Wir alle sind verantwortlich!

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Herkunft: SPD-Landesvorstand Bayern, Signatur 76 Wir alle sind verantwortlich! [] Im Frühjahr 1938, während in Österreich eine nationale Orgie gefeiert wurde; unterhielt ich mich in Genf mit Schweizern, Franzosen und im Exil lebenden Spaniern...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ)
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 25.11.1945
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/295C78DE-46AB-42A8-B4EF-BA559C3A41ED
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Herkunft: SPD-Landesvorstand Bayern, Signatur 76 Wir alle sind verantwortlich! [] Im Frühjahr 1938, während in Österreich eine nationale Orgie gefeiert wurde; unterhielt ich mich in Genf mit Schweizern, Franzosen und im Exil lebenden Spaniern über den Nationalsozialismus. Man hielt mich, denÖsterreicher, der seine Nationalität soeben an Deutschland verloren hatte, für zuständig, in dieser Frage verbindliche Erklärungen abzugeben. [] Meine Erklärung war jedoch verblüffend einfach: [] "Der Nationalsozialismus ist der Triumph der Dummheit." [] Seitdem hat diese Dummheit noch einen bedauerlichen Beigeschmack erhalten. Meine grundsätzliche Einstellung dazu hat sich jedoch nicht geändert, und wer es nur einigermaßen versteht von seiner Vernunft Gebrauch zu machen, wird mir beipflichten. [] Vor einigen Tagen erhielt ich Besuch. Ein ehemaliger illegaler Pg. kam zu mir, weil er gehört hatte, daß ich jetzt vielleicht Beziehungen habe. Er sah schlecht aus und roch schlecht gewaschen. Ich mußte eine hübsche kleine Rede über mich ergehen lassen, in der Ideale und Menschlichkeit gepriesen, Haß und Unterdrückung bitter angeklagt und verdammt wurden. Er sah mich, nachdem er geendet hatte, erwartungsvoll an. Ich hatte seiner Rede nichts hinzuzufügen, außer, daß er fünfzehn Jahre zu spät damit kam - so lange gehörte er nämlich der NSDAP an. Ich sagte ihm das und es schien ihn zu kränken. [] 300.000 IX. 45 - V. 683 [] Er hatte gewünscht, daß ich ihn verstehen und sein Schicksal als ungerecht empfinden möge. Dabei ist es tatsächlich hart. Er hat Wohnung und Habe verloren. Ich versuchte, ihm den Zusammenhang der Dinge klarzumachen. Es scheiterte daran, daß ich sein Elend begreifen sollte, er aber seine Schuld daran nicht einzusehen vermochte. Wir gerieten in eine Debatte. Er habe immer nur das Beste gewollt, rief er aus. Und damit das Schlechteste erreicht, gab ich zur Antwort. Er war Pazifist und habe den Krieg verabscheut. Ihn aber durch seine Haltung und Stellungnahme gefördert! Er war gegen Judenverfolgung und Rassengesetz. Trug aber das Abzeichen einer Partei, die durch Judenverfolgung und Rassengesetz ihre Landsknechte entlohnt und ihre Raubritter zu Aktionären gemacht hatte. Er habe sich nie an fremdem Eigentum vergriffen. Ich weiß nicht, ob das in seiner Partei als Ehre galt. [] Er fuhr fort zu argumentieren, und das Widersinnige daran war, daß er immer das Gegenteil von dem getan, was er gedacht hatte. Wir befanden uns in einem Labyrinth. Ich versuchte, ihn festzuhalten und zur Vernunft zu bringen, es war aber zwecklos. Er begriff, daß sich die Zeit sehr ungünstig für ihn verändert hatte, begriff aber um keinen Preis, daß seine Wahnsinnsideen damit in irgendeinem Zusammenhang standen. Er wollte von mir die Versicherung, daß er jederzeit korrekt und anständig gehandelt hätte. Ich konnte ihm nur versichern, daß er ein Dummkopf war. Mit dieser Versicherung gab er sich nicht zufrieden. Ich stellte ihm abschließend die Hauptfrage: Ob er so vor mir sitzen und seine unbrauchbar gewordene Überzeugung verleugnen würde, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Er starrte mich an und sagte kein Wort. Die Situation war augenscheinlich bitter für ihn. Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, dann hätte der Pg. Seine Wohnung behalten dürfen und es wäre nicht nötig gewesen, irgend jemandem zu versichern, daß man den Haß verabscheue und die Menschlichkeit als oberstes Gesetz betrachte. Dann wäre es einfach nicht wahr gewesen, daß Millionen Menschen in Konzentrationslagern zu Tode gemartert wurden, dann wäre es nicht wahr gewesen, daß Lüge Lüge und Wahrheit Wahrheit war, dann wäre Wahrheit Lüge und Lüge Wahrheit gewesen, dann wäre alles ganz anders gewesen, dann hätte sein armer, unglücklicher Kopf gesiegt, dieser Kopf, der nicht begreifen konnte, daß man ohne Kopf [] nicht siegen kann. Der Mann saß vor mir und hatte Tränen in den Augen. Sein Anblick war jämmerlich und widerte mich an. Er hatte sich nicht geändert, es fehlte nur das Parteiabzeichen im Knopfloch. Seine Menschlichkeit hatte er erst entdeckt, als man ihm die Wohnung nahm und ihn vor eine unsichere Zukunft stellte. Als man anderen Menschen die Wohnung nahm, sie ihrer Menschenrechte beraubte, sie quälte und in den Tod schickte, tröstete er sich mit dem Sprüchlein, "daß die Unschuldigen eben mit den Schuldigen leiden müßten". [] Das war für ihn der Höhepunkt an Menschlichkeit und Gerechtigkeit, den er erreichen konnte. Und dieser Höhepunkt war nur der Ausdruck einer seelischen Verrohung, die an Verbrechen grenzte. Ich erinnerte ihn daran. Er konnte es nicht leugnen, fand meine Folgerungen aber hart. Er begann, in mir einen bösen Menschen zu vermuten, der entschlossen war, ihm wissentlich Unrecht zuzufügen. Er erhob sich mit einem Seufzer und entschuldigte sich für seinen Besuch. Ich begleitete ihn ein Stück. Ich unterließ es, ihm Mut zuzusprechen. Mir fielen die letzten sieben Jahre ein, der Krieg, die sinnlose Verwüstung Europas und die Millionen Menschen, die nie mehr wiederkehren würden. Nie mehr! [] Der Mann, der neben mir ging, gehörte zu den Überlebenden. Er wehrte sich dagegen, daß man von ihm die Bezahlung einer Zeche verlangte, die er gemacht hatte. Daß ich sie gleich ihm mitbezahlen mußte, störte ihn nicht. Es war für ihn selbstverständlich, daß die anderen mehr bezahlen sollten als er selbst. Darin war er der alte Pg. geblieben. Dieses Wunder war ihm in die Knochen gefahren. Es war unfaßlich, daß es Schwindel war und nicht tausend Jahre dauerte. [] Nicht der Mann ist gefährlich, aber seine Dummheit. Sie ist unheilbar. Und diese Dummheit hat einmal triumphiert. Sie konnte das, weil wir ihre Träger nicht ernst genommen haben, weil uns ihr Treiben belustigt hat, weil wir alle irgendwo als Weltbürger saßen und glaubten, den Nationalsozialismus mit einem Scherzwort erledigen zu können. [] Der Nationalsozialismus ist der Triumph der Dummheit! [] In ein System gebracht und bewaffnet, ist die Dummheit mörderisch. Wir sind ihren Fängen mit knapper Not entronnen. Einen zweiten Triumph dieser Dummheit würden wir nicht überleben. Wir müssen auf der Hut sein. [] Wir alle sind verantwortlich! [] Denkt daran, wenn ihr zur Wahl geht! [] Sozialistische Partei Österreichs
Published:25.11.1945