Hunger und Nationalismus

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Auszug aus der Wochenschrift für Sozialismus und Demokratie, [] 2. Jahrgang Nr. 3, Hannover, 18. Januar 1947 [] Hunger und Nationalismus [] Von Dr. Kurt Schnmacher 1. Vorsitzender der SPD [] Die deutschen Sozialdemokraten behaupten keinesweg...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Schumacher, Kurt
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 1947
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/C7B9A699-FA7E-4E17-B43D-D4D146A73E02
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Auszug aus der Wochenschrift für Sozialismus und Demokratie, [] 2. Jahrgang Nr. 3, Hannover, 18. Januar 1947 [] Hunger und Nationalismus [] Von Dr. Kurt Schnmacher 1. Vorsitzender der SPD [] Die deutschen Sozialdemokraten behaupten keineswegs, die einzigen Demokraten in Deutschland zu sein. Nach der geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte aber bilden sie die einzige Partei, deren Demokratie auch krisenfest ist. [] In der Weimarer Republik war die Demokratie von vornherein hart umkämpft. Es war die Tragödie dieser geschichtlichen Epoche, daß wir 1918 wohl einen militärischen und politischen Zusammenbruch, aber nicht eine von revolutionären Kräften des eigenen Volkes getragene Umbildung erlebt haben. Kritiker an dem "Versagen" der Sozialdemokratie sollten freilich etwas vorsichtiger sein; denn die Festigung der Demokratie und die Vernichtung des Nationalismus und Militarismus hing von dem Umfang und der Intensität einer sozialen Neugestaltung ab. Die Siegermächte von 1918 aber waren alles andere als die Träger einer sozialistischen Fundierung der Demokratie. [] Die unterbliebene sozialistische Konseguenz von 1918 hat dem deutschen Großbesitz die Möglichkeit zu einer scheindemokratisch auffrisierten Gegenrevolution gegeben, [] Und 1945? Wohl fehlt unserem Volke eine lange Zeit notwendiger politischer Schulung; aber die Tatsache, daß Deutschland besetzt worden ist, hat die große Auseinandersetzung mit den Nazis und ihren Hintermännern unmöglich gemacht. Zum zweiten Male droht eine Revolution zu versanden und zu ersticken. Im Durchschnitt geht es heute den Kreisen, ohne die die Nazis niemals zur Macht gelangt wären und den zweiten Weltkrieg hätten vorbereiten können, besser als den Feinden des Dritten Reiches. [] Immer weiter klafft die Schere auseinander. Der Reallohn der Arbeitswilligen sinkt auf ein Minimum, und der Profit der Schieber, Schwarzhändler und Sachwertbesitzer steigert sich zu unvorstellbarer Größe. [] Dieser Zustand ist unerträglich; denn er bedeutet nur die Permanenz einer sozialen Revolution ohne die Möglichkeit einer Neugestaltung. Ihm würden auf die Dauer auch die Ideen nicht widerstehen können, die heute von der Welt mit Recht von den Deutschen als notwendige Voraussetzung ihrer politischen und wirtschaftlichen Geltung gefordert werden. Alle sprechen heute in Deutschland von der Demokratie. Aber eine Demokratie, die nicht aus dem eigenen elementaren Volkswillen kommt, sondern lediglich durch die Bajonette der Besatzungsmächte garantiert wird ist keine Demokratie. Nach den heutigen Gegebenheiten und der ganzen politischen und geistigen Geschichte der Deutschen muß die Demokratie sozialistisch sein, um die Wiederholung der Vorgänge, die zur Machtergreifung durch Hitler führten, unmöglich zu machen. [] Der Mangel an sozialistischer Konsequenz, wie sie für Deutschland geboten ist, führte zu den heutigen chaotischen Zuständen. Das Fehlen der Einheitlichkeit in den Richtlinien für Ernährung, Wirtschaft und Verwaltung läßt alle Kräfte auseinanderstreben. Der Gemeinsinn und die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe schwinden in rasendem Tempo dahin. [] Die Verwaltung kommt in vielen Gegenden in ein Stadium, in dem sie nicht mehr ordnungsgemäß zu funktionieren vermag. Die praktische Überbetonung der Sachwerte macht ihre Besitzer zu Herren über Leben und Tod von Millionen. [] Eine neue Welle allgemeiner Demoralisierung geht durch Deutschland. Die Korruption nimmt erschreckenden Umfang an. Die Krise geht von der Demontage und einer ungelenkten und in nichts ausreichenden industriellen Produktion aus. Sie hat, verbunden mit der Tatsache, daß das übervölkerte Restdeutschland - besonders der Westen - seine Bewohner aus eigenen Kräften nicht zu ernähren vermag, einen neuen gesellschaftlichen Tatbestand geschaffen. Der Hunger, der besonders in den Industriegebieten, in den Großstädten und bei den Flüchtlingen grassiert, bringt die Demokratie in Gefahr. Diese Zustände lassen den darbenden und verelendeten Menschen jede Politik als sinn- und zwecklos erscheinen. [] Wir sind heute in Deutschland in der Gefahr, daß das politische Leben und der Kampf aller gegen alle um das nackte Dasein Dinge sind, die nichts mehr miteinander zu tun haben. Die unwiderstehliche Wucht der Angst vor dem Verhungern droht viele Deutsche unpolitisch zu machen. Aber nur politische Deutsche können demokratische Deutsche sein. Die Unpolitischen waren schon vor 1933 das große Reservoir des Nationalismus. [] Ohne Zweifel sind im deutschen Volke starke Kräfte, die zur Demokratie Vertrauen haben wollen. Aber diese Kräfte sind jetzt in Gefahr, auf ein für die praktische Staatspolitik nicht mehr erträgliches Minimum dahinzuschmelzen. Weite Kreise werden auf Grund der unhaltbaren sozialen Zustände und der Ernährungskrise jetzt von Mißtrauen gegen die Demokratie erfüllt. Diese Kreise wachsen, je stärker der Hunger sich ausbreitet und je verheerender das Elend wird. Das gilt besonders für die jungen Menschen. Man darf nie vergessen, daß sie im Geiste des Nationalismus erzogen worden sind und jetzt den Glauben an die Menschlichkeitswerte der Demokratie zu verlieren drohen, den anzunehmen sie doch weitgehend bereit waren. [] Die Wiederbelebung des Nationalismus wäre die einzige Folge dieser Elendslage und dieser seelischen Isolierung. Was unter solchen Verhältnissen eine Praxis der Stillegung von Fabriken, der Deportationen oder der Grenzberichtigungen im Osten und Westen erzeugen muß, liegt auf der Hand. [] Irgendeine Form des Nationalismus, die aus ihrer Denkart heraus den ganzen Inhalt der modernen Kultur beherrschen zu können vermeint, wird dann entstehen. Ob dieser Nationalismus vom deutschen Großbesitz auf eigene Rechnung oder von der imperialen Politik einer fremden Macht verwendet wird, kann erst die Geschichte zeigen. [] Mit dem Hunger und der Verelendung bleibt auch der Geist der Menschlichkeit und des Mittlertums zwischen den europäischen Kulturen auf der Strecke. [] Es tritt daher der schreckliche Zustand ein, den Goethe einmal mit den Worten ausgesprochen hat, als er den Deutschen diese Rolle zuwies und sie davor warnte: "Nicht aber als Organisation sich zu verstecken, in abgeschmackter Selbstbetrachtung sich zu verdummen oder gar in Dummheit zu herrschen über die Welt". Dann würden seine Worte schreckliche Wahrheit: "Unseliges Volk, es wird nicht gut ausgehen mit ihm; denn es will sich selbst nicht verstehen, und jedes Mißverstehen seiner selbst erregt nicht Gelächter allein, es erregt den Haß der Welt und bringt es in äußerste Gefahr." [] Für den Sieg dieses Geistes wollen wir kämpfen. Aber in dieser Stunde tödlicher Gefahr nicht nur für Millionen von deutschen Menschenleben, sondern auch für die großen tragenden Ideen der Menschheit, sollte die Welt verstehen, daß von ihrer schnellen und praktischen Hilfe unendlich viel abhängt. Wenn die Vereinten Nationen auch den Hunger in Deutschland besiegen, und zwar schnell und gründlich besiegen können, dann ist ein großer Feldzug für die Menschheit gewonnen! [] Sozialdemokratische Partei Deutschlands Landesverband Groß-Berlin Berlin W 35, Zietenstraße 18 Telefon: 24 95 01-09 Nachtruf: 24 51 29 [] Kreis: Anschrift: Telefon: [] 1 Mitte Berlin N, Fehrbelliner Str. 24 422517 2 Tiergarten Berlin NW, Stromstr. 53 393181 Berlin W 31, Potsdamer Str. 96 911083 3 Wedding Berlin N 65, Amsterdamer Str. 13 461790 4 Prenzlauer Berg Berlin N 59, Pappelallee 1 428113 426501 5 Friedrichshain Berlin O 112, Crossener Str. 22 553911(vorläufig) 6 Kreuzberg Berlin SW 68, Oranienstr. 42 662183 7 Charlottenburg Charlottenburg, Berliner Str. 60 322438 8 Spandau Spandau, Carl-Schurz-Str. 18 376112 9 Wilmersdorf Wilmersdorf, Nassauische Str. 49 872378 10 Zehlendorf Zehlendorf, Teltower Damm 19 846938 11 Schöneberg Schöneberg, Hauptstr. 146 712283 12 Steglitz Steglitz, Schloßstr. 17 721398 13 Tenipelhof Tempelhof, Berliner Str. 76 752302 14 Neukölln Neukölln, Karl-Marx-Str. 117 622159 15 Treptow Baumschulenweg, Köp. 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Published:1947