Politik des Als-Ob

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; POLITIK DES ALS-OB [] KURT RIESS [] Politik des Als-Ob [] Von Curt Riess [] Dies ist keine gute Zeit für Leute, die alles, was man ihnen erzählt, glauben und die sich leicht erschrecken lassen. Sie täten gut daran, sich eine Zeitlang nicht mi...

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Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Parteivorstand, Riess, Kurt, Göttinger Druckerei- und Verlagsgesellschaft mbH
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 07.1948 - 09.1948
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/E6D117A1-1191-4DF4-8D16-02E2385C31D3
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; POLITIK DES ALS-OB [] KURT RIESS [] Politik des Als-Ob [] Von Curt Riess [] Dies ist keine gute Zeit für Leute, die alles, was man ihnen erzählt, glauben und die sich leicht erschrecken lassen. Sie täten gut daran, sich eine Zeitlang nicht mit guten Freunden zu unterhalten, die Tanten haben, deren beste Freundin einen Russen kennt, der vorgestern ganz im Vertrauen gesagt hat, daß ... [] Man kann natürlich nicht alles niederschreiben, was die Russen in den letzten Tagen und Wochen gesagt haben oder gesagt haben sollen. Da war jener Berliner Schauspieler, der nach Beendigung der Spielzeit - im Ost-Westen haben wollte. Der russische Beamte, dem er seine Bitte vortrug, meinte, der Schauspieler solle sich noch zwei Wochen gedulden, dann sei "Frieden", denn dann habe Rußland gesiegt. [] Oder da war jener russische Offizier, der jedem erklärte, Rußland werde es nicht mehr "mitansehen", daß russisch besetzter Raum überflogen werde. Man könnte auf die Idee kommen, daß dieser Offizier die "Tägliche Rundschau" gelesen habe, wüßte man nicht, daß dies niemand kann. [] Da war jener russische Soldat in der Umgegend von Potsdam, der deutschen Landarbeitern erklärte, "wenn der Krieg jetzt beginnt, wird er zwei Monate währen. Jetzt arbeiten deutsche Frauen für russische Frauen, aber dann werden Französinnen, Engländerinnen und Amerikanerinnen für die russischen Frauen arbeiten". Der Kanal oder der Atlantische Ozean wurden in diesem Gespräch nicht weiter erwähnt. [] Oder da waren jene russischen Flieger, die unweit Berlins mit ein paar Deutschen zusammentrafen. Im Verlaufe der Unterhaltung ergab es sich, daß die Russen glaubten, "der große heilige Krieg" gegen die bösen Monopolkapitalisten habe schon begonnen. Die netten Jungen, die übrigens den letzten Krieg nicht mitgemacht hatten, versuchten ihren deutschen Gesprächspartnern klarzumachen, daß Rußland die stärkste Luftmacht der Welt besitze. Sie wußten nichts von amerikanischen oder englischen Fliegern und wollten auch gar nichts von ihnen wissen. In Stendal gaben sowjetische Piloten ihre Unwissenheit über die Existenz einer Waffe, Atombombe genannt, kund. [] Derlei Reden und Prahlereien könnten mit einem Achselzucken übergangen werden, wenn hinter ihnen nicht der unmißverständliche Versuch wichtiger Sowjetstellen deutlich würde, die Überlegenheit der Sowjetunion auf militärischem Gebiet zu demonstrieren. Schon vor zwei Wochen wurde mir von russischen Offizieren versichert, "in Kürze" werde die russische Luftwaffe in ihrer ganzen Macht über Berlin demonstrieren. Unter uns: Hat jemand etwas davon bemerkt? [] Inzwischen sind eine Menge russischer Flugzeuge in der Nähe von Berlin eingetroffen. In Rangsdorf standen Ende Juli über 120 Jagdflugzeuge, darunter zehn Düsenjäger neuester Bauart, und etwa 30 zweimotorige Kampfflugzeuge. In Schönefeld über 50 zwei- und viermotorige Bomber. Schkeuditz wird zum größten Jagdflughafen Mitteldeutschlands ausgebaut. Jüterbog wird täglich mit mehr Jagdmaschinen beschickt, es sind schon über 200 dort, während Dessau den 13 Superfestungen und rund 10 schweren Bombern als Basis dient, in der Nähe von Nordhausen wird ein Jagdflugplatz gebaut, bei Anklam und Questrow Bombenflugplätze. Für solche und anderen dringlichen Arbeiten werden Deutsche im Alter von 16 bis 65 Jahren eingestellt, im wesentlichen gegen ihren Willen. [] Die Zahl sämtlicher in Deutschland oder in der Nähe Deutschlands stationierten russischen Flugzeuge liegt nicht über 2000. [] Inzwischen eilt Marschall Rossokowskij, der wichtigste russische Offizier, den wir im Augenblick die Ehre haben, in unserer Mitte zu sehen, von Konferenz zu Konferenz. Er setzt Offiziere ab; er setzt neue Befehlshaber ein. Er inspiziert Truppen. Er tut so, als sei jede Minute kostbar. [] Und aus alledem entnehmen naive Gemüter, daß der Krieg vor der Tür steht. Als Grund wird eben von diesen naiven Gemütern angeführt: 1. Die Russen sagen es ja selbst. 2. Falls, womit gerechnet werden muß, die Alliierten wirklich eine Weltblockade gegen die Russen durchführen, dann haben die Russen viel mehr Chancen, einen Krieg jetzt zu gewinnen als später. 3. Wer anderer Ansicht ist, beweist damit, daß er von der "russischen Mentalität"überhaupt keine Ahnung hat. [] Was die russische Mentalität angeht, so meinen die Leute, die dauernd von ihr sprechen, daß derjenige, der nicht unaufhörlich vor den Russen zittert, nichts von russischer Mentalität versteht. Geben wir also zu, daß wir nichts von russischer Mentalität verstehen. Fügen wir aber hinzu: [] Erstens kann uns keinesfalls erschrecken, was kleine russische Beamte oder russische Soldaten weissagen. Es spricht vieles dafür, daß sie nicht in dauernder telefonischer Verbindung mit dem Kreml stehen. Kurz, was sie über die Absichten des Politbüros wissen, dürfte wohl General Clay oder Botschafter Murphy oder General Robertson oder General Koenig ebenfalls wissen. Zweitens: wenn die Russen, was entschieden zu bezweifeln ist, einen Krieg wünschten, so wäre ihre Taktik logischerweise die Überraschung. Es würde also weniger geredet und mehr gehandelt werden. [] Warum wird also geredet? Und warum werden Flugzeuge nach Deutschland geschickt, warum erscheint der Marschall Rossokowskij und rasselt, bildlich gesprochen, mit dem Säbel? [] Dafür gibt es Gründe genug. Es ist nämlich in diesen letzten sechs Monaten eine ganze Menge passiert, worüber die Russen nicht viel reden, weil sie gar keinen Grund haben, es an die große Glocke zu hängen. Es ist eine Menge passiert, was ihnen beweist, daß ihre Okkupationsarmee den festen Boden unter den Füßen verliert, daß sie in des Wortes wahrster Bedeutung zerfällt. Wir sprachen schon unlängst von der ständig steigenden Zahl von Desertionen. Wenn es nicht so wäre - warum hat wohl Karlshorst einen Befehl herausgegeben, der es dem 'Autoruf', der neuen Organisation der Taxis in Leipzig, Dresden, Halle, Weimar und so weiter strikt untersagt, irgendwelche russischen Offiziere, und seien sie Generale, aus der Stadt zu fahren, es sei denn, sie besäßen einen vom russischen Stadtkommandanten persönlich signierten Befehl? Und wie steht es mit den vielen hundert russischen Offizieren in Österreich, die in den letzten drei Wochen die Order erhielten, nach Rußland zurückzukehren und die daraufhin mit Frau und Kind zu den Amerikanern überliefen? Und wie steht es mit jenem russischen Oberst in der Umgegend von Wittenberge, der Deutschen gegenüber erklärte: "Hoffentlich gibt es bald Krieg. Nur so können wir uns von den Tyrannen im Kreml befreien?" [] Mit einem Wort: Die Russen haben guten Grund, mit dem Säbel zu rasseln, sei es auch nur um ihre eigenen Leute und die unglücklichen Bewohner ihrer Zone bei der Stange zu halten. Das alles hat mit Krieg nichts zu tun. Und womit könnten sie denn Krieg führen? [] Wir sprachen von 2000 Flugzeugen. Das mag genug sein, um den Einwohnern von Stendal, Anklam und Schkeuditz zu imponieren. Für Europa würde man jeden Monat das Zehnfache brauchen Oder nehmen wir die Bodentruppen: Vor zwei Wochen noch hatten die Russen zwischen 300000 und 350000 Mann in Deutschland. Inzwischen hat sich diese Zahl um 20000 bis 30000 vermehrt. Seien wir großzügig, sagen wir, sie haben 500000 Mann zur Verfügung. Seien wir ganz großzügig, sagen wir, sie seien gut bewaffnet. Und was dann? Wieviel Länder kann man mit 500000 Mann besetzen? [] Man kann annehmen, daß sie nicht die Absicht haben, mit 500000 Mann Europa zu besetzen. Und dafür sprechen auch noch viele andere Gründe. Ihre Verbindungen zum Mutterlande sind recht problematisch, dank der Tatsache, daß sie so viele Schienen abmontiert und nach Rußland geschafft haben. Überdies gehen die Verbindungslinienüber viele Brücken, die leicht gesprengt werden könnten und durch Gebiete, die von polnischen Partisanen unsicher gemacht werden. [] Die Russen haben also allen Grund, so zu tun, - als ob sie sich von nun an ungeheuer aktiv gebärden würden. Sie müssen so tun, um die Moral ihrer eigenen Armee wieder aufzurichten, um alle Versuche der Sabotage, des Kampfes gegen sie zu entmutigen. Sie müssen ihren eigenen Leuten imponieren und ihren schlimmsten Feinden. [] Wenn es hart auf hart ginge, wenn der Krieg, den ihre Propagandisten dauernd im Munde führen, weil sie glauben, daß sie ihn so am besten vermeiden können - wenn also dieser Krieg wirklich ausbräche, dann würden sie vorerst keineswegs an den Atlantischen Ozean eilen. Sie würden entweder an die Weichsel zurückweichen - und es ist kein Geheimnis, daß ihre guten Strategen dauernd von einer solchen Notwendigkeit sprechen; oder im besten Falle (oder im schlimmsten); sie würden sich verschanzen. Sie würden versuchen, die Alliierten daran zu verhindern, in die Ostzone einzubrechen. Ob sie Berlin unter solchen Umständen halten könnten oder auch nur halten würden, dürfte wohl davon abhängen, ob die Russen ein Bombardement ihrer Stellungen überstehen könnten - indem sie sich in einem von Hitler geerbten Untergrundhauptquartier verkröchen. [] Die Russen tun, als ob. Aber in Wirklichkeit sind sie auf der ganzen Linie in der Defensive. Berlin ist die genaue Parallele zur allgemeinen Situation. Die Russen wissen, sie haben Berlin verloren, weil sie die Berliner verloren haben. Noch behaupten sie, daß täglich Weizen eintrifft, noch schwören sie, daß sie Berlin ernähren werden. Noch schreien sie so laut, als wollten sie sich selbst überzeugen, daß das Geld, das sie drucken, etwas wert sei. [] Herr Molotow tut ebenfalls als ob. Da er weiß, daß der Westen seinen Bluff durchschaut hat, ließ er die amerikanischen und englischen Botschafter warten. Die Botschafter wiederum, die wußten, daß die Zeit für sie arbeitet, sahen nicht ein, warum sie nicht ein wenig warten sollten. Molotow muß immer wieder zeigen: wir lassen uns nichts gefallen, wir tun, was uns beliebt. Mr. Bedell Smith, General Clay, kurz der Westen kann sich immer wieder erlauben, darauf hinzuweisen: "Seht, auch dies lassen wir uns noch gefallen; seht, auch dies nehmen wir noch hin." [] Denn nur die Schwachen müssen immer und immer wieder beteuern, wie stark sie sind. [] Herausgeber: Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands [] Druck: Göttinger Druckerei- und Verlagsgesellschaft mbH. [] CFA. 606, 840/25000, 9. 48, Kl. C.
Published:07.1948 - 09.1948