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Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Willy Brandt [] Die Titokrise des Kominforms [] Wenn man vor einigen Monaten einen nahe bevorstehenden Bruch zwischen Stalin und Tito und den Ausschluß der Titisten aus dem Kominform vorausgesagt hätte, wäre man als imperialistischer, konterrevolutionärer, trotzkistischer usw. Verleumder bezeichnet worden. Inzwischen haben die Moskauer ihren Bannstrahl gegen den Belgrader geschleudert, und alle Papageien des Kominform plappern den Text der Bannbulle eifrig nach. Dieser Text verdient ein aufmerksames Studium, denn in ihm drücken sich nicht nur ernste Schwierigkeiten der sowjetischen Konsolidierungspolitik nach der Machterweiterung des zweiten Weltkrieges aus, sondern auch innere Widersprüche der zum Kominform umgetauften Komintern. [] In der Verlautbarung, die angeblich auf einer Tagung des Informationsbüros der kommunistischen Parteien in der zweiten Junihälfte in Rumänien angenommen wurde, wirft man den Führern der jugoslawischen Kommunisten eine Reihe von "Abweichungen" vor. Es handelt sich vor allem um drei Fragen, die Moskau in einem ganz eindeutigen Sinne beantwortet wissen will. [] Erstens wird festgestellt, die Führer der KP Jugoslawiens brächen mit "der marxistischen Theorie des Klassenkampfes". Ihre opportunistische Einstellung äußere sich darin, daß sie die Verschärfung des Klassenkampfes in der Uebergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht anerkennen. Damit stellten sie sich in Gegensatz zum Marxismus-Leninismus und machten sich der Ketzereien eines Bucharin schuldig, "der die Theorie des friedlichen Hineinwachsens des Kapitalismus in den Sozialismus predigte" - was übrigens in bezug auf die Auffassungen des während der Moskauer Prozesse liquidierten Bucharin nicht nur eine Entstellung, sondern der reine Blödsinn ist. Anstatt die führende Rolle der Arbeiterklasse anzuerkennen, irrten die Führer der KPJ auf den Weg einer "Volkstümlerpartei der Kulaken" ab. [] Zweitens heißt es, die Führung der KPJ habe "die marxistisch-leninistische Lehre von der Partei" einer Revision unterzogen. Die Titisten hielten nicht die kommunistische Partei, sondern die Volksfront für die wichtigste leitende Kraft in ihrem Lande. Die "Avantgarde" sei faktisch in der parteilosen Volksfront aufgelöst worden. [] Diese beiden Vorwürfe "grundsätzlicher" Art richten sich gegen sozusagen "rechte" Abweichungen, wenngleich dem an anderer Stelle hinzugefügt wird, die Jugoslawen hätten sich auf anderem Gebiet einer "linken" Abweichung schuldig gemacht, indem sie notwendige Entwicklungsetappen zu überspringen suchten. Es ist jedenfalls bezeichnend, daß von der Anerkennung der besonderen Bedingungen jedes einzelnen Landes nicht mehr mit einem Wort die Rede ist. Davon sprach man bei der formellen Auflösung der Kominternreste im Jahre 1943. Heute bekennt man sich in aller Oeffentlichkeit zum "internationalen Generalstab", dem man 1920 auf die Weise Geltung verschaffte, daß man allen Selbständigkeitstendenzen der kommunistischen Parteien durch die 21 Bedingungen den Boden entzog. Damals sollte der "Generalstab" aber immerhin noch aus Vertretern verschiedener Länder auf Kongressen gewählt werden. Jetzt hat das russische Zentralkomitee seine Funktion übernommen, während das Kominform recht und schlecht und ohne alle Fakten mitzumachen hat. [] Bezeichnend ist die Ungeniertheit, mit der sich Moskau und seine Jasager über die historischen und klassenmäßigen Bedingungen Jugoslawiens hinwegsetzen und die russisch-bolschewistische Lösung der Agrarfrage zur allein annehmbaren erklären. Damit wird bestätigt, daß es sich auch bei der Bodenreform in der Ostzone Deutschlands nur um einen ersten Schritt handelt und daß die deutsche Bauernschaft durch die Mühle der Kollektivisierung gehen soll, falls die ferngelenkten Kommunisten darüber zu befinden haben werden. Vor allem soll auch nichts geändert werden an jener kommunistischen Parteiauffassung, die eine Herrschaft des "berufsrevolutionären" Apparats und blinde Unterwerfung unter den Generalstab bedeutet. Das sollten sich jene hinter die Ohren schreiben, die bisher noch nicht begriffen hatten, daß es bei ihrem "Bündnis" mit den Kommunisten so ist wie bei der Zusammenarbeit zwischen dem Strick und dem Gehängten. [] Nach allen Erfahrungen mit Dokumenten der kommunistischen Internationale sollte man allerdings Spitzfindigkeiten zur Agrarfrage, zur Rolle der Partei usw. keine allzu große Bedeutung beimessen. Eine kommunistische Führung darf ruhig einmal nach rechts und ein andermal nach links wenden, aber sie darf das nie aus eigener Initiative tun. Wendungen haben entsprechend der Generallinie zu erfolgen, und die wird vom Generalstab festgelegt. Marxismus-Leninismus ist das, was jeweils als Sauce zum Gericht einer bestimmten Politik verabfolgt wird. In Moskau ist man sehr empfindlich gegenüber dem geringsten Versuch eigener Kochkünste und Auslegungsversuche. [] Damit kommen wir zum dritten Hauptvorwurf gegen die Jugoslawen: ihre Parteiführung habe eine der Sowjetunion und der russischen KP gegenüber unfreundliche Politik zugelassen. Russische Militärfachleute seien in Verruf gebracht und die Sowjetarmee diskreditiert worden. Ja, die Jugoslawen hätten gar begonnen, "die Außenpolitik der UdSSR mit der Außenpolitik der imperialistischen Mächte gleichzusetzen". Man habe eine verleumderische Propaganda "aus dem Arsenal des konterrevolutionären Trotzkismus" entliehen und von der Ausartung der KPdSU, der UdSSR usw. gesprochen. [] Gewöhnliche Abweichungen mögen noch gelegentlich verziehen werden, diese Todsünde nie. Verziehen wird den Titisten auch nicht, daß sie die inneren nationalen Kräfte und die Möglichkeiten ihres Landes stark überschätzt hätten. Sie meinten, daß sie die Unabhängigkeit Jugoslawiens erhalten und den Sozialismus ohne die Unterstützung der Sowjetunion aufbauen könnten. In den linientreuen Kommentaren zur Kominform-Verlautbarung wurde Tito in diesem Zusammenhang grobe Undankbarkeit vorgeworfen. Er habe sich eingebildet, den Krieg mit seinen Partisanen gewonnen zu haben, ohne die Hilfe der Roten Armee gebührend zu würdigen. Das Zentralorgan der polnischen Kommunisten sprach sogar davon, Tito und seine Leute hätten geglaubt, den Sozialismus in einem Lande aufbauen zu können. Dem "Trotzkisten" Tito wurde also ausgerechnet jene These zugeschoben, die Stalin im russischen Fraktionskampf gegen Trotzki durchsetzte. [] Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch davon die Rede, die jugoslawischen Führer hätten sich durch die Erpressungsversuche der Imperialisten einschüchtern lassen. Sie hätten durch eine Reihe von Konzessionen an die imperialistischen Staaten das Wohlwollen dieser Staaten erringen und mit ihnen über die Unabhängigkeit Jugoslawiens zu einer Vereinbarung kommen wollen. Daraus ergebe sich die Gefahr einer "Entartung Jugoslawiens in eine gewöhnlich bürgerliche Republik". [] Dies ist tatsächlich der entscheidende Punkt. Der "Klassenkampf" um das, was die russischen Führer als Sozialismus auffassen oder ausgeben, hat sich von der nationalen auf die internationale Ebene verlagert. Für die internationale Auseinandersetzung kann es auf bolschewistischer Seite nur eine oberste Kommandostelle geben. Die in den kommunistischen Parteien zusammengefaßten Hilfstruppen müssen durch periodische Reinigungen gedrillt werden. Das ist nichts Neues. Die ganze Geschichte der russischen Partei und der Komparteien wimmelt von solchen Reinigungen. Neu ist aber, daß, der Machtanspruch des Generalstabs zum erstenmal auf die Führergruppe eines anderen Landes stieß, die über eine eigene Armee und GPU verfügte. [] Man sollte auch nicht jene Teile der Kominform-Verlautbarung übersehen, die in besonders drastischer Weise die moralische Haltlosigkeit und intellektuelle Unaufrichtigkeit jener offenbaren, die sich der Welt als die Gralshüter des Marxismus-Leninismus vorstellen. Wäre in diesen Teilen des Dokuments nicht ausdrücklich von Jugoslawen die Rede, könnte man meinen, es handle sich um eine nüchterne Kritik bekannter Eigenheiten des bolschewistischen Mutterlandes. Man erfährt, daß russische "Zivilfachleute" und der russische Vertreter beim Kominform der Beobachtung und Aufsicht durch die Geheimpolizei unterstellt wurden. Es ist verständlich, daß sich die Tschekisten gegen die Ueberwachung durch eine Konkurrenz-Tscheka wehren. Im übrigen aber scheinen die russischen "Zivilfachleute" noch glimpflich weggekommen zu sein. In Rußland wurden Hunderte und Tausende ausländischer Kommunisten bekanntlich nicht nur beobachtet, sondern sehen ihr Heimatland nie mehr wieder. [] Ueber die Partei Titos heißt es, in ihr sei ein bürokratisches Regime geschaffen worden. Es gebe "keine innerparteiliche Demokratie, keine Wählbarkeit, keine Kritik und Selbstkritik". Das Zentralkomitee sei nicht ordnungsgemäß gewählt worden. Die Parteiorganisation sei sektiererisch-bürokratisch und werde mit militärischen Methoden geführt. Die elementarsten Rechte der Mitglieder würden mit Füßen getreten. Zwei oppositionelle Minister und Vorstandsmitglieder seien erst ausgeschlossen und dann verhaftet worden. Ein solch "schändliches, rein ottomanisches Terrorregime" könne nicht geduldet werden. Schließlich spricht man davon, daß Tito und seine Leute von "unmäßigem Ehrgeiz, Hochmut und Prahlsucht" angesteckt seien. An anderer Stelle wurde ihnen Eitelkeit, Herrschsucht und Verblendung über bestimmte Anfangserfolge vorgeworfen. [] Wir haben keinen Grund, diese Charakterisierung einer kommunistischen Parteiführung als unzutreffend abzulehnen. Aber wir wissen zugleich, daß Tito und seine Leute sich mit dem hier gekennzeichneten Gebahren durchaus im Rahmen dessen bewegt haben, was in der internationalen kommunistischen Bewegung einschließlich Rußlands üblich ist. Nicht gegen die Verwerflichkeit eines solchen Partei- und Terrorregimes an sich wendet sich die Moskauer Kritik, sondern dagegen, daß sich der jugoslawische Apparat nach und nach verselbständigte und der Moskauer Kontrolle entzog. Tito hat sicher nicht daran gedacht, in das Lager des "Klassenfeindes" überzuwechseln. Aber er hat offenbar auf Eigenständigkeit des von ihm und seinen Leuten begründeten Regimes gedrungen und auch den Anspruch erhoben, als Partner an der Bestimmung der internationalen kommunistischen Politik teilzuhaben. Das war sein entscheidender Irrtum. Da er ihn trotz wiederholter Ermahnungen nicht einsehen wollte, mußte es zum Bruch kommen. [] Da Tito nicht apparatmäßig parierte, entschloß sich die russische Parteiführung, durch das Kominform zum Sturz der Titisten aufzurufen. Das war kein ungefährlicher Schritt. Er konnte zu einem ernsten Einbruch in die russische Balkanposition führen. Daß man sich in Moskau trotzdem zu einer solchen Maßnahme entschloß, zeigt, wie eifersüchtig man darüber wacht, kein einigermaßen unabhängiges Machtzentrum entstehen zu lassen, selbst wenn an seiner Spitze noch so überzeugte Kommunisten stehen. Darin drückt sich eben eine der Schwächen des auf die Spitze getriebenen Totalitarismus aus. [] Es ist noch nicht, abzusehen, welche Konsequenzen die Kampfansage an Tito nach sich ziehen wird. Der erste Eindruck ist, daß, die Lenker des Kominform ihren Einflußüberschätzt und offenbar geglaubt haben, sie könnten mit Leichtigkeit eine Umwälzung in der jugoslawischen Führung erreichen. Tito hat aber - jedenfalls zunächst - das Heft fest in der Hand. Seine Zeitungen haben die Verlautbarungen des Kominforms und der "Bruderparteien" als Lügen und Verleumdungen abgewiesen. Das Belgrader Zentralkomitee und die von ihm abhängige Regierung betonten, sie hielten an ihrer politischen Linie fest, und zu dieser Linie gehörten die Unterstreichung der nationalen Unabhängigkeit und die Erstrebung eines Balkanbundes, den Rußland ausdrücklich als unerwünscht bezeichnet hatte. Andererseits wird aber auch betont, daß sich an der Freundschaft Jugoslawiens zur Sowjetunion nichts geändert habe. Zu diesem Punkt wird sicher bald eine Klärung erfolgen. [] Tito ist nicht über Nacht zum Demokraten geworden, und wir können auch nicht im einzelnen nachprüfen, was sich zwischen ihm und dem Kreml zugetragen hat. Es gehört aber nicht viel Phantasie dazu, um - über das Gesagte hinaus - einige der entscheidenden Konfliktpunkte andeuten zu können. Jugoslawien befindet sich in einem Prozeß des forcierten industriellen Aufbaus. Da Rußland nicht wesentlich zu diesem Aufbau beitragen kann, ist es nicht unwahrscheinlich, daß man sich in Belgrad nach Möglichkeiten verstärkter Handelsbeziehungen mit den dreimal verfluchten "Monopolkapitalisten" umgesehen hat. Die geographische Lage Jugoslawiens läßt auch eine Normalisierung des Verhältnisses zu den im Mittelmeer maßgeblichen Mächten angebracht erscheinen. Auf außenpolitischem Gebiet wollten sich Tito und seine Leute nicht nur kommandieren lassen. Sie haben ihre eigenen Interessen im Kopf - gegenüber Oesterreich, in der Triester Frage und in Griechenland. Und sie wollten wohl nicht nur eine Figur auf dem russischen Schachbrett sein. [] Es hat schon mehrere brüchige Stellen in den Komparteien der "Volksdemokratien" gegeben. Die tschechische KP nahm während der Diskussion um den Marshallplan im vorigen Sommer eine vom russischen Standpunkt aus recht opportunistische Haltung ein. Einer der Führer der rumänischen KP wurde kürzlich wegen seiner angeblich nationalistischen und anti-marxistischen Haltung ausgeschlossen und verhaftet. Die polnischen KP-Führer haben gegen gewisse russische Schachzüge in der Deutschlandpolitik Einwände erhoben. Dimitroff wurde Anfang des Jahres zurückgepfiffen, als er sich nach einer Unterhaltung mit Tito für eine Balkanföderation ausgesprochen hatte. Man soll diese Dinge nicht überschätzen, aber sie wurden in Moskau offenbar ernst genug genommen, um an Hand des jugoslawischen Beispiels eine neue Gleichschaltung zu erzwingen. [] Die SEP hat sich veranlaßt gesehen, trotz ihrer angeblichen Nichtmitgliedschaft im Kominform auf den Ausschluß der KPJ mit einer höchst linientreuen Erklärung zu reagieren. Sie zählt die schwerwiegenden Fehler der jugoslawischen Partei auf, um daraus als "Stimme ihres Herrn" zu folgern, daß es heute einzig und allein auf die "klare und eindeutige Stellungnahme für die Sowjetunion" ankomme. Als wichtigste Lehre wird herausgestellt, die SEP "zu einer Partei zu machen, die unerschütterlich und kompromißlos auf dem Boden des Marxismus-Leninismus steht". Dazu sei es notwendig, "einen politisch festen, zielklaren Funktionärkörper in der Partei zu schaffen, die Kritik und Selbstkritik ohne Ansehen der Person zu entfalten und den Kampf gegen alle Feinde der Arbeiterklasse, insbesondere gegen die Schumacher-Agenten, mit rücksichtsloser Schärfe zu führen". [] Otto Grotewohl hat in dieses Horn bereits einige Tage vorher auf dem als erweiterte Vorstandssitzung einberufenen außerordentlichen Parteitag geblasen. Er hatte nach seiner Balkanreise begriffen, daß man sich für die nächste Runde der ultralinken Lesart zu bedienen habe. Er und seinesgleichen haben sich auch nicht geschämt, für jene "Säuberung" der SEP die Trommel zu rühren, die seit Wochen durch Kominform-Befehl auf der Tagesordnung steht. Niemand wird uns aber einreden können, daß es nicht mindestens einige hundert alte Kommunisten in Deutschland gibt, denen bei den Schleimereien der Grotewohls übel wird, und die sich angesichts der jugoslawischen Lehre fragen, ob diese Verrücktheiten der Sinn ihrer Opfer und Anstrengungen waren. [] Herausgeber: Vorstand der SPD. Druck: Hannoversche Presse, Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Hannover.
Published:06.1948