Justizverbrechen gegen die Berliner Falken

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; JUSTIZ Verbrechen [] GEGEN DIE BERLINER FALKEN [] Justizverbrechen gegen Berliner "Falken" [] Freiheit für Jürgen Gerull und alle anderen Opfer der neuen Diktatur [] Am 15. Juni fand im russischen Sektor Berlins ein Schauprozeß gege...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Parteivorstand, Brandt, Willy
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 06.1949
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/F9DFA443-32A0-4F93-A7E9-72921EE9B9ED
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; JUSTIZ Verbrechen [] GEGEN DIE BERLINER FALKEN [] Justizverbrechen gegen Berliner "Falken" [] Freiheit für Jürgen Gerull und alle anderen Opfer der neuen Diktatur [] Am 15. Juni fand im russischen Sektor Berlins ein Schauprozeß gegen neun Mitglieder der Falkenbewegung, unter ihnen zwei siebzehnjährige Mädchen, statt. Der zwanzigjährige Student Jürgen Gerull, 2. Vorsitzender der Berliner Falken, wurde zu zweieinhalb Jahren, sein Kamerad, der achtzehnjährige Lehrling Werner Wilke, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ein Schauprozeß sollte dabei von der Tatsache ablenken, daß Tausende junger Menschen in der Ostzone und im Ostsektor Berlins wegen ihrer Gegnerschaft zur neuen Diktatur verhaftet, verschleppt und ohne Urteil in Zuchthäuser, Konzentrationslager und Zwangsarbeitshöllen geschickt worden sind. Dieses System der Verschleppungen, der nächtlichen Verhöre und Folterungen aber dauert an. Davon kann auch ein gelegentlicher Schauprozeß nicht ablenken, bei dem man dann sieben der Angeklagten aus taktischen Gründen freisprach. Im Grunde drehte es sich doch nur um eine Drohung, die sich vor allem gegen die vielen jungen Menschen richtet, die sich trotz aller Schikanen nicht haben davon abhalten lassen, ihrer Falkenbewegung auch im russischen Sektor Berlins die Treue zu halten. (Zunächst hat man versucht, die Falkengruppen durch Spitzel zu durchsetzen und ihre Funktionäre durch Provokationen und stundenlange Verhöre zu zermürben. Es ist vorgekommen, daß man vor einem Liederabend beispielsweise den Text sämtlicher zu singenden Lieder in russischer Übersetzung und in dreifacher Ausfertigung verlangt hat. Jetzt will man die jungen Menschen [] damit einschüchtern, daß ihre Teilnahme an der sozialdemokratischen Jugendbewegung sie jederzeit ins Gefängnis bringen kann. Denn das ist der eigentliche Sinn des Terrorurteils vom 15. Juni. Die jungen Berliner bangen darum nicht ohne Grund um das Leben ihrer eingekerkerten Kameraden, müssen sie doch damit rechnen, daß aus der Gefängnisstrafe eine Deportation wird oder die Überführung in eines der berüchtigten KZ's.) [] Ein eklatantes Justizverbrechen [] Dabei ist das Urteil gegen die beiden Falken-Funktionäre ein eklatantes Justizverbrechen. Ihr "Verbrechen" bestand nämlich nur darin, daß sie vor der Wahl zum sogenannten Volkskongreß im vergangenen Monat in einem Stadtteil des russischen Sektors von Berlin die Ostausgabe des "Telegraf" verbreitet hatten. Dadurch hatten sie nach Ansicht des kommunistischen Staatsanwalts "den Frieden des deutschen Volkes gefährdet". In Wirklichkeit handelte es sich darum, daß in der fraglichen Ausgabe des "Telegraf" die Bevölkerung der Ostzone und des Ostsektors aufgerufen wurde, bei den Wahlen zum kommunistischen Volkskongreß mit "Nein" zu stimmen, was die Mehrheit der Wähler in der Ostzone trotz aller Drohungen und trotz aller Propaganda auch befolgte. Die Ostausgabe des "Telegraf" ist dabei keine illegale Zeitung. Sie ist nämlich - wie alle anderen Ausgaben dieses Blattes - von den britischen Behörden lizenziert. Auf dem Papier sind die vier Mächte selbst übereingekommen, den interzonalen Zeitungsaustausch wieder aufzunehmen. Jürgen Gerull und Werner Wilke aber wurden eingekerkert, weil sie eine angesehene deutsche Zeitung von einem Sektor Berlins in den anderen brachten. Die Kommunisten scheuen sich also nicht, junge Deutsche auf Grund einer, noch dazu falsch ausgelegten Kontrollratsdirektive einsperren zu lassen. [] Mit Handschellen in den Gerichtssaal [] Die Berliner Falken hatten von der Staatsanwaltschaft zwanzig Zuhörerkarten zu diesem Prozeß erbeten und erhalten. Mit einer dieser Karten begab sich der erste Vorsitzende der Falken, Heinz Westphal - der 25jährige Sohn des während der Hitlerzeit verstorbenen Max Westphal - zur Gerichtsverhandlung. Er empfand es als seine Pflicht, dem Prozeß gegen seine Freunde und seinen Stellvertreter persönlich beizuwohnen. Und dabei nun ereignete sich ein Zwischenfall, der deutlich zeigte, was gespielt werden sollte. Die Angeklagten, die drei Wochen in Haft gewesen waren, wurden mit Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Bei seiner Vernehmung gab Jürgen Gerull an, er sei in einem dunklen Raum vernommen worden und habe 24 Stunden nichts zu essen bekommen. Er sei auch aus dem Schlaf gerissen worden und das Protokoll habe er beim Schein einer Taschenlampe unterschreiben müssen. Auch die anderen Angeklagten erklärten, ihnen sei bis zu 41 Stunden vor der Vernehmung kein Essen gereicht worden. Gerull enthüllte auch, seine Vernehmungen hätten in Gegen wart von Funktionären der kommunistischen SEP stattgefunden, und täglich sei ein Funktionär zu ihm gekommen, um ihn zu bedrohen. [] Von hinten überfallen [] Gegenüber diesen Dingen machte ein jugendlicher Zuschauer eine kritische Äußerung, worauf er von Kriminalbeamten sofort abgeführt wurde. Westphal machte daraufhin den Gerichtsvorsitzenden durch Zuruf darauf aufmerksam, daß ein junger Mann verhaftet worden sei. Der Vorsitzende ignorierte aber Zwischenfall und Zuruf, worauf Heinz Westphal den Saal verließ, um sich selbst um das Schicksal des Abgeführten zu kümmern. In demselben Augenblick, in dem er den Saal verlassen hatte, wurde Westphal von hinten überfallen. Daraufhin rief er um Hilfe. Als um seine rechte Hand eine Kette gelegt wurde, befürchtete er nicht ohne Grund eine Entführung und setzte sich zur Wehr. Während ihm mehrere aufgehetzte Mitglieder der kommunistischen FDJ und andere ins Gesicht schlugen, wurde er zur Treppe heruntergezerrt. Auf dem Wege zur Straße wurde ihm die zweite Hand gefesselt und das Falkenabzeichen heruntergerissen. Dann zerrte man ihn in einen Polizeiwagen. Auf der Fahrt zum Polizeigefängnis zog einer der begleitenden Zivilisten die Pistole und schlug Westphal damit gegen die rechte Schläfe. Als er drei Tage später dem Schnellrichter vorgeführt wurde, hatte Westphal ein großes Pflaster über einer Schläfenwunde, ein blutgefülltes, zugeschwollenes Auge und ein blutbesudeltes Jackett. [] Am 18. Juni wurde dann Heinz Westphal wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" zu 6 Wochen Gefängnis verurteilt, nachdem der Staatsanwalt 10 Wochen beantragt hatte. Die beiden anderen Anklagepunkte, Körperverletzung und Hausfriedensbruch, mußte sogar der kommunistische Schnellrichter fallen lassen. (Aber der verrückteste Punkt der Anklage wurde aufrechterhalten: Der Überfallene wurde wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" eingesperrt. Räuber lassen den Beraubten verurteilen! - soweit ist es gekommen. Was sich in Berlin gegenüber den Falken-Funktionären und vielen anderen Menschen abspielt, ist schlimmer als Wildwest. Es ist staatlich lizenzierter Menschenraub, behördlich autorisiertes Banditentum.) [] Verächtliche Rolle der FDJ. [] Das Urteil wurde dann dadurch abgeschwächt, daß Westphal ein "Gnadengesuch" empfohlen wurde. Die starken Protestkundgebungen, zu denen es unmittelbar nach dem Schandurteil und der Entführung gekommen war, hatten offenbar Eindruck gemacht. Die ostzonalen Machthaber entschlossen sich daher zu einem taktischen Rückzug, obwohl ihnen das Stichwort bereits gegeben worden war, als die kommunistische "Freie Deutsche Jugend" die Behauptung aufstellte, Westphal habe sich im Auftrag des Ostbüros" der SPD Provokationen zuschulden kommen lassen. Die Rolle dieser FDJ ist besonders verächtlich. Ihre Leitung gab eine Erklärung ab, in der sie die Verurteilung Jürgen Gerulls und Werner Wilkes begrüßte. Die Falken stellten daraufhin fest, sie müßten die FDJ in Zukunft als eine verbrecherische Organisation betrachten. In den Westzonen gab das Falken-Sekretariat bekannt, daß es in Zukunft jegliche Zusammenarbeit mit der FDJ ablehnen und jeglicher behördlichen Unterstützung für sie entgegentreten würde. Nun versuchte die FDJ-Führung die Wellen zu glätten. Scheinheilig empfahl sie die Freilassung Heinz Westphals. [] Auf der Straße ins Auto gezerrt [] Daß die Träger der ostzonalen Diktatur gegenüber der öffentlichen Meinung nicht unempfindlich sind und sich vor dem moralischen und vielleicht auch weiterreichenden Boykott der demokratischen Kräfte fürchten, zeigte die binnen 24 Stunden erfolgte Freilassung der neunzehnjährigen Helga Wels. Als Freundin Jürgen Gerulls und Falken-Funktionärin hatte sie dem Prozeß am 15. Juni beigewohnt. Auf dem Heimweg wurde die Enkelin des langjährigen Vorsitzenden der SPD, Otto Wels, im Ostsektor in ein Auto gezerrt und ins kommunistische Polizeigefängnis gebracht. Der Menschenraub war beobachtet worden und konnte in allen Einzelheiten geschildert werden. Die Kommunisten entschlossen sich darum, ihre ursprüngliche Absicht aufzugeben und Helga Wels freizulassen. Dabei ergab sich allerdings, daß diese vierzehn Tage lang in den Berliner Westsektoren von kommunistischen Polizeispitzeln beschattet worden war. [] Wir können nicht länger schweigen [] In Berlin läßt sich das Treiben der neuen Diktatur nicht völlig verheimlichen. Über der Ostzone aber liegt ein Schleier des Schweigens. Ähnlich wie in den deutschbesetzten Ländern während des Krieges werden die Mitteilungen über die wirklichen Vorgänge auf abenteuerliche und gefahrvolle Art aus der Zone herausgebracht. Das freiheitliche Berlin ist sich seiner Verantwortung vor den Menschen der Ostzone bewußt. Jürgen Gerull, Werner Wilke, Heinz Westphal sind Symbole für die vielen Namenlosen, die widerrechtlich eingekerkert und zugrunde gerichtet werden. Heinz Westphal ist Vorstandsmitglied der sozialistischen Jugendinternationale. Sein Schicksal hat seine Genossen in anderen Ländern bereits zu einer Reihe scharfer Proteste veranlaßt. Es ist zu erwarten, daß auch bei den sowjetischen Gesandtschaften Vorstellungen gemacht werden. Es geht jetzt um die Revidierung des Urteils gegen Jürgen Gerull und Werner Wilke, um die Befreiung aller widerrechtlich Eingekerkerten und um die Beendigung des verruchten Systems des Menschenraubes. [] Schluß mit dem Terror-System! [] Am 18. Juni haben sich die Berliner Jugendorganisationen in einer großen Protestkundgebung an die ganze zivilisierte Welt gewandt und ihre Unterstützung im Kampf gegen Menschenraub und Justizverbrechen erbeten. Die Berliner Sozialdemokraten haben verlangt, daß das Treiben der Terroristen von den Außenministern der Kontrollmächte zur Kenntnis genommen und daß ihm ein Ende bereitet würde. Hier dreht es sich über die Einzelfälle hinaus um eine im Grunde hochpolitische Frage. Man kann einfach nicht an die Belebung und Ingangsetzung des vom Osten gewünschten Handels denken und dabei die Tatsache der politischen Unterdrückung vergessen. Es gibt keine wirkliche Lösung des Berliner und auch nicht des deutschen Problems ohne Wiederherstellung der Rechtssicherheit und der politischen Freiheit, ohne Pressefreiheit und freie Wahlen. [] Willy Brandt [] Gedruckt im Auftrage des Parteivorstandes der SPD Hannover [] Limbach, Braunschweig. CGF 146. 543. 7.49. Kl. C
Published:06.1949