"Arbeite, Mutti, arbeite ..."

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Zeichnungen von Pöhls, W. "Arbeite, Mutti, arbeite ..." [] Léon Blum, ein französischer Politiker, einer der besten Sozialisten der Welt, von den Nazis in Buchenwald eingekerkert, machte hier Aufzeichnungen, die getragen sind von Ve...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Auerdruck GmbH, Hamburg
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 1948
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/5937D40A-EF81-405A-9587-B91C9767424B
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Zeichnungen von Pöhls, W. "Arbeite, Mutti, arbeite ..." [] Léon Blum, ein französischer Politiker, einer der besten Sozialisten der Welt, von den Nazis in Buchenwald eingekerkert, machte hier Aufzeichnungen, die getragen sind von Versöhnung und Verstehen, ohne Haß gegen die Deutschen und voll Glauben an eine bessere Zukunft. [] Unter anderem zeichnet er eine Erinnerung an Lily Braun auf, eine der bedeutendsten deutschen Frauen der Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende. Er berichtet von ihrem Besuch bei ihm. [] "Wir nahmen Lily so gut auf, wie wir konnten, und sie wurde bei uns heimisch ... An einem Frühlingstag erwarteten wie [!] sie zu Mittag, zu dem wir außer ihr noch HERR und JAURES eingeladen hatten. Sie kam mit etwas Verspätung an und war offensichtlich verstört. "Was haben Sie, Lily?" fragte sie Lucien HERR. "Ach, nichts!" antwortete sie. "Ich bin noch ganz aufgeregt von einem kleinen Abenteuer." ... Liebevoll befragt, erzählte sie es uns: [] Ich war am Morgen ausgegangen, um Besorgungen in meinem Viertel zu machen. Mein Söhnchen begleitete mich. Auf dem Rückweg, gerade als wir den Boulevard Saint Germain überqueren wollten, wurden wir von einem vorüberziehenden Regiment aufgehalten: Musik an der Spitze, wehende Fahne im Wind, Offiziere hoch zu Roß. Als dann das Regiment vorbei war und die Menge sich zerstreut hatte, setzten wir unseren Heimweg fort. In der menschenleeren Straße zog der Kleine mich an der Hand: "Was ist das, was man vorbeiziehen sah, Mutti?" - "Ein Regiment." - "Was ist das, ein Regiment?" - "Das sind Soldaten." - "Was sind Soldaten?" - "Nun hör aber, das weißt du längst, das sind Männer, die man ausbildet, um eines Tages Krieg zu machen." Ich antwortete kurz, beschleunigte den Schritt, aber die Fragen rollten wie von selbst ab. "Was ist das, Krieg? ... Aber warum machen die Leute Krieg gegeneinander?" - Und ich, mein Gott, ich ließ mich plötzlich gehen. Fast ohne darauf zu achten, ob die Sätze auch für ein Kind verständlich wären, ließ ich aus mir heraussprudeln, was ich mir fast jeden Abend vorsage. Ich habe dem Kleinen meinen Abscheu vor dem Kriege zugeschrien. Sie hätten es von hier aus hören können! Welche Unzahl von Leiden, von Ängsten, Verwüstungen, von Trauer! Fortab werden ganze Nationen ins Unglück gestürzt. Die von ihren Zielen abgelenkte Wissenschaft dient nur noch dazu, immer mörderischere Waffen zu schaffen. Sicher ein Ansporn zu großen Tugenden, aber eine wirkliche kultivierte [] Gesellschaft würde anderen Ansporn und andere Beschäftigungen für sie finden, im Gegensatz dazu das plötzliche Erwachen alter, wilder Instinkte der Grausamkeit, des Blutdurstes, des Hasses des Fremden, dessen, der eine andere Sprache spricht und andere Gesichtszüge hat. Warum sich die Menschen gegenseitig töten? Meistens wissen sie es nicht und kümmern sich auch nicht darum. Sie wissen nicht, wer angreift und wer verteidigt, wer unrecht hat und wer recht. Sie beginnen, weil man es ihnen befohlen hat; sie fahren fort, weil sie einmal angefangen haben. Sie sind das Werkzeug des Ehrgeizes und von Interessen, die sie nicht kennen, das Spielzeug von Kräften, die über sie hinausgehen. Die besiegten Völker schmachten unter der Niederlage, aber den Siegervölkern nützen die Siege nichts. Ihre wahren Feinde bestehen weiter: Das Elend, die Ungerechtigkeit, Unwissenheit, Selbstsucht, die allen Nationen gemeinsamen Feinde, gegen die sie sich wie Schwestern verbinden sollten ... [] Das Kind unterbrach mich nicht mehr, antwortete nicht mehr, durstig zog es diese Flut von Worten in sich ein. Ich hörte auf zu sprechen; es blieb immer noch still. Und dann, mit zitternder und fast entsetzter Stimme fragte es mich: "Mutti, alle Männer werden Soldaten?" - "Ja." - [] "Ja!" - "Also, wenn ich groß bin, werde ich auch Soldat? Ich mache dann auch Krieg? - Es lauerte mit Schrecken auf meine Antwort, seine Hand zitterte in der meinen. Ich zögerte; ich wußte nicht, wie ich den Kleinen beruhigen konnte. Schließlich sagte ich ihm: "Hör zu, mein Kind, Soldat wird man erst nach zwanzig Jahren und du bist noch sehr klein. Und gibt es bis dahin viele Männer wie deinen Vater, wie die französischen Freunde, die zu uns kommen, Frauen wie deine Mutter, arbeiten sie tüchtig ohne Unterlaß, ohne Pause, reißen sie viele Genossen fort, mit Ihnen zu arbeiten, dann werden ... vielleicht wenn du groß bist, alle Nationen miteinander versöhnt sein." ... Das Kind antwortete nichts, aber es schien, als wäre seine Angst gestillt. Wir warenübrigens an der Haustüre angekommen. [] Ich setzte mich an meinen Tisch und versenkte mich in meine Papiere, aber die Fragen des Kleinen hörten nicht auf, mich dumpf zu plagen. Otto wird sieben Jahre alt. Das macht also nicht mehr so viele Jahre bis dahin und es bleibt viel zu schaffen. Werden wir, die einen wie die anderen, gut genug arbeiten? Werden wir genügend Männer und Frauen mitreißen? Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick auf Otto, der in meinem Arbeitszimmer geblieben war und mir gegenüber in einem Bilderbuch zu blättern versuchte. Mit Willensanstrengung machte ich mich von neuem an die Arbeit, und wieder lenkte mich mein Gedanke davon ab. Nach einer Viertelstunde stand ich auf, nahm eine Zigarette vom Tisch und ging ans Fenster, um sie zu rauchen. Ich schob die Gardinen beiseite und blickte unbestimmt auf die Straße. Da fühlte ich, wie man mich von hinten am Rock zupfte. Ich drehte mich um, der Kleine blickte mich mit flehenden Augen an und sagte: "Arbeite, Mutti, arbeite!" [] Lily schwieg einige Augenblicke, dann fügte sie hinzu: "Das war mein ganzes Abenteuer. Sagen Sie mir, Jaurès, glauben Sie, daß Otto Soldat wird?" ... [] Zehn Jahre nachher wurde Otto Soldat. - Im ersten Weltkrieg, im Frühjahr 1918, ist er gefallen. Ein genialer junger Mensch war für Deutschland verloren. Jean Jaurès, der größte Kriegsgegner in Frankreich, fiel am Vorabend des ersten Weltkrieges einem feigen Mord zum Opfer. - 25 Jahre später gingen wieder Millionen Männer im besten Alter in der ganzen Welt auf die Schlachtfelder und in den Tod. [] Warum? [] Es waren zu wenig Männer und Frauen Freunde des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit, die in den Ländern der Welt bereit waren, hiervon zu künden und hierfür zu kämpfen! Soll Dein Kind, Dein Mann, Dein Freund wiederum einem Krieg zum Opfer fallen? [] Nein! Und abermals NEIN! [] Generationen von Sozialisten, Männern und Frauen in allen Ländern der Erde, haben ihr Leben lang um soziale Gerechtigkeit und eine friedliche Verständigung unter den Völkern gekämpft. Auch heute sind es wiederum die Sozialdemokraten, die vorbehaltlos und ehrlich Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit verlangen. [] Wir können es erreichen. [] Es wird immer mehr Männer und Frauen geben, die arbeiten werden "ohne Unterlaß, ohne Pause!" [] Und es werden ihnen viele helfen wollen. [] Wir suchen auch Dich! [] Hilf mit, daß endlich die alte Sehnsucht des Menschen nach einem Leben ohne Furcht und Not verwirklicht wird! [] Hilf mit, daß die deutsche Sozialdemokratie stark genug wird, um ihre Ziele zu erreichen. [] Hilf uns, dann können wir auch Dir helfen! [] Komme zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands! [] Auerdruck GmbH., EP 36, Hamburg 1 - 3364/30000/11.48/Kl. C
Published:1948