird die heutige Situation mit der von 1966 verglichen. Das ist völlig abwegig. Im Gegensatz zu damals betreiben heute Bundesregierung und Bundesbank gemeinsam in vertrauensvoller Zusammenarbeit eine konsequente Stabilitätspolitik. Diese Regierung wird auch nicht zögern, weitere Maßnahmen gegen den Preisauftrieb zu ergreifen, wenn die Bremsen der Kreditpolitik wegen der Entwicklung auf den internationalen Geld- und Kapitalmärkten nicht in dem erhofften Maße greifen sollten. [] Allerdings: Wir lassen uns nicht von den gleichen Leuten, die uns die Rezession von 1966 67 [!] beschert haben und die eine rechtzeitige Stabilitätspolitik verhindert haben, in eine neue Krise hineinreden. Eine "gewollte Rezession" à la Schmücker wird es nicht wieder geben, solange Sozialdemokraten für die Wirtschaftspolitik verantwortlich sind. [] Unsere politischen Gegner sollten einen gewichtigen Unterschied gegenüber 1966 nichtübersehen: Willy Brandt und seine Mannschaft sind nicht dasselbe wie Ludwig Erhard und sein Kränzchen ... [] Billiger als Subventionen [] Wer als Arbeiter in einer schrumpfenden Branche tätig ist oder als Landwirt seinen Hof aufgibt oder wer nicht mehr als Einzelhändler weitermachen will, darf nicht ins Leere fallen. Es muß ein Netz der Einkommensgarantie gespannt werden. Das ist billiger, als Subventionen für die Erhaltung überholter Strukturen zu zahlen. Deshalb gehört zu unserem Programm der Leistungssteigerung auch die Alterssicherung für Selbständige und, nach dem Vorbild des Bergbaus, die Zahlung von Übergangshilfen bei der Umstellung auf einen neuen Beruf. [] Die beste Anpassung an dem Wandel bietet eine gute berufliche Qualifikation. Bessere Möglichkeiten für Schulung und Berufsbildung müssen deshalb ein Schwerpunkt unserer Bildungspolitik sein. Wir investieren Milliarden in unsere Hochschulen. Das ist auch richtig. Aber wir sollten nicht vergessen, daß es 1,4 Millionen Lehrlinge gibt, und wir sollten nicht warten, bis die Lehrlinge ebenso revoltieren wie die Studenten. [] Die Bereitschaft zur Leistungssteigerung können wir von den Arbeitnehmern nur dann erwarten, wenn das gemeinsam erarbeitete Produkt gerechter verteilt wird, als dies bisher der Fall war. Die derzeitige Vermögensverteilung in der Bundesrepublik ist das Ergebnis einer 20jährigen Herrschaft der CDU/CSU. [] Eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung ist herausgefordert, hier für Änderungen zu sorgen. Dabei müssen wir uns darüber im klaren sein, daß eine gerechte Vermögensverteilung nicht von heute auf morgen, sondern nur in einem langwierigen Prozeß erreicht werden kann ... [] Kein Ersatz für Mitbestimmung [] Vermögensbildung ersetzt nicht die Mitbestimmung. Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital ist noch nicht Demokratisierung der Wirtschaft, sondern Teilhabe am sich weiter vergrößernden Volksvermögen. Die berechtigte Forderung der Arbeitnehmer und Gewerkschaften, die Wirtschaft zu demokratisieren, steht nicht im Widerspruch zur Orientierung an der Leistung. [] Mitbestimmung kann, richtig praktiziert, im Gegenteil ein wesentlicher Bestandteil eines Programms der Leistungssteigerung sein. Dafür ist es allerdings notwendig, Formen zu übernehmen und zu entwickeln, die den betrieblichen und technischen Fortschritt fördern und die Bereitschaft der Unternehmen, der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber, zur Veränderung stärken ... [] Man spricht heute viel von der "amerikanischen Herausforderung" und neuerdings auch von der "japanischen Herausforderung". Wir haben wahrlich keinen Ehrgeiz, daß am deutschen Wesen die Welt genesen sollte. Aber warum sollte man nicht nach 10 Jahren sozialdemokratischer Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in der Welt auch einmal von einer "deutschen Herausforderung" sprechen? Und diesmal von einer Herausforderung nicht im rein wirtschaftlichen und schon gar nicht im militärischen, sondern im gesellschaftspolitischen, im sozialen Bereich! Wir haben in der Tat die Verpflichtung, die Chance und den Ehrgeiz, unsere Zielvorstellung aus den Kämpfen des Jahres 1969 wahrzumachen: Wir werden das moderne Deutschland schaffen." [] Jahrzehnt der sozialen Reformen [] Herbert Wehner sagte in seiner Rede u. a.: "Das Jahr 1969 hat Voraussetzungen dafür gebracht, daß die siebziger Jahre zum Jahrzehnt der inneren sozialen Reformen werden. Sorgen wir dafür, daß 1970 die Kräfte gestärkt werden, die dem sozialen Fortschritt dienen. Wirtschaftliche Macht darf nicht den sozialen Fortschritt hindern. Wirtschaftliche Macht darf nicht die Grundrechte zugunsten der Konservierung von Privilegien schmälern. [] Das Bürgerrecht auf Bildung, Ausbildung und berufliche Weiterbildung, das Bürgerrecht auf politische Bildung, das Bürgerrecht auf Mitbestimmung und Mitverantwortung, das Bürgerrecht auf gleiche Chancen für jede Frau und jeden Mann, gleichviel, als was sie und wo sie geboren worden sind und wohin es sie verschlagen oder vertrieben hat, das Bürgerrecht auf ein gesichertes Alter ohne Furcht, diese Bürgerrechte laßt uns in gemeinsamem Bemühen in den vor uns liegenden Jahren fest verankern in unserer gesellschaftlichen und staatlichen Wirklichkeit ... [] Wir bleiben dabei, daß auch unserem getrennten deutschen Volk das Recht auf Selbstbestimmung gewährt werden muß. Das ist unsere Position gegenüber der Politik der SED, die lediglich einseitig vollzogene Tatsachen ratifiziert haben will. Aber wir wissen, daß das Recht auf Selbstbestimmung jedes Volkes und das Recht auf Heimat jedes Menschen nur in einer europäischen Friedensordnung zu verwirklichen sind, in der die Anwendung und Androhung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele ausgeschlossen sein wird. Deshalb lehnen wir es ab, unser Volk in die Isolierung drängen zu lassen, in die es geriete, wenn es den Empfehlungen jener CDU/CSU-Führer folgte, die zwar von Gewaltverzichtsabkommen reden, aber nicht bereit zu sein scheinen, die unerläßliche Teilnahme der Bundesrepublik am Zustandekommen von Abkommen zur Sicherung der territorialen Integrität aller Beteiligten als Voraussetzung geregelter Beziehungen von Gleichberechtigten zu akzeptieren. Bekenntnisse zu einer europäischen Friedensordnung bleiben unwirksam, wenn die Bundesrepublik beschränkt bleiben sollte auf das Wiederholen grundsätzlicher Forderungen. In der Regierung der Großen Koalition hat die Führung der CDU/CSU sich sogar versagt, die Konsequenzen aus Einsichten zu ziehen, die sie selbst gewonnen hatte, als sie von der Unerläßlichkeit eines Interessenausgleichs zwischen den Bündnissen von West und Ost sprach. Wer mit dem Widerstand gegen vertragliche Regelungen mit unseren osteuropäischen Nachbarn, mit der [] Sowjetunion und mit der DDR droht, der versperrt unserem Volk die realen Möglichkeiten, an der Organisierung des Friedens und an den Bemühungen um eine europäische Friedensordnung als gleichberechtigter Partner teilzunehmmen [!]. Wer dazu die Gefühle derer mißbraucht, die durch den Verlust ihrer Heimat und das Schicksal der Vertreibung hart betroffen worden sind, der erschwert oder verhindert die unserem Volk notwendige gemeinschaftliche Anstrengung um partnerschaftliche Teilnahme an der Friedenssicherung. Die Konfrontation ideologischer und militärischer Gegensätze und Macht zu zementieren ist das Gegenteil dessen, was für die Zukunft unseres Volkes erforderlich ist ... [] Sozialdemokratie und demokratischer Sozialismus bedeuten: So viel Sozialismus wie nötig, um Demokratie für alle zu verwirklichen. So viel Sozialismus wie möglich, ohne die Demokratie für alle zu ersticken." [] Herausgegeben vom SPD-Landesvorstand Nordrhein-Westfalen, 4 Düsseldorf, Elisabethstraße 3
Published:1970