Offener Brief an Herrn Bürgermeister Passarge, Lübeck

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Offener Brief [] an Herrn Bürgermeister Passarge, Lübeck [] Sehr geehrter Herr Bürgermeister! [] Das brutale Verhalten einiger Polizisten gegenüber Jugendlichen, die zum großen Teil als Gäste aus der DDR in Lübeck weilten, am 30.9. resp. 1.10...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Meyn, Hein
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 30.09.1950
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/1EFE414F-4910-4A5D-AC6C-CDF2B33B98F6
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Offener Brief [] an Herrn Bürgermeister Passarge, Lübeck [] Sehr geehrter Herr Bürgermeister! [] Das brutale Verhalten einiger Polizisten gegenüber Jugendlichen, die zum großen Teil als Gäste aus der DDR in Lübeck weilten, am 30.9. resp. 1.10.1950, veranlassen mich, mich an Sie zu wenden. [] Zeugen berichteten mir: [] "Am Sonnabend, dein 30. 9 1950, um 18.15 Uhr erscheint ein Auto mit Bereitschaftspolizei vor dem Jugendheim in Lübeck. Die Polizisten verlassen das Auto, schlagen sofort auf jeden ein. Ein Passant wurde, weil er stehen blieb, um zu sehen, was da vor, sich ging, sofort festgenommen. Als er nach den Gründen seiner Festnahme fragte, wurde er geprügelt und ins Auto gestoßen. Im Auto selbst wurde den Festgenommenen unter Androhung von Prügeln eröffnet, daß sie sich nicht zu unterhalten hätten. Ein Polizist sagte zum Beispiel in einem sehr brutalen Ton: "Wenn jemand die Fresse aufmacht, dann gibt es was". Beim Verlassen der Wagen wurde ein Herr Nietzsche, der gerade von der Arbeit kam und an dem Auto vorüber mußte, ohne jeden Anlaß festgenommen. Als er in sachlichen Worten protestierte, wurde er zur Antwort verprügelt. Ein Polizist drohte mit der Pistole. Die Freunde der Sportmannschaft der DDR wurden nachts im Hotel mit vorgehaltener Pistole und gezücktem Gummiknüppel aus den Betten geholt." [] Der Gedanke, Ihnen zu schreiben, kahm [!] mir, als mir diese "Heldentaten" geschildert wurden. Ich erinnerte mich an die Folterungen von Häftlingen durch SS-Kohorten im KZ. [!] Sachsenhausen. [] Auch hieran erinnerte ich mich: Es war um die Weihnachtszeit des Jahres 1933, bitter kalt, der Sturm drückte den Schnee durch die dünnen Barackenwände. Nach schwerer Arbeit saßen wir Häftlinge abgemagert und hungrig um den Tisch. [] Es hatte wieder einmal - wie schon seit Wochen fast täglich - verfaulte, stinkende Steckrüben zu Mittag gegeben. Täglich starben Kameraden vor Hunger. Es war der Block 24, in dem auch Sie und ich unser Gefangenendasein fristeten, und oft haben wir uns am Tisch 2 unterhalten. Sie berichteten von Gewalttaten der SS auf ihrem Arbeitsplatz. Sie waren, wenn ich nicht irre, als Maurer im Gartenbau tätig, während ich Ihnen Vorkommnisse aus dem Klinkerwerk schilderte, wo ich arbeiten mußte. Unser Gespräch kam verständlicher Weise auf die Politik. Sie gaben den Alliierten nur wenig Chancen, den Krieg gegen Hitlerdeutschland zu gewinnen. Sie waren aber der Meinung, daß die die [!] Spaltung der Arbeiterklasse dem Faschismus in Deutschland die Machtübernahme ermöglicht hat. Sie äußerten sich weiter dahingehend, daß man eine Einheit der Arbeiterschaft in Deutschland schaffen muß, um die Niederlage des Faschismus herbeizuführen. [] Nach der Kapitulation wollten Sie Ihr Versprechen, die Schaffung der Einheit der Arbeiterklasse, wahrmachen. Sie haben damals in Lübeck eine gute Arbeitsgemeinschaft zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten geschaffen. Dieser Arbeitsgemeinschaft entwuchs der 7er-Ausschuß, in dem Sozialdemokraten. und Kommunisten dazu beitrugen, in Lübeck wieder menschliche und geregelte Verhältnisse herzustellen. [] Trotz Anfeindungen rückschrittlicher Menschen in ihrer Partei knüpften Sie Handelsbeziehungen mit der DDR an. Sie ließen sich nicht beirren, als selbst Ihre Parteizeitung gegen Sie Stellung nahm. Sie wußten: Lübeck wird leben, wenn die DDR. kauft und verkauft. Oft waren Sie in der DDR. zu Gast und auch Vertreter der Bevölkerung der DDR. weilten als Gäste in Lübecks Mauern In Ihren Reden haben Sie bei diesen Gelegenheiten hüben und drüben immer wieder die Einheit Deutschlands betont. Das war damals! [] Dann kamen die Mißhandlungen an jugendlichen Gästen aus der DDR, deren Zeugen 80 Jungen und Mädel aus diesem Teil unserer deutschen Heimat waren. [] Sie, Herr Bürgermeister, sind als Oberhaupt der Stadt Lübeck auch moralisch verantwortlich für die Übergriffe dieser Polizisten. Jugendliche wurden zusammengeprügelt, weil sie für den Frieden eintraten, weit sie nicht wollen, daß unsere Heimat durch Atombomben zerstört wird, weil sie nicht wollen, daß sie - und dafür noch für fremde Interessen - Söldnerdienste leisten sollen. [] Wenn die Polizei in einer Stadt, in welcher Sie die Funktion des Bürgermeisters ausüben, Menschen gewaltsam daran hindert, diesen Friedenswillen in die Tat umzusetzen, dann bedeutet es, daß Sie mit den Maßnahmen der Polizei einverstanden sein müssen, daß Sie das Vorgehen der Polizisten decken, also für den Atomkrieg sind. [] Sehen Sie, Herr Bürgermeister, über diese Dinge habe ich nachgedacht, und es wäre mir sehr angenehm von Ihnen eine Antwort zu bekommen, wie sich Ihre heutige Verantwortlichkeit mit der damaligen Auffassung im KZ. [!] vereinbart. [] Wir haben uns im KZ. [!] geduzt und auch noch, als wir uns zuletzt vor einigen Monaten trafen. Ich konnte es einfach nicht übers Herz bringen, das vertraute Du in diesem Brief anzuwenden, solange ich nicht weiß, daß Sie sich von den Gewaltmaßnahmen dieser Polizeibeamten distanziert haben. [] Mit sozialistischem Gruß! [] gez. Hein Meyn
Published:30.09.1950