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An die liberalen Wähler [] des Kreises Potsdam-Spandau-Osthavelland! [] Der Reichstagsabgeorduete Herr K. Schrader, hervorragendes Mitglied der freisinnigen Vereinigung, bespricht die Lage nach den Wahlen vom 25. Januar, insbesondere die Stichwahltaktik der Liberalen, in folgenden interessanten Artikel: [] Der neue Reichstag. [] Die Beschaffenheit des neuen Reichstages läßt sich schon jetzt ziemlich sicher übersehen. [] Unvermindert bleibt der Besitzstand des Zentrums; es kann nur wenige Mandate in der Stichwahl verlieren. Die konservativen Parteien und die Nationalliberalen werden von dem Verluste der Sozialdemokratie den größeren, die drei Parteien der Linken den kleineren Teil gewinnen; die Sozialdemokratie kann bis zur Hälfte ihres Besitzes verlieren. [] Die Wiederstandskraft der Linken im ganzen gegen etwaige reaktionäre Pläne und gegen weitere indirekte Belastung des Volkes durch Zölle, Steuern un dergleichen ist geringer geworden. [] Welche Stellung der Reichskanzler einnehmen wird, ist noch unsicher. Nach seinen Kundgebungen scheint er an seiner bisherigen Politik nichts ändern und die Mehrheit, welche ihm Konservative, Nationalliberale und Freisinnige bieten können, nur dazu benutzen zu wollen, gewisse Forderungen, für welche etwa das Zentrum nicht zu haben sein sollte, insbesondere Bewilligungen für Heer, Flotte und Kolonien durchzusetzen. Der Konservativen und Nationalliberalen glaubt er dafür sicher zu sein, die Freisinnigen werden ihm keine grundsätzliche Opposition machen, aber ihrer bisherigen Haltung entsprechend ihre Entscheidung nach sachlichen Gründen treffen. Sie bleiben in ihrer defensiven Stellung, bereit, gegen jede politisch, wirtschaftlich oder kulturell reaktionäre Maßregel mit aller Kraft aufzutreten und die liberalen Errungenschaften zu veneidigen, aber ebenso bereit, alle vernünftigen fortschrittlichen Maßregeln, einerlei von welcher Seite sie kommen, zu unterstützen. Wie bisher, Aber sie müssen noch vorsichtiger sein, [] weil die rechte Seite des Reichstages - der man nach den Erfahrungen der letzten Zeit den größeren Teil der Nationalliberalen wohl zurechnen muß - verstärkt ist. [] An Neigungen, diese Stärke auszunutzen, fehlt es nicht; immer wieder ist bei der Wahl die Abänderung des Wahlrechtes herangezogen worden, und mancher wird die Gelegenheit für günstig halten, gegen die unbequemen Bestrebungen der Arbeiter gesetzgeberisch vorzugehen. [] Der Liberalismus muß in dieser Lage der Dinge besonders auf der Hut sein und scharf betonen, daß er weder seinen alten, stets vertretenen Grundsätzen untreu werden, noch in ihrer Verteidigung irgendwie lässiger werden will. Er darf sich nicht darüber täuschen, daß gerade jetzt die [] Hauptgevahr auf der rechten Seite [] droht. [] In einer wichtigen Beziehung ist noch völlige Ungewißheit. Wie werden sich Reichskanzler und Zentrum zueinander stellen? [] Das Zentrum wird sich sicher nicht ohne weiteres demütig fügen. Dazu ist es zu stark. Wird ihm auch die Möglichkeit genommen, mit der Sozialdemokratie und den Polen eine oppositionelle Politik zu betreiben, so bleibt es doch ein unentbehrliches Glied in der Gruppe, mit welcher bisher die Regierung gearbeitet, insbesondere die Zölle und Steuern geschaffen hat, und mit welcher diese Zölle und Steuern aufrecht erhalten werden müssen. Die beiden andern beteiligten Parteien, insbesondere die Konservativen, denken nicht daran, ihre Beziehungen zum Zentrum aufzugeben. [] Aber die eigentliche Bedeutung der Auflösung und der Wahlbewegung sollte doch sein, Macht und Einfluß des Zentrums zu brechen! Gerade dieser Zweck und die Art, wie Herr Dernburg sich in dessen Dienst stellte, ist es gewesen, was den jubelnden Beifall des Volkes zuerst hervorrief. Es scheint beinahe, daß der Reichskanzler diesen Zweck bereits durch die Verminderung der sozialdemokratischen Mandate für erreicht hält. Die Macht des Zentrums ist dadurch zwar geringer geworden, und der Reichskanzler und Minister-Präsident Fürst Vülow sttht ihm jetzt stärker gegenüber. Aber wird er diese Stärke zu dem benutzen, was bei der Reichstagsauflösung erwartet wurde? Wird er Deutschland erlösen wollen von dem schwer empfundenen Druck einer nicht bloß vom Zentrum geübten heimlichen Nebenregierung, deren Wirkung auch ihm nicht fremd geblieben ist? Wird er sich damit begnügen, das Zentrum aus der Kolonialpolitik auszuschalten? [] Nichts könnte mehr enttäuschen, als wenn sich zeigte, daß der Reichskanzler sich mit einer Besserung der Kolonialpolitik begnügen, sonst aber alles beim alten lassen will. Die Kolonien haben wohl an manchen Orten eine große Rolle in der Wahlbewegung gespielt, aber es war doch hauptsächlich die Entrüstung über das Verhalten des Zentrums und dessen tapfere Zurückweisung durch Herrn Dernburg. was begeisternd auf die Wähler wirkte. Man wird sich freuen, wenn er die Kolonialverwaltung gründlich verbessert und die Kolonien allmählich zum wirtschaftlichen Gcdeihen bringt, aber die Interessen an ihnen sind doch nicht allgemein genug, und die Fortschritte können nur langsame sein. so daß sehr bald die großen allgemeinen Fragen der inneren Politik wieder die Hauptsache bilden werden. Im Reiche und in Preußen. Dann ist aber die Auseinander setzung mit dem Zentrum und dem rückschrittlichen Gange unserer Kulturfragen unvermeidlich. Um so mehr, als es gerade neben den Vertretern der großen Handels" und industriellen Interessen die Männer der Wissenschaft gewesen sind, welche dem Reichskanzler wesentliche Unterstützung bei der Wahl geleistet haben und noch leisten werden. Sie erwarten mit Recht eine freiere Politik als die bisherige. [] Und will der Reichskanzler alles beim alten lassen, so wird auch das Zentrum bald genug seine frühere Macht wiedergewinnen. Dazu hat es Mittel und Freunde genug, wenn ihm auch die doch nur in Einzelfällen gewährte Unterstützung der Sozialdemokratie fehlt. [] Dem Liberalismus aber bleibt zurzeit nichtsübrig, als damit zu rechnen, daß die Wahlen die rechte Seite verstärkt haben und die Stichwahlen sie noch weiter verstärken werden. Er muß sich hüten, selbst dazu beizutragen und dafür sorgen, daß niemand liberale Stimmen erhält, von dem zu befürchten ist, daß er zur Gefährdung der liberalen Errungenschaften beitragen wird. [] A. Schrader, Mitglied des Reichstages.
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