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Das Unrecht muß aufhören! [] So kann es nicht weitergehen. Alle schönen Worte über die Wiedergewinnung unserer ostdeutschen Gebiete - was wohl Ziel und selbstverständliche Forderung aller guten Deutschen ist - können nicht die betrübende Tatsache verdecken, daß alles Streben nach einer gerechten Verteilung der Vertriebenen bisher an dem egoistischen Widerstand derjenigen Länder gescheitert ist, die für die Aufnahme der Flüchtlinge in Frage kommen. [] Acht bis neun Millionen Menschen in eine zerstörte Wirtschaft einzugliedern, ist eine große Aufgabe und nicht von heute auf morgen zu schaffen. Aber sie nach einem ungefähren Maßstab vorläufig zu verteilen und erst einmal wohnungsmäßig angemessen unterzubringen, das ist möglich. Es ist nicht nötig, daß auch nur ein einziger Flüchtling in einer Massenunterkunft leben muß. [] Wir haben jetzt eine Bundesrepublik, die die Selbständigkeit der Länder begrenzt, einen Bundeskanzler, der über große Vollmachten in Flüchtlingsangelegenheiten verfügt, und einen Bundesflüchtlingsminister, der das Vertrauen der Flüchtlinge genießt, der selbst schlesischer Flüchtling ist und dessen Gerechtigkeitssinn zu großen Erwartungen berechtigt. Nun kommt es darauf an, was jetzt geschehen wird. Der erste Schritt bestimmt die Entwicklung der nächsten Jahre. "Beim ersten sind wir frei, beim zweiten sind wir Knechte". [] Bei der Flüchtlingsfrage handelt es sich grundsätzlich um zweierlei. Um die Gewährung von Obdach, Kleidung, Nahrung und um die Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten. Das letztere ist die schwierigere, das erstere die dringlichere Aufgabe. Beides hat eine Verteilung der Zugewanderten auf das ganze Bundesgebiet zur Voraussetzung. Hierzu bedarf es keiner wissenschaftlichen Untersuchungen, keiner zeitraubenden statistischen Erhebungen, keiner tiefgründigen Erwägungen zur Sicherung wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten. Auf diese haben die überfüllten Flüchtlingsländer den gleichen Anspruch wie die zu wenig belasteten Aufnahmeländer! Für die erste Verteilung genügt ein grober Schlüssel, für den es genügend Unterlagen gibt. [] Die gegenwärtige ungerechte, für die norddeutschen Länder nicht länger zu ertragende Verteilung sieht folgendermaßen aus: [] Schleswig-Holstein + 71 % [] Württemberg-Baden - 19 % [] Rheinland-Pfalz - 4,9 % [] Niedersachsen + 50 % [] Württemberg-Hohenz. - 7,4% [] Bremen - 6 % [] Bayern + 30 % [] Nordrhein-Westfalen + 7 % [] Hamburg - 11 % [] Hessen + 22 % [] Südbaden + 0,7 % [] Bundes-Durchschnitt rd. + 20 % [] Durch Artikel 119 des Grundgesetzes ist die Bundesregierung ermächtigt, zur gerechten Verteilung der Flüchtlinge sofort Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Den Bundestag braucht sie hierbei nicht zu bemühen (er kann sich aber jederzeit einschalten); wohl aber bedarf sie der Zustimmung des Bundesrates, der die Länderregierungen vertritt. Es wird sich rasch zeigen, wie dieses von Länderinteressen erfüllte Gremium die Erfüllung einfachster Menschenpflicht gegenüber den schwergeprüften Vertriebenen anpacken wird. [] Durch den Ablauf des Krieges, die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz und die Maßnahmen der Militärregierungen ist Schleswig-Holstein zum größten Sammelbecken von Flüchtlingen geworden. Auf je 100 Einheimische kommen 72 Vertriebene! Dadurch sind alle Wege zum wirtschaftlichen Aufbau, zur kulturellen Leistung, zur Sicherung gesundheitlicher Zustände und sozialen Gemeinschaftslebens verstopft. Die Erwerbslosenziffer übertrifft alle anderen Länder; für 20000 Jugendliche fehlen die Arbeitsmöglichkeiten. Die Zahl der schulpflichtigen Kinder hat sich verdoppelt, und eine entsprechende Vermehrung der Schulräume und der Lehrkräfte ist natürlich nicht möglich. 127000 Flüchtlinge haben nach amtlichen Feststellungen kein menschenwürdiges Obdach, und wenn nicht schleunigst Abhilfe geschaffen wird, sind bei Eintritt der Kälte Katastrophen unvermeidlich. Schon mehren sich die Selbstmorde .... In weiten Gebieten Niedersachsens sind die Verhältnisse ähnlich. Hier kommen auf 100 Einheimische 50 Vertriebene. [] Zuvor eine Million aus Norddeutschland! [] Da die Belastung der öffentlichen Einrichtungen nicht geometrisch wächst, sondern progressiv, vielleicht logarithmisch, wird die Feststellung zutreffen, daß Niedersachsen doppelt so stark und Schleswig-Holstein dreimal so stark belastet ist wie das glückliche Bayern mit nur 30 Vertriebenen auf 100 Einheimische. [] Darum ist der SOS-Ruf berechtigt: Für Norddeutschland muß etwas geschehen, und zwar sehr rasch, und zuerst nur für Norddeutschland! [] Ein "Spitzenausgleich", wie er jetzt erwogen wird, kann nur den Sinn haben, daß zunächst die Spitzenbelastungen beseitigt werden, und daß diese im Süden des Bundesgebietes liegen, kann auch das stärkste Geschrei der Bayernpartei nicht erweisen. Die untenstehende bildliche Darstellung zeigt den wahren Sachverhalt. [] Würde man beispielsweise, was mir richtig erscheint, als Sofortmaßnahme zunächst eine Million Heimatvertriebene aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen umsiedeln, so würden diese beiden Länder am Ende noch 42% bzw. 40% Flüchtlinge haben, d.h. immer noch 12 % bzw. 10 % mehr als Bayern! Hieraus ergibt sich die natürliche Forderung, daß jeder Flüchtlingsausgleich mit der Entlastung der beiden norddeutschen Länder beginnen muß. Danach kann, wenn es die politischen Verhältnisse erfordern, allenfalls das nächstliegende Land mit einbezogen werden. Jeder andere "Ausgleich" wäre unsozial und ungerecht und überdies eine volkswirtschaftliche und finanzpolitische Dummheit. [] Preetz, im Oktober 1949. [] Hermann Lüdemann [] Bevölkerungszuwachs in den westdeutschen Ländern im Vergleich zur Einwohnerzahl des Jahres 1939 [] Wullenwever-Druckverlag, Lübeck 145, 464 4000 Okt. 49 C
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