Summary: | Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; handschriftlicher Vermerk: aus: PV-Presseausschnitt-Sammlung TT / 21 / 1946
BERLINER! [] Zum erstenmal seit 15 Jahren ist die Berliner Bevölkerung zur freien Entscheidung über ihr Schicksal aufgerufen worden. Keine frühere Wahl in Berlin, aber auch keine andere Gemeindewahl in Deutschland hat solche Bedeutung wie die kommenden Berliner Wahlen. Am 20. Oktober 1946 handelt es sich um mehr als nur eine Entscheidung über den Berliner Magistrat. [] Berlin ist ein selbständiger Stadtstaat unter alliierter Kontrolle. Berlin ist auch heute das Zentrum der politischen Entscheidungen Deutschlands. Berlin - eingeschlossen in der sowjetischen Zone - muß ein festes Bollwerk der Demokratie sein. Berlin ist eine selbständige fünfte Zone, von deren Wahl die Entwicklung in ganz Deutschland beeinflußt wird. Daher blickt die ganze Welt auf Berlin. Die Wahlen im 20. Oktober werden als Stimmungsbarometer für die demokratische Gesinnung der Deutschen angesehen werden. [] In diesem Kampf um Berlin fällt der Sozialdemokratischen Partei die entscheidende Rolle zu. Die Berliner Sozialdemokraten haben durch ihre Urabstimmung am 1. März als erste den Beweis erbracht, daß in Deutschland nach zwölfjähriger nationalsozialistischer Herrschaft noch demokratische Kräfte lebendig sind. In diesem Geist werden die Berliner Sozialdemokraten auch den Kampf um die Zukunft Berlins führen. Dabei können sich die Berliner Sozialdemokraten auf eine erfolgreiche und wachsende Beteiligung an der Kommunalpolitik berufen. [] Getreu ihrer politischen Gesamthaltung, die durch den Ablauf der Geschichte eine glänzende Rechtfertigung erfahren hat, beseelt von dem eben erst bewiesenen Kampfeswillen, getragen von der Erkenntnis des wissenschaftlichen Sozialismus, suchen wir einen Weg aus der Not und dem Elend, das der National-Sozialismus nach zwölfjähriger Herrschaft hinterlassen hat. [] Wir versprechen nichts, was wir nicht halten können. [] Wir fordern nichts, was nicht verwirklicht werden kann. [] Wenn die Zukunft Berlins gesichert sein soll, müssen zwei Gegenwartsaufgaben gelöst werden: [] die Sicherstellung der materiellen Existenz der Berliner Bevölkerung und die Sicherung der Menschenrechte für alle. [] Aus dieser Erkenntnis stellen wir folgende Forderungen: [] Wir fordern von der Berliner Bevölkerung nach zwölf Jahren geistiger und sittlicher Verwirrung Rückkehr zur nüchternen Betrachtung der gegebenen Lage, kritische Auswertung der im letzten Jahr gemachten Erfahrungen und Standfestigkeit gegen jeden Versuch der Vergewaltigung neu gewonnener politischer Freiheiten. [] Wir fordern eine saubere Durchführung der Wahl, die von keiner Stelle beeinflußt wird und bei der jeder einzelne im sicheren Gefühl des wiedererlangten freien Wahlrechts seiner wirklichen politischen Überzeugung Ausdruck geben kann. [] Wir fordern zur Sicherung eines demokratischen Aufbaues die Ausschaltung aller offenen und versteckten Feinde der Demokratie aus politischer Betätigung und aus führenden Stellen im öffentlichen Leben. [] Wir fordern von den führenden Männern im öffentlichen Leben vorbildliche schlichte Lebensführung, aufrechte und wahrhaftige politische Überzeugung und ehrliche Hingabe an die Sache der Bevölkerung. [] Wir fordern einen Magistrat, der von der Mehrheit der Bevölkerung getragen, in engster Zusammenarbeit unter sich und mit der Stadtverordnetenversammlung einzig und allein der Einwohnerschaft zu dienen hat. [] Wir fordern eine klare Aufgabenteilung zwischen der kommenden Stadtverordnetenversammlung, dem neuen Magistrat und einem neu einzurichtenden unabhängigen Prüfungsamt. [] Wir fordern sparsamsten und übersichtlichen Verwaltungsaufbau, gewissenhafte Finanzwirtschaft im Rahmen eines politisch durchdachten Haushaltsplans, Kontrolle aller Einnahmen und Ausgaben durch ein unabhängiges Prüfungsamt. Wir fordern eine Personalverwaltung, in der Leistung, berufliche Tüchtigkeit, Unbestechlichkeit, entgegenkommende Umgangsformen und demokratische Zuverlässigkeit als selbstverständliche Voraussetzungen für die Mitarbeit gelten. [] Wir fordern die Aufstellung eines einheitlichen Wirtschaftsplans für ganz Berlin, der allen Arbeitskräften eine Beschäftigung sichert, durch einen organisierten Ausgleich aller Maschinen, die Ausnutzung aller Kapazitäten gewährleistet und die Berliner Wirtschaft auf schnellere Touren bringt als bisher. [] Wir fordern Sofortmaßnahmen zur Abwendung aller drohenden Gefahren für Leib und Leben, die sich aus mangelhafter Wohnung, unzureichender Ernährung, ungenügender Kleidung und offenbarer körperlicher Hinfälligkeit weiter Bevölkerungskreise ergeben. [] Wir fordern einen inneren Kriegslastenausgleich zugunsten aller Geschädigten unter besonderer Belastung derjenigen, die für die gegenwärtige Not Verantwortung tragen. [] Wir fordern für die Jugend die freie Entwicklung ihrer Verbände, die Schaffung von Jugendheimen, Sportplätzen und die Einrichtung von Lehrlingswerkstätten zur Pflege des Gemeinschaftssinns. [] Wir fordern soziale Hilfsmaßnahmen und Einrichtungen für alle Menschen, die arbeitsunfähig, altersschwach, körperbehindert oder sittlich gefährdet sind. [] Wir fordern stärkere Verwendung der Frauen an verantwortlichen Stellen im öffentlichen Dienst und im öffentlichen Leben, besonders dort, wo sie sich ihrer Eigenart entsprechend betätigen können. Wir fordern Beachtung der Doppelleistung der Frauen, die alleinige Ernährer und Erzieher ihrer Kinder sind, und Berücksichtigung der älteren Frauen, die heute wieder im Gefolge des Krieges im Erwerbsleben stehen. [] Wir fordern eine Jugend- und Volksbildung, die jedem einzelnen die volle Entfaltung seiner Anlagen durch kostenlose Ausbildung ermöglicht, eine Bildung, die unter Ablehnung jeder Gewaltverherrlichung Achtung vor den Mitmenschen als vornehmstes Ziel aufrichtet. [] Die Erfüllung dieser Forderungen ist weitgehend abhängig von Entscheidungen der Alliierten Militärbehörden. Von ihnen erwarten wir Verständnis für unsere Schwierigkeiten, die wir nach unsererÜberzeugung am schnellsten durch erweiterte Selbstverwaltung überwinden. Wir wissen, daß die Verwirklichung nur mit ihrer Hilfe erreicht werden kann und an die nachfolgende unerläßliche Voraussetzung gebunden ist, um deren Erfüllung wir hiermit bitten: Sofortiger Abbau der Sektorengrenzen, weil Berlin nur unter einheitlicher Verwaltung wieder gesunden kann; einheitlicher Versorgungsplan, der die Zufuhr von Rohstoffen, Halbfabrikaten und Lebensmitteln aus allen Teilen Deutschlands nach Berlin sicherstellt und hier gleichmäßige Verteilung ermöglicht; freier, ungehemmterer Verkehr mit allen übrigen Zonen, da die Berliner Wirtschaft und das Kulturleben in Berlin sich nur entfalten können, wenn ein ungehinderter Waren- und Meinungsaustausch mit allen Zonen gewährleistet ist. [] Wir bitten dringend um Sicherungsmaßnahmen für die persönliche Freiheit und um die Zusicherung, daß aus politischen Gründen jede verhaftete Person binnen kürzester Zeit vor ein Alliiertes Kommandanturgericht gestellt wird. [] Wir bitten, im bevorstehenden Wahlkampf die freie Meinungsäußerung wirksam zu schützen und sachliche Kritik an öffentlichen Zuständen und der Haltung politischer Parteien uneingeschränkt gelten zu lassen. [] Wir bitten um einen gesicherten Ablauf des Wahlkampfes, der zur Klärung der politischen Meinungen und zur Ermittlung eines die Berliner Verwaltung tragenden Mehrheitswillens der Bevölkerung unerläßlich ist. [] In dem Augenblick, wo das Schicksal der Berliner Bevölkerung auf dem Spiel steht, gibt es für uns Sozialdemokraten keine unangebrachten Rücksichtnahmen und kein Verschweigen offenbarer Mißstände. [] Wir werden die politische Auseinandersetzung immer nur auf die Sache abstellen. Wir wissen aber, daß in den Grenzen der Sachlichkeit die gesamte politische Arbeit unserer Gegner im letzten Jahr wirkungsvoll angegriffen und kritisch beleuchtet werden muß. Das sind wir der Berliner Bevölkerung schuldig. Wir lehnen die Verantwortung für offensichtliche Fehlleistungen und Schäden ab, die in der kommunalpolitischen Arbeit des letzten Jahres aus der rücksichtslosen Ausnutzung einer politischen Vorzugsstellung entstanden sind. [] Die Sozialdemokratische Partei ist bereit, von sich aus alle Verantwortung, die ihr nach dem Wahlkampf zufallen sollte, mit der ihr eigenen Gewissenhaftigkeit und Entschiedenheit auf sich zu nehmen. [] Es ist nun die Aufgabe der Berliner Wähler, sich auf eine eindeutige politische Entscheidung vorzubereiten. [] Am 20. Oktober muß sich der Berliner entscheiden, ob er wie im vergangenen Jahr und in den letzten zwölf Jahren weiter diktatorisch regiert werden will oder mit der Sozialdemokratie eine neue Zukunft auf dem Boden der Demokratie und des Sozialismus wünscht. Nur eine sichere Mehrheit für eine starke sozialdemokratische Bewegung wird aus unseren Forderungen greifbare Tatsachen für die Berliner Bevölkerung werden lassen. [] Mit der SPD in die bessere Zukunft! [] SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS [] LANDESVERBAND GROSS-BERLIN [] Id/1-28. Verantwortlich: Otto Flieger, Berlin-Friedenau, Bornstrasse 12 [] Druck: Bln.-Wilmersdorf, Babelsberger Strasse 40/41 / 2753 / 500000 / September 44 / Klasse "C"
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