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Die Unkompromittierten. [] Ein Urteil neutraler Presse über den bayerischen Ministerpräsidenten. (Baseler Nationalzeitung 29. Nov. 18.) [] Klagen, Proteste und Zerfahrenheit - so wiederholt ein jeder neue Tag des neuesten Deutschland den vergangenen. Die deutsche demokratische Partei hat an Präsident Wilson ein sehr lebhaftes Beschwerdetelegramm über den von Frankreich ausgeübten Druck gesendet; man wird ihm besten Erfolg wünschen, weil kein Vernünftiger die Ausbreitung der "Anarchie der Straße" will. Aber mit dem ewigen Jammern über die "unerhörte Rücksichtslosigkeit" bei der Durchführung der "ohnehin schon unerträglichen Waffenstillstandsbedingungen" ist wahrhaftig wenig geholfen: das besorgt ja schon überreichlich Herr Staatssekretär Solf, für dessen Anwesenheit in der Regierung die Berliner Demokraten mitsamt dem Scheidemann-Anhang so liebevoll erglühen. Man hat bisher nicht bemerkt, daß irgendein norddeutscher Führer der deutschen Revolution einen bedeutenden Fortschritt entwickelt oder weltpolitisch aus dem Sturze der Hohenzollern die praktischen Schlußfolgerungen gezogen hätte. Der Erste und bisher Einzige, der versuchte, durch die Tat vorwärts zu kommen, war Kurt Eisner, der Besieger der Wittelsbacher. Sofort bemerk man, wie in holder Eintracht die nunmehr versteckten Alldeutschen und die plötzlichen Demokraten über ihn herfallen. Er hat die Verwegenheit begangen, während andere schwätzten und alles Erdenkliche versprachen, zu handeln und aus den Geheimakten des Kriegsausbruches einige Dokumente zu veröffentlichen. Er hat sich damit den Dank aller Vernünftigen und Ehrlichen verdient; die Berliner Revolutionäre, die das Laster ihres eingefressenen Opportunismus nicht verloren haben, sind darüber jedoch sehr erzürnt. Die ganze Berliner Presse vom "Vorwärts" bis zur "Täglichen Rundschau" fällt über Eisner und die Bayern her, und man erkennt, wie das alte Wolffsystem der organisierten öffentlichen Meinung noch immer weiter arbeitet. Weshalb auch nicht? Die Herren vom Auswärtigen Amt mit all ihren Taktiken und Schlauheiten sind ja nicht nach Holland gereist, sondern sie arbeiten munter weiter, und die kontrollierenden Genossen, vom A. S. R. erstarren vermutlich in Ehrfurcht vor der hohen Fachwissenschaft der Diplomaten. [] Betrübt sieht man, wie die alte Mentalität geblieben ist; es geht nicht um die Wahrheit, sondern um den Nutzen des Verschweigend. So muß man den Genossen um Solf denn erklären, daß es ihr Verhalten und nicht jenes Eisners ist, das Deutschland schwer schädigt und gegen dessen neue Ära Mißtrauen wecken muß. Es ist geradezu kindisch, zu erklären, die Enthüllungen Eisners erschwerten die ohnehin so schwierige Lage Deutschlands auf dem Friedenskongresse. Die Ententeregierungen und die erdrückende Mehrheit ihrer Völker glauben nämlich nicht an ihre eigene Schuld am Kriegsausbruch - mit oder ohne ausgegrabene Münchener Akte. Wohl aber ist es notwendig, daß das deutsche Volk davon erfährt, das dann eher die Wildheit seiner Feinde verstehen und vor Verbitterung bewahrt sein wird. Je aufrichtiger die Enthüllung fortgesetzt wird, desto eher wird die Welt der Entente an das neue Deutschland glauben, und je mehr dieses mit den Verschweigungen, Ränken und Verschlagenheiten des alten Systems arbeitet, desto unüberwindlicher wird das Mißtrauen der Alliierten sein und desto drückender die Deutschland auferlegten Bedingungen und desto ferner der Völkerbund. Eisner hat in Berlin gefordert, daß Männer, die noch dem alten System dienten, wie Solf und Erzberger, ihren Platz verlassen, und darauf antwortet ihm ein Berliner Blatt, Deutschland wolle sich auch nicht der Münchener Diktatur unterwerfen. Nun ist es doch wohl nicht als "Diktatur" zu bezeichnen, wenn der Wortführer des zweitgrößten deutschen Bundesstaates für sich ein Mitbestimmungsrecht bei der Zusammensetzung der Regierung fordert, und wenn es etwas gibt, was den bayerischen Separatismus vollkommen rechtfertigt, so wäre es die hartnäckige Weigerung der Berliner, falls sie hier nicht schleunigst reinen Tisch machen und verstehen wollten, worauf es ankommt. Ob Eisner dabei weit links von Ledebour steht, womit man das Bürgertum gegen ihn aufhetzen möchte, oder nicht, steht dabei nicht in Frage; seine Proklamation an das bayerische Volk hat jedenfalls einen parteilosen klaren Tatsachensinn gezeigt, den man den Berliner Machthabern dringend empfehlen würde. Was soll man aber gar dazu sagen, wenn das frühere Leibblatt des Deutschen Kaisers aus Angst, daß die letzten Säulen des alten Systems zerbrechen und die Berliner Diktatur erschüttert wird, die sofortigen Wahlen fordert, um Eisner zu stürzen? Gewiß sollen und werden auch hoffentlich diese bald stattfinden - doch sie werden kaum zugunsten von Solf und der anderen Kompromittierten ausfallen, und man darf erwarten, daß die zentralistischen Bestrebungen, die gerade von den extremen Sozialisten Berlins und Wiens vertreten werden, um ihre abstrakte und orthodoxe Parteireligion auch den Widerstrebenden aufzuzwingen, im Süden und im Westen Deutschlands wenig Begeisterung wecken werden. [] Das Verlangen Eisners, daß die neue Ära nur durch unkompromittierte Politiker geleitet werde, ist nicht bloß moralisch gerechtfertigt, sondern auch politisch das Klügste. Der sozialpatriotische Genosse Erich Kuttner antwortet darauf, Eisner hätte am 28. Juli 1914 an die deutsche Unschuld am Kriege geglaubt und dafür gewirkt, daß die Partei sich hinter die Regierung stelle. Wir wissen nicht, ob dies wahr ist; das Verhalten Eisners beweist jedenfalls, daß Eisner schon sehr früh ein Widersacher des alten Systems war und dessen Verbrechen erkannte. Möglich, daß auch er am 28. Juli 1914 noch getäuscht, ward; doch nicht dies ist entscheidend, sondern daß er sofort, wie er sich von seinem Irrtum überzeugte, daraus als ehrlicher und sittlicher Mensch unerschrocken die Folgerungen zog. Niemals wurde er gleich Erzberger mit Missionen beauftragt, war er Mitglied eines Kriegskabinetts, das von den Hohenzollern eingesetzt wurde, hat er gleich Solf Sicherungen in öffentlicher Rede gefordert. Dies allein ist aber das Wesentliche, und mit Bestürzung sieht man, wie sich die Hetze im zerfahrenen und politisch so einsichtslosen deutschen Volke gerade gegen den einzigen Mann wendet, der bisher Verständnis für die Wirklichkeit zeigte. Die Angst vor einer Teilung Deutschlands, als deren Führer man Eisner hinstellt, verwirrt die Preußen. Uns scheint sie kaum in dessen Absichten gelegen; es wäre denn, wenn die alte Überheblichkeit und das häßliche Spiel mit abgewälzter Verantworte auch von den Nachfolgern Ludendorffs fortgesetzt werden sollte oder wenn sie töricht genug wären, eine, zentralistische Politik treiben zu wollen. Der triumphierende Hinweis auf die gehässige Äußerung eines Northcliffe-Blattes, daß auch Bayern keine Schonung erwarten dürfe, berührt recht häßlich und wenig brüderlich. Man organisiert gegen Eisner die Hetze seitens der bayerischen Bauern, seitens aller höfischen, reaktionären und antinationalistischen Strömungen, und sogar eine Zionistin wird dabei vom Zentrum, das seine Herrschaft bedroht sieht, bemüht. Zweifellos ist Eisners Stellung nicht gefestigt, und man müßte es beklagen, wenn jene über ihn siegten, die mit wehleidigen Anklagen, mit Beschönigungen und einem verderblichen Zentralismus die Fehler des alten Deutschland fortsetzen, nur daß sie es in eine rote Fahne einhüllen. [] Eisner ist in keine Parteiform hineinzupressen, trotzdem er bald als "Revisionist", bald als "Unabhängiger" galt, und vielleicht empfiehlt ihn eben seine Freiheit von der Schablone am meisten einem Volke, das nach wirklichen Führern lechzt. Während die Berliner überall die alten Diplomaten behalten, hat er sofort als Vertreter für die Schweiz den Professor Förster bestimmt, diesen reinen und mutigen Mann, der mit so wundervoller Klarheit die beste deutsche Geistigkeit inmitten allen Tobens verkörperte. Jene Ernennung wirkt wie ein Symbol und sie hat, wie wir wissen, einen ausgezeichneten Eindruck bei der Entente gemacht, sie bekräftigte einen wirklichen Wechsel in der deutschen Mentalität. Eisner hat schonungslos die bayerischen Geheimarchive geöffnet, und auch dies zeigte seinen Willen zur Aufrichtigkeit, während die Berliner nach wie vor beschönigen und nur fordern, ohne durch moralische Läuterung und Buße für eine Stimmung der Versöhnlichkeit und des Entgegenkommens zu wirken. Eisner, der den überzeugten Katholiken Förster sich als Helfer ausersah, hat sich vor der Notwendigkeit der Lage nicht verschlossen und trotz seines Sozialismus mit aller Entschiedenheit kommunistische Experimente abgelehnt. Ferner hat er in Berlin die Entfernung der Kompromittierten aus der Regierung verlangt, wodurch sofort das Vertrauen zu Deutschland befestigt würde. Schließlich hat er die Teilung Deutschlands in Stammesrepubliken gefordert und er will die Übermacht Preußens verringern. Nichts kann mehr im deutschen Interesse liegen. Ein Preußen, das seinen annektierten Sachsen, Friesen und Rheinländern die Freiheit gäbe, könnte niemals ein Instrument für eine Gegenrevolution, für eine junkerlich-militärische Reaktion werden. Von jenem Alpdruck befreit, vermöchte die Entente viel eher Wohlwollen für das deutsche Volk aufzubringen; das Gleichgewicht innerhalb Deutschlands wäre geschaffen und der Neuaufbau würde sich in den Vereinigten deutschen Republiken hemmungsloser vollziehen. [] Wir haben die verschiedenen politischen Leistungen Eisners während seiner kurzen Führerschaft soeben kurz aufgezählt; alles, was er getan hat, und alles, was er fordert, beweist, daß er einen ins Herz der Dinge dringenden Geist besitzt, die Gedanken der Deutschland feindlichen Welt erfaßt und mit ihnen zu rechnen weiß. Er trifft ins Schwarze. Eben die Freiheit und Neuheit seiner Gedanken ballt gegen ihn die Gegnerschaft aller Parteien, der nationalistischen und der revolutionären Zentralisiert, zusammen. Das ahnungslose deutsche Volk glaubt, mit Klagen und Protesten, mit einer sich auch unter den Sozialisten ausbreitenden Revancheidee könnte es etwas erreichen; es irrt verhängnisvoll. Ein Deutschland, das seine eigene Schuld freiwillig und offen bekennt und den Friedensparteien seiner Feinde es überläßt, eine ähnliche Anklage gegen ihre eigenen Kriegshetzer vorzunehmen; ein Deutschland, in dem die Vorherrschaft Preußens beseitigt ist; ein Deutschland, das weder mit Bolschewismus droht, noch die Praktiken des alten Systems weiterführt und dessen kompromittierte Männer nicht in verantwortlichen Stellen beläßt - ein solches Deutschland hat am ehesten Aussicht, Vertrauen zu erwerben. Mit Klagen und Protesten wird nichts erreicht, sondern nur durch eigene annähernde und versöhnende Tat. Weil Eisner eine solche versucht, ist er Deutschlands stärkste Hoffnung und bleibt unkompromittiert, was immer er im Lügenfieber des 28. Juli 1914 gedacht oder gesprochen haben mag.
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