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Der neue deutsche Volksstaat [] Von [] M. Erzberger [] Staatssekretär und Mitglied des Reichstags. [] Nachdem der Bundesrat den vom Reichstag beschlossenen Verfassungsänderungen seine Zustimmung gegeben hat, ist der neue deutsche Volksstaat Wirklichkeit geworden. Er ruht jetzt in der Verfassung, er ist getragen von dem Willen der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volles, deren Führer ihn jahrzehntelang erstrebt haben, und das ist die stärkste Garantie, daß er nicht wieder umgeworfen werden kann. Denn nicht so sehr in dem geschriebenen Wort, als in den Herzen und Gehirnen der Menschen ruht die Sicherheit für die Geltung staatlicher Errungenschaften. Mit der Entwicklung zum Volksstaat aber, die bei uns zuletzt durchgebrochen ist, ordnet sich das Deutsche Reich dem notwendigen, großen Geschehen im politischen Denken der Menschheit ein. Diese Entwicklung beruht nicht auf Stimmungen und Zufälligkeiten, die Triebkraft, die sie bewegt und zum Erfolg geführt hat, ist von derselben Art wie die, die das menschliche Dasein zu immer größerer und umfassenderer Erfüllung seiner kulturellen Aufgaben drängt. [] Nur die Tatsache der mangelnden Politisiertheit unseres gebildeten Bürgertums erklärt es, daß der Zustand, wie er jetzt zu Recht besteht und von führenden Männern seit langem erstrebt wurde, nicht schon früher durchgesetzt worden ist. Zu sehr waren wir im Bann des Obrigkeitsstaates, der vielen das politische Denken zu ersetzen schien. Zu stark waren auch die Kräfte, die an der Aufrechterhaltung des bisherigen Systems interessiert waren, auf dem ihre politische Machtstellung beruhte, zu stark, um den Kampf um die Durchführung des Volksstaates sehr aussichtsvoll erscheinen zu lassen. Das Bürgertum überließ sich nicht kritiklos, aber auf Kritik sich beschränkend, der Entwicklung und Gruppierung der Dinge und Verhältnisse, wie sie bureaukratische und militärische Hierarchie schufen. Der Geist des nachsiebziger neuen Deutschlands, das man heute das alte Deutschland nennen muß, war bei allen seinen Leistungen angefüllt von Illusionen, Gutgläubigkeiten, Unverantwortlichkeiten, von jenem merkwürdigen Gemisch von "laisser aller" und naivem Draufgängertum, das die kennzeichnende Signatur für Politiklosigkeit ist. Das deutsche Volk, verwöhnt und verführt durch die starke Hand Bismarcks, hat sich unter seinen Nachfolgern an die patriotisch sein sollende Geste des unbegrenzten Vertrauens, der Ergebenheit in die weise Führung seiner Geschicke durch verantwortliche und unverantwortliche Obrigkeiten gewöhnt, und wenn auch bei besonders krassen Anlässen ein erstauntes Fragen nach Sinn und Wirkung durch seine Reihen ging und seine erwählten Führer dieser Stimme des Erstaunens und der Ueberraschtheit im Reichstag kräftigen Ausdruck verliehen, - daß es letzten Endes beim alten blieb, daran trägt die politische Willenlosigkeit unter den großen Massen unseres Volles die Schuld, die sich immer wieder vertrösten und zurechtweisen ließen. [] Der Krieg und die Abwicklung seiner Geschehnisse hat in die weitesten Kreise unseres Volles mit Naturnotwendigkeit jähes Erwachen gebracht. Ein solches Ereignis wie ein Weltenbrand, der alle bisherigen Begriffe von Verpflichtung des einzelnen zum Ganzen weit hinter sich läßt und den einzelnen aus dem engen Kreis seiner Anschauungen herausführt, bleibt nicht ohne Rückwirkung auf das politische Denken und gebärt in aller Herzen das Erlebnis von der Identität von Staat, Volk und Individuum. Das Blutopfer des Volkes erhöht sein politisches Wertgefühl, das sich in Mitverantwortung und Mitwirkung bei der Bestimmung seines eigenen Schicksals äußert. Darin liegt nichts Ueberhebliches. Das deutsche Volk hat sich in Opferbereitschaft und Disziplin wunderbar gehalten. Es hat die schwersten Entbehrungen und dauernde Hingabe seines Besten an Menschen und Gut ohne Murren und entschlossen getragen. Die demokratisch-parlamentarische Entwicklung hat daher nichts Anmaßendes, Ungehöriges oder Ungebührliches. Ideale Triebkräfte und ein tiefes Ethos im Volke haben diese Entwicklung hervorgebracht. Das Volk hat Mitverantwortung, ist Mitträger seines eigenen Geschicks, ist Subjekt und Objekt des Staates zugleich. Das ist sein gutes Recht, der Idee des modernen Staates und der im Kriege bestandenen Probe auf seine Reichs- und Staatsfreudigkeit nach. Das ist aber auch seine Pflicht. Die Mißerfolge des Obrigkeitsstaates in der äußeren Politik und in den Schnittpunkten derselben mit der inneren Politik liegen offen zutage. Es ist die Pflicht des Volkes, eine Einheitsfront herzustellen zwischen Regierung und Volk, dem staatlichen Leben nach innen und nach außen einen einheitlichen Kurs zu geben und es vor allen unverantwortlichen Einflüssen und Richtungen sicherzustellen. Das ist aber nur möglich, wenn verfassungsmäßige Garantien für eine vom Vertrauen des Volkes getragene Regierung und für die volle Verantwortlichkeit dieser Regierung bezüglich aller politischen und politisch bedeutungsvollen Akte und Aeußerungen gegeben sind, von welchen Stellen im Staate diese auch ausgehen mögen. [] Daß die Verfassungsänderungen zugunsten des neuen deutschen Volksstaates von allen Begleiterscheinungen freigeblieben sind, die nach den Erfahrungen der Geschichte derartige Umwälzungen zu begleiten pflegen, spricht für die Diszipliniertheit des deutschen Volkes, dessen überwiegender Mehrheit umstürzlerische Gewaltsamkeiten fernliegen. Das seit langem als notwendig Erkannte ist unter Mitwirkung aller verfassungsmäßigen Stellen und mit dem Apparat der parlamentarischen Regierung glatt erledigt worden. Es bedurfte keines Druckes der Straße. Daß das deutsche Voll mitten in seinem Existenzkampf epochale Umwälzungen im Innern durchgeführt hat, das ist angesichts der reibungslosen Durchführung der Verfassungsänderungen ein Beweis der in einheitlichem Willen im Innern und nach außen ungebrochenen deutschen Kraft und ein Anlaß zum Stolz. [] Der große Umschwung - er ist größer als die Entwicklung Preußens zum Verfassungsstaat Ende der fünfziger Jahre vorigen Jahrhunderts - ist auch nicht über Nacht gekommen. Die jetzt Gesetz gewordenen Verfassungsänderungen lagen jahrzehntelang in der Luft, sie waren im Jahre 1917 im Verfassungsausschuß gründlich durchberaten und angenommen worden. Damals standen wir in ganz anderer Lage wie heute, und es ist bedauerlich, daß sie erst jetzt Gesetzeskraft erhalten, wo der Eindruck entstehen kann, daß sie ein Produkt der Lage sind. Aber um der Gefahr dieses Eindrucks willen sie jetzt nicht vorzunehmen, das wäre, nachdem sie der ausdrückliche Wille der überwiegenden Volksmehrbeit sind, ein Unterlassen aus politischer Unfreiheit. Ueberstürzt kommen die Verfassungsänderungen jedenfalls nicht. [] Dem deutschen Volke fällt jetzt der größte Teil der Regierungsgewalt im Reiche zu. Ohne die Zustimmung seiner Vertretung, des Reichstags, kann nichts Politisches von Bedeutung mehr geschehen. Es kann nicht mehr vorkommen, daß dem Reichstag, der nach dem gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht gebildet ist, ein Reichskanzler präsentiert wird, von dem die Volksvertretung nicht weiß, welche Politik er treiben will, und an den sie gebunden ist, auch wenn er ihr Vertrauen nicht mehr besitzt. Bisher war der Reichskanzler der Vertrauensmann der Krone, jetzt ist er der Vertrauensmann des Volkes und wird nur so lange an der Spitze des Reiches stehen, als er das Vertrauen des Volkes rechtfertigt. Wie in allen parlamentarisch regierten Ländern kann nun auch die deutsche Volksvertretung den Rücktritt des Reichskanzlers und jedes anderen verantwortlichen Mitgliedes der Regierung erzwingen. Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers beschränkte sich bisher lediglich auf Anordnungen und Verfügungen des Kaisers. Jetzt hat der Reichskanzler die Verantwortung zu tragen für alle politisch bedeutungsvollen Handlungen und Aeußerungen des Kaisers, mögen diese nun ziviler oder militärischer Art sein. Bisher war das deutsche Heer eine Einrichtung, für die niemand volle Verantwortlichkeit vor dem Volke trug. Man hat seine Stellung oft als einen Staat im Staate bezeichnet. Durch die Gegenzeichnung des Reichskanzlers bzw. der vor dem Reichstag verantwortlichen bundesstaatlichen Kriegsminister bei der Ernennung, Beförderung, Versetzung und Verabschiedung der Offiziere und Beamten der Marine und des Heeres wird die deutsche Wehrmacht zu Wasser und zu Lande in den Rahmen des deutschen Volksstaates als ein der Volksvertretung verantwortliches Glied eingefügt. Das Heer ist jetzt ein Instrument im Dienste der Regierungspolitik. Die Eingliederung des Heeres in den Rahmen des Volksstaates wird auch sozial ausgleichend wirken. In Zukunft werden Zivil und Militär keine sozial und politisch getrennten Begriffe mehr sein. Wir sind alle Bürger und Diener des Volksstaates, gleichgültig, ob wir den Zivil- oder Militärrock tragen. Auch eine Kriegserklärung ist nicht mehr möglich ohne die Zustimmung des Reichstages. Künftighin kann kein Krieg mehr ohne ausdrückliche Zustimmung des deutschen Volkes stattfinden. Dasselbe gilt für die Abschließung von Friedensverträgen. [] Der neue deutsche Volksstaat bietet alle Garantien, daß in ihm der politische Wille der Mehrheit des Volkes zum Ausdruck kommt und die innere und äußere Politik des Deutschen Reiches beherrscht. Das deutsche Voll entscheidet selbst über seine Geschicke. Was die Führer der großen Parteien des Reichstags, zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Wegen herkommend, was Gröber, Bassermann, Eugen Richter, Müller-Meiningen, Bebel, Heine angestrebt haben, ist nun in gemeinsamer Zusammenarbeit erreicht worden. Das deutsche Volk hat diese Entwicklung zu seinem eigenen Besten vollzogen, zu innerer Freiheit und Verantwortlichkeit, und hat sich damit eingeordnet in die Reihe der parlamentarisch regierten Großmächte. Eine spätere Zeit erst wird diese Entwicklung in ihrer ganzen Größe voll erfassen können. Aber schon jetzt haben wir alle Veranlassung, auf unseren neuen Volksstaat stolz zu sein, und haben zu geloben, ihm unsere ganzen Kräfte zuzuführen im vollen Bewußtsein der Verantwortung, die jeder einzelne Bürger für den Staat trägt. [] Druck: Linden-Druckerei u. Verlags-Ges. m. b. H., Berlin NW. 6.
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