Die sozialdemokratische Partei

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI [] VON GUSTAV KLINGELHÖFER [] Durch den zweiten Weltkrieg wurde die soziale Schichtung des deutschen Volkes stärker verändert als durch irgendein früheres Ereignis der deutschen Geschichte. Die Zahl der auf den...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Klingelhöfer, Gustav, W. Girardet, Düsseldorf
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: ca. 1946
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/F1F1B954-F703-4A7F-9718-A66C1B4B1182
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; DIE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI [] VON GUSTAV KLINGELHÖFER [] Durch den zweiten Weltkrieg wurde die soziale Schichtung des deutschen Volkes stärker verändert als durch irgendein früheres Ereignis der deutschen Geschichte. Die Zahl der auf den Verdienst aus körperlicher oder geistiger Arbeit allein angewiesenen Deutschen hat sich stark vermehrt, die Zahl der von Kapitalerträgen oder Kapitalrenten Lebenden stark vermindert; der Anteil der Invaliden und der Arbeitsunfähigen ist gestiegen. Dabei wird der Grad der Verarmung Deutschlands immer noch sehr unterschätzt. Erst die Lüftung des trügerischen Reichtumschleiers über den tatsächlich fast wertlos gewordenen Bankkonten und den umlaufenden Geldmilliarden wird die grausame Wirklichkeit der Hitlererbschaft erkennen lassen. Die Klassengegensätze sind durch die größere Armut und die Kapitalzerstörungen gemildert; aber sie bestehen fort. Die Sozialdemokratie bleibt die Partei der auf Hand- oder Kopfarbeit angewiesenen Deutschen, denen nur eine sozialistische Gesellschaftsordnung die volle soziale Gleichberechtigung und die volle bürgerliche Freiheit bringen kann. Die Sozialdemokratie lehnt die verwaschene und von den Reaktonären [!] jeder Richtung stets mißbrauchte Bezeichnung als Volkspartei ab. Die Parole "Alles durch das Volk, mit dem Volk und für das Volk" ist zu billig und führt irre, wenn "das Volk" nichts zu sagen hat. Die Sozialdemokratie wird, getreu ihrer Tradition, auch in Zukunft alle nationalistischen und chauvinistischen Tendenzen, die immer auch militaristische und [] imperialistische sind, mit äußerster Rücksichtslosigkeit bekämpfen, woher sie auch kommen. [] Die Sozialdemokratische Partei wird, solange die Besetzung, Kontrolle und Unfreiheit Deutschlands dauern, erst recht eine nach allen Seiten unabhängige deutsche Arbeiterpartei sein, die nach allen Seiten das Lebensrecht des deutschen Volkes verteidigen und die zukünftige Souveränität der in der Republik Deutschland geeinten Nationen verlangen wird. Sie betrachtet die Festlegungen des Potsdamer Statuts, daß ein demokratisches und friedliches Deutschland frei wird, unbeschadet der Reparationspflicht ohne Hilfe von außen sich erhalten können soll und als Wirtschaftseinheit erhalten bleibt, als einen moralischen Anspruch Deutschlands von völkerrechtlicher Kraft. Die deutsche Sozialdemokratie bekennt sich aber auch zu der Auffassung, daß die Gewährung demokratischer Grundrechte ein Danaergeschenk wäre und eher die reaktionären als die politisch fortschrittlichen Kräfte fördern würde, wenn Deutschland nicht die sichere Hoffnung haben kann, durch fleißige eigene Arbeit sich menschenwürdig am Leben erhalten zu können. Sie hält es für ein ungeschriebenes Menschenrecht auch ihrer Souveränität entkleideter Völker, daß die Sicherung der nackten Lebensnotdurft der Verpflichtung zu materieller Wiedergutmachung vorangehen muß. Zu dieser Lebensnotdurft der Völker gehören neben menschenwürdiger Behausung, Nahrung, Kleidung und Beheizung [!] Staatsgrenzen, die die Möglichkeit der Erhaltung aus eigener Arbeit sichern, und das Verfügungsrecht über die Naturschätze des Landes, soweit diese zur [] Selbsterhaltung notwendig sind. Die Sozialdemokratie verlangt deshalb ein Regime und einen Frieden, die Deutschland das lassen, was es zum Leben braucht, um so schnell wie möglich wiedergutmachen und seinen Beitrag zum Frieden der Welt leisten zu können. [] Für den Wiederaufbau in Wirtschaft und Verwaltung kann die Sozialdemokratie volle Verantwortung vor den Wählern nur insoweit übernehmen, als sie auch zur Mitbestimmung zugelassen wird. Solange sich das deutsche Volk seine Gesetze nicht selbst gibt, müssen zur Mitarbeit herangezogene Parteien und Beauftragte im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit das Recht der freien Meinungsäußerung in Anspruch nehmen dürfen. Die Parteien müssen auch sicher sein, daß ihre Kandidaten und Beauftragten nach gleichem Recht geschützt und respektiert werden, wenn sie für ihr Amt geeignet sind und das Vertrauen ihrer Partei haben. Sollen demokratische Verhältnisse gelten, dann kann es nur ein Recht geben. [] Seitdem das "Heilige Römische Reich Deutscher Nation" zu Ende ging, ist der Reichsgedanke von Bismarcks zweitem und Hitlers drittem Reich mißbraucht worden. Der bürokratische und militärische Machtstaat Preußen war für Deutschland und die Welt ein Verhängnis. Stolz und Ehre einer Nation sind ihre friedlichen Leistungen, ihre Unabhängigkeit und die Freiheit ihrer Bürger, nicht Machtträume und trügerische Geschichtsbilder, die ins Nichts führten. Die Einheit der deutschen Republik bleibt die Forderung der Sozialdemokratie. Die alte dynastische Staats- und Ländereinteilung muß überall in Deutschland einer rationellen Gliederung in mittelgroße Länder weichen, die übersichtlich, sparsam und ohne entbehrliche Mittelglieder zu verwalten sind; ihre Hoheiten und Rechte müssen grundsätzlich vor denen der Republik zurücktreten. Die Fragestellung Bundesstaat oder Staatenbund ist überfällig. Die Länder können immer nur Ausdruck einer von der deutschen Republik delegierten Selbstregierung sein und keine Staaten wie unter Bismarck oder Metternich. Auch unter den jetzigen Verhältnissen verlangt die Sozialdemokratie eine zentrale deutsche Verwaltung über alle Zonen, die einheitlichen Gesetzen dient und einheitlich arbeitet; sie verlangt die Errichtung der Staatssekretariate. Wirtschaftseinheit ohne Verwaltungs- und Gesetzeseinheit wäre ein Widerspruch in sich selbst. Als Hauptstadt der Republik und als Sitz des Interalliierten Kontrollrats soll Berlin den Rang eines Landes haben. Die [] Sozialdemokratie tritt für ein proportionales Listenwahlrecht mit kleineren Wahlkreisen als bisher ein, für Urwahlen bei der Aufstellung von Kandidaten und zur Förderung arbeitsfähiger Mehrheiten für einen Mindestanfall an Stimmen der bei der Mandatsverteilung zu berücksichtigenden Parteien. [] Alle sozialdemokratischen Parteien der Welt haben zwei Grundprinzipien: Sozialismus und Demokratie, auch die deutsche. Die Demokratie ist der Graben, über den es für sie hinüber und herüber kein Verhandeln gibt; auch nicht über die sogenannte "reale" Demokratie, bei der es ungewiß ist, ob nicht die Freiheitsrechte der Bürger dem Machtanspruch einer Partei geopfert werden. Der Sozialismus als kollektivistische Planwirtschaft kann nur das Mittel sein, um in der demokratischen Staatsform die Freiheiten der Bürger für alle zu verwirklichen; die Vergesellschaftung der Produktionsmittel hätte keinen Sinn, wenn sie nicht auch alle Voraussetzungen zur Bildung herrschender Schichten beseitigte, was in der sogenannten "realen" Demokratie bis heute nicht gewiß ist. Ein konservativer Sozialismus, zu dessen Spielarten auch der christliche Sozialismus gehört, (nicht ohne weiteres jeder religiös oder sittlich begründete Sozialismus), verfehlt die Verwirklichung der Freiheitsrechte der Bürger für alle aus einem anderen Grunde: er will Vergesellschaftung oder Sozialisierungen in der Regel nur mit voller Entschädigung durchführen, was unvermeidlich zur Aufrechterhaltung der Klassen und der klassenmäßigen Abhängigkeiten führt. Liberale Parteien mögen soziale Zugeständnisse machen; sozialistische Tendenzen bei liberalen Parteien sind ein Widerspruch in sich selbst und nicht ernst zu nehmen. [] Die Sozialdemokratie betrachtet den in Berlin entbrannten Kampf als Ausdruck eines geistigen Ringens aller Sozialisten der Welt um die Demokratie, insbesondere als Staatsform der sozialistischen Gesellschaft. Die ernstesten Sorgen der deutschen Sozialdemokratie sind die Wiederherstellung der Lebensfähigkeit Deutschlands und die Sicherung der nackten Existenz seiner Menschen. Gerade deshalb erblickt sie im Ausbau der Sozialpolitik und der Sozialversicherung zu einer Schutzeinrichtung gegen die Lebensnot aller werktätigen Schichten in Stadt und Land eine dringliche Aufgabe. Der heutige Tiefstand der Arbeits- und Geschäftsmoral und der Ausverkauf Deutschlands können nicht durch Strafen gegen Schwarzmarktsünder, sondern nur durch schleunigste Nachholung der beklagenswert lange verschleppten Geld- und Finanzbereinigung behoben werden. Auch mit der heutigen Steuerpolitik lügt sich Deutschland nur weiter in die Tasche. Die Sozialdemokratie macht sich zum Anwalt der Gerechtigkeit bei der Verteilung der Kriegslasten; wer Glück gehabt hat, muß gerade stehen für die, die alles verloren. Sie erblickt im Kampf gegen Monopole und Trusts, in der Sozialisierung der Grundindustrien, der Banken und Versicherungsgesellschaften sowie in der Enteignung des Großgrundbesitzes nicht nur Wege zur Entmachtung friedensfeindlicher und imperialistischer Herrenschichten, sondern auch Wege zu einer friedlichen Großindustrie und einer leistungsfähigeren Landwirtschaft, die auch den Flüchtlingen eine [] Existenzgrundlage geben kann. Die Frauen und die jungen Menschen nur als Wählermassen zu betrachten, die es zu gewinnen gilt, heißt den Ernst der Demokratisierung und der Frauen- und Jugendfrage verkennen. Seit Frauen und Jugendliche in der Arbeit stehen, hat die Sozialdemokratie für Frauen- und Jugendschutz gekämpft, die politische und soziale Gleichberechtigung der Frauen durchgesetzt und die sozialistische Arbeiterjugend und Studentenschaft aufgebaut, für die sie auch heute Organisationsfreiheit verlangt. Gegen frühere Nationalsozialisten fordert sie ein einheitliches Rechtsverfahren, das auch den Genuß demokratischer Bürgerrechte von demokratischer Bewährung abhängig macht. Politische Methoden, die mit dem Hunger, der Furcht und dem Heimatverlangen der Menschen Parteiinteressen zu fördern suchen, erklärt die Sozialdemokratie für verächtlich. [] Es wird Jahrzehnte dauern und Dutzende von Milliarden kosten, die erarbeitet werden müssen, bis für die produktive Beschäftigung der vorhandenen Arbeitshände und Arbeitsköpfe auch die notwendigen Arbeitsplätze beschafft sein werden. Sozialistische Planwirtschaft und planmäßige Erfassung und Anlage neugebildeter Geldkapitalien sind eine Gegenwartsaufgabe, weil der Neubau der Wirtschaft nach der Dringlichkeit des Bedarfs nicht der freien Wirtschaft überlassen werden kann. Wenn den Arbeitern zugemutet wird, zu geringen Löhnen zu arbeiten, müssen auch Unternehmer in der Zeit des Wiederaufbaues auf den Betriebsleiterlohn beschränkt bleiben. Die Einschaltung der Gewerkschaften und Betriebsräte ist eine Voraussetzung für den Erfolg der Aufbauplanung, kein neuer Machtanspruch. [] Die Sozialdemokratie möchte mit allen Parteien zusammenarbeiten. Aber mit Parteien, die schweigen, wo deutsche Lebensinteressen verletzt werden, und mit Parteien, die aus konservativer Gesinnung Privatinteressen dem Gesamtinteresse voranstellen, sieht die Sozialdemokratie für die Zusammenarbeit nur begrenzte Möglichkeiten. Sie kann kostspielige Umwege beim Neubau der Wirtschaft und des Staates nicht dulden. Lieber geht sie ihren Weg allein. Sie rechnet dabei auf die Zustimmung aller fortschrittlichen Kräfte Deutschlands und auf die sympathisierende Hilfe aller demokratisch-sozialistischen Organisationen der ganzen Welt. [] W. Girardet, AH/73, Düsseldorf, Auftr.-Nr. 276, 3000, 10. 46, Kl. C.
Published:ca. 1946