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Aufruf an die zivilisierte Welt [] über die Bestialitäten in Lett- und Esthland. [] Noch fehlt uns eine lückenlose Statistik all der von der russischem Autokratie und den deutschen Junkern in den baltischen Provinzen (Lett-mnd Esthland) verübten Bestialitäten. Hiermit übergeben wir der Oeffentlichkeit nur einen winzigen Teil der von ihnen verübten Greueltaten, charakterisierend die verschiedenen Kategorien und den annähernden Umfang derselben. [] Mehr als dreitausend (3000) Letten und Esthen sind ohne jede Untersuchung und jedes Gericht, einfach auf Grund der Verfügung des sog. Feld"gerichts", das sich aus vertierten Kosakenoffizieren, deutsch-baltischen Junkern, Landjägern und Polizeispitzeln rekrutierte, erschossen, erstochen und gehenkt worden. Tausende von Menschen sind mit Ruten gezüchtigt und mit Kosaken- und Dragoner-Nagaiken zu Krüppeln geschlagen worden. Exemplarisch sind ganze Gemeinden, wie z. B. die Gemeinde Oberpahlen, schweren Körperstrafen unterworfen worden, wobei man weder Kinder noch 70jährige Greise schonte. Infolge dieser Torturen sind viele gestorben oder wahnsinnig geworden, oder werden als Krüppel ihr Leben lang dahinsiechen. Ja, selbst Frauen hat man bei entblösstem Körper gezüchtigt, wie z. B. in Kongot und Randen, wo der Rittmeister von Sievers eine Frau mit 50, vier mit je 100 und zwei mit je 150 Streichen züchtigte. Im Januar, bei eisiger Kälte, führte eine Horde Kosaken mehrere Frauen, die nur Unterkleiden an hatten, vom Gute Karlsruhe nach der 12 Kilometer entfernten Stadt Wenden; steif gefroren und in bewusstlosem Zustande wurden sie im dortigen Krankenhause untergebracht, wo eine von ihnen am nächsten Tage verschied. Viele Frauen sind von den Leitern der Strafexpeditionen, Offizieren und den baltischen Baronen vergewaltigt und mit venerischen Krankheiten infiziert worden, z. B. vom Grafen Kayserling und Fürsten Lieven, und wurden nachher den Kosaken und Dragonern zu weiterer Vergewaltigung übergeben. Die zum Tode verurteilten Bauern und Revolutionäre werden gemartert: man bricht ihnen die Glieder entzwei und schnürt ihnen Hände und Beine so fest zusammen, dass die Schnüre das Fleisch bis auf die Knochen durchschneiden, wie z. B. dies mit Behrsin auf dem Gute Drobusch der Fall war. Fürchterlich gemartert wurden vor der Hinrichtung die Mitglieder des Verbandes lettischer Sozialdemokraten W. Karklin auf dem Gute Wàinoden und O. Augstsprogis auf dem Gute Preekuln. Die Aufgeknüpften gestattet man tagelang nicht herunterzunehmen, wie. z B. das Mitglied unseres Verbandes W. Strauss auf dem Gute Preekuln und den Lehrer Sahlit im Flecken Kreuzburg, wo er auf dem Stationsperron aufgeknüpft wurde. Der Leher Singberg im Hasenpotschen Kreise wurde anzwei Haken, die man dem Märtyrer in den Nacken und Kinn trieb, aufgehängt. Die Rigaer-Polizei verrenkt den erwischten Revolutionären die Glieder, reisst die Sehnen heraus und schindet sie auf die qualvollste Weise, um sie so zu Aussagen gegen sich und ihre Genossen zu zwingen. [] Der Vernichtung verfielen vor allem die der Volksbildung und Kultur dienende Institute, die von den Letten und Esthen ohne Beihilfe der Junker und russischen Regierung und trotz aller ihrer reaktionären Umtriebe ins Leben gerufen wurden. Das Theater des "Rigaer Lettischen Geselligkeitsvereins" ist in eine Dragonerkaserne umgewandelt worden; als Kasernen benutzt man auch viele Schulhäuser und Gebäude verschiedener lettischer Vereine. Viele Vereins- und Volksbibliotheken sind ausgeplündert und niedergesengt; viele Literaten und Verleger, die nicht rechtzeitig entfliehen konnten, sind verhaftet, wie z. B. der Schriftsteller Akurater und Austrin und manche derselben erschossen worden, wie z. B. der Lehrer und Schriftsteller Deewkozin und der Verleger Osols; viele Buchhandlungen sind mit allen Büchern eingeäschert worden. Gross ist die Anzahl der füsilierten, gehenkten und körperlich gezüchtigten Volksschullehrer; in der Umgebung züchtigte man zwei Lehrer in Anwesenheit ihrer Schüler. Jeder Begriff von Moral und Ehre wird von der russischen Regierung und den deutsch-baltischen Junkern mit Füssen getreten. [] Die Strafexpeditionen haben hunderte von Bauernhöfen ausgeplündert und niedergesengt. Die auf diese unerhörte Weise jeden Obdachs und aller Existenzmittel beraubten Leute müssen in den Wäldern umherirren oder in Höhlen, Kartoffelgruben und Heuscheunen verborgen leben. Den Nachbarn ist bei Todesstrafe verboten, diesen Unglücklichen Unterkunft zu gewähren. Den psychischen Zustand der eingeschüchterten Bauern und die Grausamkeit der Strafexpeditionen charakterisiert am besten folgender Vorfall. In Dinsdurben, Gouvernement Kurland, umzingelten Dragoner in einer frostigen Nacht einen Bauernhof, wo einer der verfolgten Bauern ohne Oberkleider, barfuss aus dem Fenster heraussprang und davonlief. Nach mehr als 12stündigem Umherirren im Walde und durch die Felder kehrte der Unglückliche mit blutenden Füssen und halberstarrt zu seinem Nachbar ein. Letzterer, sich fürchtend vor der angedrohten Todessttafe, übergab ihn der nächsten Strafexpedition, welche den Halberfrorenen ohne weiteres erschoss. Die gebrandschatzten Bauernhöfe gestattet man nicht von neuem zu errichten. Alles mühselig ersparte Geld wird bis zur letzten Kopeke den Bauern gewaltsam abgenommen, wie z. B. dem Bauern Jakob Spruhde in Nodaggen (Kurlaud). Viehfutter, landwirtschaftliche Geräte und Maschinen, lebendiges und totes Inventar, Getreide und Vieh, alles wird von den Strafexpeditionen mit Feuer und Pyroxylin vernichtet oder mitgeschleppt. Die Kosaken allein haben, laut offiziellem Bericht der Zentralpostverwaltung, seit Einführung des Kriegszustandes aus den baltischen Provinzen 3 Millionen Rubel in barem Gelde und für mehr als 3 Millionen rubel Wertpakete nach Hause gesandt. Mit einem Wort, in Lett- und Esthland arbeiten die deutsch-baltischen Junker und russische Regierung emsig daran, dass Hungersnot und Epidemien ausbrechen. [] Die Bestialitäten dieser reaktionären Hunnen, die selbst die Greuel Johann des Grausamen während des livonischen Krieges im XVI. Jahrhundert weit übertreffen, wird die unparteiische Geschichte Lett- und Esthlands an den Pranger stellen. Wir lenken die Aufmerksamkeit der zivilisierten Welt darauf, dass die Exekutionsexpeditionen, falls sie nicht von den deutsch-baltischen Junkern resp. mit ihnen verwandten Offizieren angeführt worden wären, niemals sich solche Bestialitäten hätten zu schulden kommen lassen. Verkleidet als Offiziere durchzogen diese moralisch und physisch verkommenen Feudalherren zusammen mit sinnlos betrunkenen Kosaken und Dragonern die baltischen Provinzen und stellen die Listen der "Schuldigen"zusammen, zundeten eigenhändig die Bauernhöfe an erschossen und strangulierten die Bauern, falls selbst die Kosaken manchmal sich weigerten, solches zu tun. In die "Sünderliste" wurden oft Namen ganz harmloser Menschen nur einzig darum eingetragen, weil sie früher, in ruhigen Zeiten, den Junkern die Hand nicht geküsst oder sich erdreistet hatten, gegen sie einen Strafprozess anzustrengen. Von den deutsch-baltischen Edelhunnen, die durch ihre Bestialitäten sich ganz besonders hervorgetan haben, wollen wir nur folgende anführen : Fürst Lieven (Fockenhof), Graf Kayserling, Baron Manteuffel, von Schröders, von Brödrich, von der Recke, von Voigt, Baron Bär, Rahden und Graf Medem - in Kurland; Baron Strick, von Brümmer, Maydel und Wolfs - in Livland. Baron Maydel (Jewe-Esthland) befahl auf einen friedlichen Bauernhof Feuer zu eröffnen, und als die zu Tode erschrockenen und unschuldigen Bauern herausliefen, schoss er noch auf die Fliehenden, - Kinder, Frauen und Männer. In Sesswegen befahl von Renngarten dem deutschen Karlow, der, als er zum Richtplatz geführt wurde, ausrief: "Nieder mit der Gewaltherrschaft! Hoch die Revolution!" die Zunge auszuschneiden und ihn darauf zu strangulieren. [] Die Strafexpeditionen treiben für die Junker die Arendgelder auf die brutalste Weise ein und belegen die Bauern wegen irgend eines revolutionären Aktes, der im Gebiete ihrer Gemeinde verübt worden ist, z. B. wegen Demolierung von Schnapsbuden, oder wegen Vernichtung von Steuer- und Rekrutenlisten u. s. w., mit unerhört hohen Geldstrafen. Jeder, der bis zur festgesetzten Frist, und sie ist stets sehr kurz, die über ihn verhängte Geldstrafe nicht bezahlen kann, wird erbarmungslos vom Hofe verjagt. So z. B. wurden in der Gemeinde Jewe, wo über die Bauern eine Geldstrafe von 3000 Rubel verhängt worden war, alle Unbemittelten bei Nacht und eisiger Kälte ins Freie gejagt und ihre Wohnhäuser amtlich versiegelt. Um zu charakterisieren, welche Rolle das Krautjunkertum bei der Vergewaltigung der Letten und Esthen gespielt hat und noch immer spielt, und um die völlige Anarchie in den Regierungskreisen zu illustrieren, sei folgendes angeführt: Ende Dezember (a. St.) vorigen Jahres erliess der kurländische Gouverneur von Böckmann ein Zirkular, worin er die Mitglieder der neuen revolutionären Institutionen, die sich die Regierungsgewalt angeeignet hatten, aufforderte, bis zum 15. Januar (a. St.) vor den gesetzlichen Behörden zu erscheinen und Abbitte zu leisten. Den Herrenmenschen von Ar und Halm schien diese Verfügung nicht schneidig genug und zu sentimental. In ihren Leiborganen (zum Beispiel in der "Düna-Zeitung" und in der "Libauschen Zeitung") zerpflückten sie nach allen Regeln des feinen Tones diese Verfügung v. Böckmanns und mit Einwilligung der Kreischeffe begannen sie schon am 2. Januar (a. St.) dies Jahres eine Massenschlächterei in ganz Kurland. Diese allbekannte Tatsache straft Lügen die Behauptung der "Frankfurter Zeitung" und anderer deutscher bürgerlicher Blätter, dass die armen Junkerlein ja auf höhern Befehl des Generalgouverneurs haben die Exekutionsexpeditionen begleiten müssen. [] Schreck und Entsetzen hat die Letten ergriffen. Es scheint fast, dass die deutsch-baltischen Barone und russischen Kosaken sie von der Erde vertilgen wollen, wie sich manche Junker im Gespräch mit ausländischen Zeitungskorrespondenten tatsächlich auch geäussert haben. Nur so können wir uns das, was jetzt in unserm Lande mit unsern unglücklichen Landsleuten vorgeht, erklären. Obgleich auf keine Weise all die unbeschreiblichen Bestialitäten, die die Strafexpeditionen in Lett- und Estland begehen, sich entschuldigen lassen, nichtsdestoweniger wollen wir versuchen, klarzulegen, wodurch eigentlich diese Greueltaten hervorgerufen worden sind? Folgendes ist die Antwort darauf: Die Letten und Esten, die volle 7 Jahrhunderte, das harte Joch der deutschen Junker getragen haben und von letztern noch in ihrem eigenen Lande als Menschen eines niedern Standes verachtet und misshandelt werden, verlangten die Gleichberechtigung mit den Feudalherren in ihren Kirchen- und Schulangelegenheiten, wie auch in der Institution der öffentlichen Selbstverwaltung-; sie forderte [!] auch die gleichmässige Verteilung aller Komunallasten unter allen Grundbesitzern, die Aufhebung aller feudalen Privilegien, wie zum Beispiel das ausschliessliche Recht der Junker Brauereien, Branntweinbrennereien, Kruge Mühlen und andere industrielle und kommerzielle Etablissements zu errichten, Fischfang und Jagd zu betreiben und verlangten die Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz. Von einer Proklamierung einer selbständigen lettischen beziehungsweise baltischen Republik ist in keiner lettischen noch esthnischen Ausgabe auch nur ein Sterbeswörtchen zu finden und diese freche Lüge haben die Junker nur verbreitet, um die über die wahren Verhältnisse in den Grenzmarken ganz miserabel informierte russische Regierung mir noch mehr einzuschüchtern und sie als ein blindes Werkzeug ganz in ihre Hände zu bekommen. Die Letten und Esthen forderten nur eine weitgehende territoritoriale Autonomie mit eigenem Landtage in Riga. Die schwer bedrückten und schamlos ausgebeuteten Landarbeiter forderten ausserdem noch eine Erhöhung des Arbeitslohnes und eine Verbesserung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse. Das sind in Kürze all die "frechen" Forderungen der "unbotmässigen" Letten und Esthen, über die die "gentlemanliken und botmässigen" Herrenmenschen jetzt ein wahres Wutgeheul anstimmen. Ihren scharfen Charakter nahm die Bewegung erst im Februar 1905 an, als die Landarbeiterstreike losbrachen und politische Demonstrationen vor und in den Kirchen veranstaltet wurden, um so ein Ende der reaktionären Agitation seitens der von den Junkern völlig abhängigen Pastoren zu machen und so öffentlich dagegen zu protestieren, dass die Kirche zu einem politischen Werkzeug in den Händen der deutschen Junker und der russischen Selbstherrschaft herabgewürdigt werde. An eine Verjagung der Junker dachte damals noch niemand. Dieser Ruf erseholl erst später, als sie zu\ Verrätern an unserm Volk und Land wurden, indem Sie, dank ihrer unaufhörlichen Vorstellungen in Petersburg die Einführung des verstärkten Schutzes (ab 13. März 1905) durchsetzten, indem sie freiwillige "Ehren"-spitzel und -Polizisten wurden (ab 7. Juli), indem sie bei den Haussuchungen noch schlimmer hausten als ihre Amtsbrüder, die eigentlichen Gendarmen und Spitzel, indem sie bei den Kirchen, auf den Landstrassen und Bauernhöfen Arbeiter und Bauern überfielen und sie schwer misshandelten, indem sie dank ihrer allbekannten frechen Aufdringlichkeit die Proklamierung des Kriegszustandes über ganz Kurland (ab (5. August) erflennten, und indem sie schon zu Anfang Oktober die Einführung des Standrechts, auf Grund dessen jetzt in Lett- und Esthland Blut und Tränen in Strömen fließen und herzzerreissende Wehklagen der Gepeinigten das Land durchzittern, forderten. Erst dann wurden Stimmen laut, die auf die schurkischen Umtriebe der Junker hinwiesen und aufforderten, das Land und die Wälder dieser blaublütigen Hyänen zu konfiszieren und sie auffordern, das einst von Ihnen mit List und Mord usurpierte Land freiwillig zu verlassen. [] Dies ist in Kürze die sozialpolitische Grundlage, auf der sich die Revolution in Lett- und Estland abspielte. [] Die von den deutsch-baltischen Baronen im Auslande verbreitete Mär, dass die baltische Revolution einen nationalen Charakter trage, ist eine bewusste Lüge. Bei keiner Revolution ist der politische und agrar-soziale Moment so prägnant zum Ausdruck gelangt, wie gerade bei der revolutionären Bewegung in Lett- und Esthland. [] Die selben Herrenmenschen beschuldigen unsere Organisationen und unser Volk verschiedener Gewaltätigkeiten, die während der revolutionären Bewegung vorgekommen sein sollen. Darauf müssen wir erklären, wie die Sachlage tatsächlich war. Dank den berüchtigten russischen Gesetzen den Organisationen jede Möglichkeit genommen war, so umfangreich und stark zu werden, dass sie die ganze Bewegung zu leiten und sie an jedem Orte zu überwachen imstande gewesen wären. Nur die Befehlshaber einer stseng disziplinierten Armee können, und auch das nur bis zu einem gewissen Masse, für eine jede Handlung der ihnen Unterstellten verantwortlich gemacht werden. [] Bei Massenbewegungen kommen ja ganz unabhängig von den Organisationen und oft direkt wider ihren Willen unerwünschte Vorfälle und Handlungen vor, die man vom Standpunkt des modernen Strafrechts nicht auf das Kerbholz dor Organisationen, und noch viel weniger auf das eines ganzen Volkes setzen darf, wie es die biedern Junker zu tun belieben. Aber solche Gewalttätigkeiten seitens der Revolutionäre sind in der baltischen revolutionären Bewegung nur höchst selten vorgekommen. Durch offizielle Dokumente ist unwiderleglich festgestellt worden, dass die während der revolutionären Bewegung neuerwählten Gemeindeverwaltungen nicht nur nirgends die Schlösser der Junker zu demolieren gestattet, sondern sogar zu deren Schutz alle nötigen Massregeln ergriffen haben. Die Sache ist nämlich die, dass diese Gemeindeverwaltungen oder die sogenannten Exekutiv-Komitees, obgleich sie auf Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts (auch Frauen genossen das Stimmrecht) gewählt worden waren, dennoch zum grössten Teil aus Angehörigen des sehr gemässigiten bäuerlichen Mittelstandes, d. h. Bauemhofbesitzern und nicht Landarbeiten, bestanden. Die Schlösser der Barone wurden [...] Kolonnen der Revolutionäe vernichtet und zwar nur solche, deren Eigentümer früher bei sich Kosaken and Soldaten einquartiert und gegen die Landbewohner verschiedene Gewalttätigkeiten begangen hatten. Menschlichen Gutebesitzern ist nichts Böses widerfahren, ein Umstand, der nachher diesen ehrwürdigen Bürgern verhängnisvoll werden sollte, da die Strafexpeditionen einen jeden Gutsbesitzer, dessen Leben und Gut nicht gefährdet worden war, ohne weiteres des Sympatisierens mit der revolutionären Bewegung bezichtigten und an einigen derselben selbst die Todesstrafe vollzogen haben, wie es z. B. mit einem Gutsbesitzer im Kreise Tuckum (Gouvernement Kurland) der Fall war. Wie human überhaupt die Revolutionäre und das Volk sich den Baronen gegenüber verhielten, ersieht man am besten an folgenden paar Beispielen: Baron Wolfs von Schwanenburg (Gouvernement Livland) erschoss eigenhändig zwei Bauern dafür, dass sie sich weigerten, seinen unakzeptablen Arendekontrakt anzunehmen. Dieser "edle Ritter" wurde nachher vom Volke verhaftet, aber nach kurzer Zeit wieder freigelassen. In der Umgegend von Kokenhusen wurden von Revolutionären paar Dutzend Junker zusammen mit den sie begleitenden Kosaken und Tscherkessen eingefangen, jedoch nach paar Tagen wieder auf freien Fuss gesetzt. Um die Ordnung aufrecht zu erhalten, verboten die Revolutionäre, geistige Getränke herzustellen und zu verkaufen, und die Volksgerichte bestraften aufs allerstrengste alle Diebe und Räuber. Noch niemals sind in Baltien so wenig Diebstähle, und Raubüberfälle zu verzeichnen gewesen, wie gerade in den Tagen der revolutionären Hochflut. Diese Tatsache war auch den Herrenmenschen bekannt, wie das aus ihren Zeitungen vom November und Dezember vorigen Jahres zu ersehen ist. [] Es wird wohl keinen einzigen Letten oder Esthen geben, der nicht auf die eine oder andere Weise von den bluttriefenden Exekutionsexpeditionen gelitten hätte. Offiziell sind letztere jetzt aufgehoben, aber faktisch, treiben sie ihre Schinder- und Henkerarbeit im geheimen noch lustig weiter, wie das aus einer Korrespondenz in der lettischen Zeitung "Peterburgas Atbalss" vom 28. April (a. St.) d. J. zu ersehen ist: "Am 13. April (a. St.) sind in Marienburg (Gouvernement Livland) 5 Menschen erschossen und 2 aufgehenkt worden. Unter den Erschossenen befindet sich Fräulein Balod, ein 16 jähriges Mädchen. Ihr Bruder wurde schon im Dezember füsiliert. Sie selbst wurde vor etwa einem Monat verhaftet. Nachdem man sie mit 100 Rutenstreichen gezüchtigt, wurde sie freigelassen. Auf dem Heimwege sang sie revolutionäre Lieder, wofür sie sogleich von neuem arretiert, nochmals einer noch schwereren Körperstrafe unterzogen und dann ohne weiteres sofort erschossen wurde. Gleichzeitig damit wurde auch ein 60 jähriges Mütterchen, das man der Aufbewahrung von Waffen beschuldigte, ohne weiteres füsiliert." [] Den Letten und Esthen bleibt nur noch eine Hoffnung übrig - die Unterstützung der zivilisierten Welt, an die sich jetzt wir der bebenden Frage wenden: wird die zivilisierte Welt, die es für ihre Pflicht hielt, sich in die makedonischen und armenischen Angelegenheiten zu mischen und den Judenmetzeleien Einhalt zu gebieten bemüht war, - wird die zivilisierte Weit ohne den geringsten Protest ihrerseits apathisch zusehen, wie gegen die unglücklichen Völker Baltiens, Letten und Esthen,über die die deutsch-baltischen Junker schon 7 Jahrhundertelang ein Schreckensregiment sondergleichen geführt haben, die allerscheusslichsten Bestialitäten verübt werden? Wird die zivilisierte Welt ruhig gestatten, dass das kulturelle Lett- und Esthland in eine Wüstenei und Kirchhof verwandelt werden, wie es die deutsch-baltischen "Kulturträger'' und russische Kosaken anstreben? Werden denn selbst diejenigen grossen Kulturvölker, deren Parlamente im Jahre 1831 den ins Ausland verschlagenen polnischen Revolutionären eine Geldunterstützung zusprachen und deren Freiheitsideen und wohlgeordneten Staatsverhältnisse uns in unserem Kampfe für Freiheit und Menschenrechte begeistert haben, kein Wort des Abscheues über die die Menschheit entwürdigende Inquisition, welche jetzt in Baltien ihre wildesten Orgien feiert, finden? Haben denn die drei Millionen Letten und Esthen gar kein Anrecht auf Sympathien seitens der zivilisierten Welt in ihrem schweren Ringen um die elementarsten Menschenrechte, um ihre nationale Autonomie, um ihre Ehre und ihr Leben? Solche Fragen drängen sich der Mehrheit des Volkes auf, indem es an die zivilisierte Welt appeliert. Unsere Stellung, die Stellung der revolutionären Sozialdemokraten, ist eine etwas andere. Hochschätzend die geregelten Rechts- und Staatsverhältnisse, die so vorteilhaft West-Europa von Russland unterscheiden, werden auch wir selbstverständlich es nicht unterlassen, an die zivilisierte Welt, besonders an die Demokraten und Sozialisten, zu appellieren und sie nach Möglichkeit mit all den erschütternden Greuelszenen, die sich jetzt in unserem unglücklichen Lande abspielen und die von einer völligen Anarchie innert den russischen Regierungskreisen zeugen, bekannt zu machen. Doch damit allein wird sich unsere Tätigkeit nicht beschränken. Als Verfechter der Demokratie, der wahren Gerechtigkeit, Gesetzlichkeit und Freiheit, werden wir jetzt gegen die russische Schreckeiisregierung und das vertierte deutsch-baltische Junkertum einen Kampf auf Leben und Tod beginnen. Vor keinem Opfer, keiner Qual zurückschreckend, werden wir alles tun, was das Interesse, die Ehre und das Leben unseres beschimpften und schwermisshänderten Arbeitsvolkes von uns erheischt. - [] Mai 1906 Der Verband Lettischer Sozialdemokraten.
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