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warum [] Annemarie Renger [] wurde am 7. Oktober 1919 in Leipzig geboren. Volksschule und Lyzeum besuchte sie in Berlin; sie absolvierte eine Verlagslehre. Seit ihrem 7. Lebensjahr war Annemarie Renger Mitglied der Kinderfreunde- und der Arbeitersportbewegung. Während des 2. Weltkrieges als Stenotypistin und Sekretärin tätig, floh sie unmittelbar vor dem Zusammenbruch in die Lüneburger Heide und arbeitete dort in einem Lazarett. Von 1945 bis 1952 war sie Privatsekretärin von Dr. Kurt Schumacher. [] Seit 1953 ist Annemarie Renger Bundestagsabgeordnete. Sie gehört dem Innenausschuß, dem Ausschuß für Entwicklungshilfe und dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform an. Annemarie Renger ist Mitglied des Parteivorstandes und des Vorstandes der SPD-Bundestagsfraktion. Als Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses ist sie verantwortlich für die Frauenpolitik der Partei. [] ... bin ich Sozialdemokrat [] Es ist schwer für mich, die Frage zu beantworten, wie ich zur SPD gekommen bin, denn eigentlich hat sich diese Frage für mich nie gestellt. Ich wurde sozusagen in die Sozialdemokratie hineingeboren. Mein Geburtshaus stand in der Fichtestraße in Leipzig, dem Sitz des Arbeiter-Turn-und-Sportbundes, zu dessen Mitbegründern mein Vater, Fritz Wildung, gehörte. Meine Mutter trat in die Sozialdemokratische Partei ein, sobald es auch den Frauen erlaubt war, sich politisch zu organisieren: 1907. [] Wir waren sechs Geschwister, ich war die Jüngste. Für uns war es selbstverständlich: wir hatten ein sozialdemokratisches Elternhaus, und wir alle wurden Sozialdemokraten; wir waren zuerst Mitglieder der sozialistischen Jugendbewegung und des Arbeitersports. Die Jugendbewegung und der Sportverein waren für mich schon in frühester Jugend ein Übungsfeld für politische Diskussionen. An Möglichkeiten, sich mit politischen Gegnern auseinanderzusetzen, fehlte es in Berlin Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre nicht, besonders dann nicht, wenn man in der Nähe des Sportpalastes wohnte, dort zur Schule ging und wenn so bekannte Persönlichkeiten wle Carl Severing, Karl Schreck, Paul Löbe, Friedrich Stampfer, Rudolf Breitscheid und viele andere zum Freundeskreis der Familie gehörten. So war es wohl nur für meine Lehrer eine Überraschung, als ich bei der Aufnahmeprüfung für das Lyzeum, nach meinem Berufswunsch befragt, antwortete: Parteisekretärin. [] Die Atmosphäre in meinem Elternhaus wurde von meinem Vater geprägt. Er war für uns der Maßstab aller Dinge, unser Vorbild. Er erzog uns auch in der Familie zur demokratischen Diskussion. [] Zu meinen Kindheitserinnerungen gehört ein Bild meines Vaters, schwarz eingerahmt, auf der Titelseite der kommunistischen "Roten Fahne", denn er war es wohl hauptsächlich, der die Kommunisten aus dem einstmals gemeinsamen Arbeiter-Turn-und-Sportbund wegen ihrer ständigen politischen Obstruktion hinausgedrängt hatte. Der Traum von der "Einheit der Arbeiterklasse" wurde in meinem Elternhaus nicht geträumt, wohl aber wurden wir international und kosmopolitisch erzogen: menschliche Solidarität und Hilfe für alle Schwachen und Unterdrückten waren für uns Selbstverständlichkeiten. In unserem Jugendverband lebten die Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wir glaubten an internationale Verständigung und waren gegen jeden nationalistischen Wahn. Dabei empfanden wir die so oft geschmähte Weimarer Republik als unsere Republik, an deren Bestand wir glaubten und für die wir bereit waren, alles einzusetzen. Die schwarz-rot-goldene Fahne war die Fahne der Demokratie gegen alles, was sich dieser Republik entgegenstellte. [] Das Jahr 1933 wetterleuchtete schon längst am Horizont. Aber 1932 mußten wir noch Plakate für den greisen "Papa Hindenburg" tragen. Als junge Menschen spürten wir da schon die Niederlage der Demokratie, ohne es verstandesmäßig richtig begreifen zu können. Im gleichen Jahr erlebte ich im alten Reichstagsgebäude die letzte Verfassungsfeier - mit dem greisen Generalfeldmarschall, mit den vielen Traditionsfahnen und den Studenten mit ihren bunten Bändern; es war wie ein Abgesang. Inzwischen war die Arbeitslosigkeit angestiegen, die preußische Regierung war gestürzt worden, und unser Deutschlehrer freute sich, als im Preußischen Landtag die SA eine Saalschlacht veranstaltet hatte. Vor unserer Haustür prügelten sich die politischen Gegner. Alles das hat sich tief in meine Erinnerung eingegraben und in mir dieÜberzeugung fest verankert, daß so etwas sich nie wiederholen dürfe und daß man alles tun müsse, die Menschen dagegen aufzurufen. [] Der 1. Mai 1933 war für mich, wie ich heute glaube, wohl der Tag meines bewußten Bekenntnisses zur Sozialdemokratie. Immer war dieser Tag für mich ein besonderer gewesen. Ich hatte schulfrei, und es war "unser" Feiertag. Und nun dröhnten die Schritte der langen, kommandierten Marschkolonnen durch die Straßen! Ich fühlte mich gedemütigt und ohnmächtig. Ich war verzweifelt und von einer kalten Wut erfüllt. Ich war entschlossen zu kämpfen, und dieses Wollen hat mich auch in der ganzen Periode der Gewaltherrschaft nicht verlassen. Selbstverständlich war ich noch zu jung, um alle Möglichkeiten und Konsequenzen sehen zu können, aber mein Elternhaus, mein Vater und meine Mutter, hatten in mir den Blick geschärft für Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Dafür mußte ich mich einsetzen, und ich war überzeugt, daß dieses "Dritte Reich" vorübergehen werde. [] Die persönlichen Erfahrungen am Ende der Weimarer Republik und dann unter der totalitären Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten waren es, neben den Einflüssen meines Elternhauses, die mich in dem Wollen bestärkten, mit all meinen Kräften dazu beizutragen, daß sich die Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholen. Es bedurfte dazu nicht erst des entsetzlichen Krieges, in dem mein erster Mann und drei meiner Brüder fielen sowie viele Freunde umkamen. [] Es war eine glückliche Fügung, daß ich unmittelbar nach dem Zusammenbruch die erste freie Zeitung, den "Hannoverschen Kurier", in die Hand bekam, in der ich einen Bericht über eine Rede Kurt Schumachers las, des Mannes, den mir mein Vater als einen der mutigsten und kämpferischsten Reichstagsabgeordneten geschildert hatte. In dieser Rede drückte Kurt Schumacher alles das aus, was uns junge Deutsche damals bewegte. [] Ich schrieb an Kurt Schumacher, der nach 1945 in Hannover die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wiederaufbaute, und er holte mich aus dem niedersächsischen Dorf, in das meine Schwester und ich mit unseren Kindern verschlagen waren, nach Hannover - in den damaligen Brennpunkt des politischen Geschehens. [] In einem kleinen Hinterzimmer der hannoverschen Altstadt liefen die Fäden der Nachkriegspolitik zusammen. Von hier aus gingen die Briefe in alle Welt, um mit den in alle Winde zerstreuten Sozialdemokraten wieder Kontakte anzuknüpfen, ihre Rückkehr aus der Emigration in die Heimat vorzubereiten. [] Es war für mich als Fünfundzwanzigjährige überwältigend, neben diesem großen Menschen und weitblickenden Politiker ein Stück Weges mitgehen zu können. Wie sehr war er ein Symbol für dieses aus allen Wunden blutende Volk, und für wie viele Menschen war er die einzige Hoffnung! Gerade von ihm, der als ein harter und kompromißloser Politiker galt, habe ich gelernt, daß nur die Politik einen Sinn hat, die den Menschen mehr Glück bringt, und daß man als Politiker immer für andere da sein muß, wenn sie einen brauchen. [] Im Sommer 1952 starb Kurt Schumacher. Ein Jahr später wurde ich in Schleswig-Holstein über die Landesliste in den Bundestag gewählt. Nun hieß es zu beweisen, daß ich meine politischen Lehrjahre bei Kurt Schumacher gut genutzt hatte. [] Oft werde ich gefragt, ob sich dieses Engagement für die Politik mit meiner Familie - ich habe vor wenigen Jahren zum zweitenmal geheiratet - vereinbaren läßt und ob nicht die Politik die Frau hart und unweiblich mache. Dahinter steht noch die landläufige Auffassung, daß Politik doch eigentlich Männersache sei und daß nun einmal die Frau ins Haus und der Mann in die "große weite Welt" gehöre. [] Man lasse sich das nicht einreden! Gewiß, es kostet schonÜberwindung, und natürlich erfordert es Willenskraft und Durchsetzungsvermögen, sich in die politische Arena zu begeben, um für seine Überzeugung zu kämpfen. Aber niemand sollte glauben, man müsse dadurch zu einem "Kürassier in Röcken" werden. Im Gegenteil, ich glaube, je weiblicher und natürlicher sich eine Frau auch in der Politik gibt, um so selbstverständlicher wird ihre Rolle als Partnerin auch auf diesem Feld akzeptiert. [] Ihre Annemarie Renger [] Herausgeber: Vorstand der SPD, Bonn
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