Demokratie als Aufgabe

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; DEMOKRATIE als Aufgabe [] Aus einem Rundfunkvortrag von Erich Ollenhauer, 1. stellvertretenden Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 30. August 1946. [] Die Sozialdemokratische Partei ist die einzige Partei in Deutschla...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Hannoversche Presse
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 30.08.1946
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/7356E06C-CB22-4771-BC73-4A3C050C85CC
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; DEMOKRATIE als Aufgabe [] Aus einem Rundfunkvortrag von Erich Ollenhauer, 1. stellvertretenden Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 30. August 1946. [] Die Sozialdemokratische Partei ist die einzige Partei in Deutschland, die unter ihrem alten Namen und mit ihrer alten demokratischen und sozialistischen Zielsetzung wieder ins öffentliche politische Leben getreten ist. Nicht, weil die Partei zu konservativ ist, um neue Ideen und neue Tatsachen begreifen zu, können, sondern weil die Grundideen der deutschen Sozialdemokratie, die Ideen der Demokratie, der Freiheit und des Sozialismus durch die Erfahrungen und Entwicklungen der letzten 14 Jahre eine neue Bestätigung und Rechtfertigung erhalten haben. [] Alle Parteien haben dem Verlangen der Menschen nach einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat, nach Freiheit und Sicherung für das einzelne Individuum, Rechnung zu tragen gesucht. Die bürgerlichen Parteien durch ihre Umbenennung in demokratische Parteien und die Kommunisten durch feierliche Erklärung, daß sie endgültig auf ihre früheren Diktaturziele zugunsten einer demokratischen Vorstellung verzichtet hätten. Es bleibt abzuwarten, ob diesen theoretischen Wandlungen auch entsprechende Taten folgen werden. Die Tatsache bleibt bestehen, daß sich keine Partei der suggestiven Kraft demokratischer und freiheitlicher Ideen zu entziehen vermochte. [] Das blutige und folgenschwere Experiment des Nationalsozialismus hat erneut den Beweis erbracht, daß Ideen durch Gewalt nicht erstickt werden können. Es war das erklärte Ziel dir nationalsozialistischen Diktatur, die freie Arbeiterbewegung, den "Marxismus" mit Stumpf und Stiel auszurotten: Der Nationalsozialismus hat auch auf diesem Gebiet viele traurige Erfolge aufzuweisen. Er hat die Organisationen und Einrichtungen der Arbeiterbewegung zerschlagen, geraubt und mißbraucht. Er hat die Träger der Bewegung rechtlos gemacht, sie mißhandelt, geköpft, gehängt, gemordet. In unseren Reihen fehlen viele Tausende. Sie fielen der Diktatur zum Opfer, weil sie die Idee höher stellten als das Leben. [] Die Auseinandersetzung zwischen dem "Tausendjährigen Reich" und der sozialistischen Arbeiterbewegung, die tatsächlich ein Kampf auf Tod und Leben war, hat geendet, wie sie enden müßte. Das "Tausendjährige Reich" liegt in Trümmern. Es hat in seinem Sturz das ganze deutsche Volk mit in den Abgrund gerissen. Es ist untergegangen in Schimpf und Schande. [] Aber die Idee der Freiheit und Menschlichkeit lebt. Sie findet heute wieder ihren stärksten organisatorischen und politischen Ausdruck in der einzigen echten Freiheitsbewegung, die es in den letzten 80 Jahren in Deutschland gegeben hat: in der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung, in der Sozialdemokratie. Ihre Träger sind wieder in erster Linie die Männer und Frauen in den Fabriken und Kontoren, die Arbeitenden in Stadt und Land. Es sind die politisch geschulten Arbeiter, die auch in den schwärzesten Tagen während der Diktatur den Glauben an die Idee nicht aufgaben, die treu blieben, als viele der heutigen Neu-Demokraten ihre demokratische Ueberzeugung für ein Linsengericht verkauften. Gestern verfemt und verfolgt, verachtet oder mitleidig belächelt, heute getragen von dem Bewußtsein der Rechtfertigung einer großen und opferreichen Anstrengung. Darin liegt die innere Kraft der sozialdemokratischen Bewegung von heute. In ihrem Dasein bestätigt sich von neuem die Wahrheit, daß Ideen stärker sind als Gewalt. [] Es gibt wenig Erfreuliches in der Erbschaft des Nationalsozialismus. Dazu gehört das geschärfte Bewußtsein von der Bedeutung demokratischer Freiheit. [] Der spontane Widerstand der Berliner Sozialdemokraten gegen eine erzwungene Vereinigung war einer der stärksten Beweise für diese Wachsamkeit. [] Demokratisches Bewußtsein darf sich aber nicht nur äußern in der Abwehr von Angriffen auf die demokratischen Freiheiten, es muß zu einer aktiven demokratischen Politik führen. Sie ist aber nicht möglich in einer Demokratie, die keine echte Verantwortung trägt. Wir Sozialdemokraten fordern daher, daß den Deutschen sobald wie möglich die Freiheit der Entscheidung und der Gestaltung in allen Angelegenheiten ihres innenpolitischen Lebens gegeben wird. Solange die Demokratie in Deutschland dirigiert wird - auch wenn es mit den besten Absichten geschieht - muß sie ein anfälliges, lebensunfähiges Gewächs bleiben. Demokratie kann sich nur in der harten Wirklichkeit echter Entscheidung und echter Verantwortung entwickeln und bewähren. [] Die Demokratie muß sich auch aus eigener Kraft gegen ihre Gegner schützen. Sie muß aus eigenem Recht die Grenzen ihrer Freiheiten abstecken, die Konsequenzen aus den Schwächen und Fehlern der Weimarer Epoche ziehen. Wir Sozialdemokraten sind der Ueberzeugung, daß Menschen und Gruppen, die die Mittel der Demokratie nur benutzen wollen, um die Demokratie selbst aufheben zu können, keinen Anspruch auf die Ausübung der Rechte dieser Staatsform haben. Sie muß die unbestrittene und unantastbare Grundlage des politischen Lebens sein. Nur unter dieser Bedingung und unter dieser Begrenzung kann sich eine wahre politische Freiheit entwickeln. [] Wir müssen in Deutschland auch besonders wachsam sein gegen die Verwischung und den Mißbrauch des Begriffes Demokratie. Ein System, in dem die Parteien nicht das volle Recht der politischen Betätigung haben, ist keine Demokratie, auch wenn es tausendmal so bezeichnet wird. Darin liegt zum Beispiel der prinzipielle Unterschied der Situation in den Westzonen und in der russisch besetzten Zone Deutschlands. Während im Westen die Kommunisten die Freiheit der vollen Ausübung ihrer demokratischen Rechte haben, ist den Sozialdemokraten in der russischen Zone jede Form der Organisation und der Werbung versagt. Die Frage unbehinderter politischer Betätigung der Sozialdemokraten in der russischen Zone ist keine Parteifrage. Sie ist eine prinzipiell politische Frage. Darum ist das Experiment der sogenannten SED unserer Ansicht nach gescheitert. Die SED ist heute die alte Kommunistische Partei unter einem neuen Namen. Und die Sozialdemokraten, die heute zu Hunderttausenden in der russischen Zone zum Schweigen verurteilt sind, die abseits stehen, weil sie sich einem neuen Zwang nicht beugen wollen, die wiederum die Idee höher stellen als die persönliche Ruhe und Sicherheit, sie sind das Herzstück der echten demokratischen Kräfte im Osten Deutschlands. [] Deshalb haben Wahlen in der russischen Zone, so fürchten wir, nicht das Gewicht einer freien demokratischen Entscheidung, weil ein wichtiger Teil der demokratischen Wählerschaft dieser Zone nicht frei entscheiden kann. Er hat in vielen Fällen nicht einmal die Freiheit, der Wahl fernbleiben zu können. Die einzige Möglichkeit für Demokraten, ihren Willen unverfälscht zu dokumentieren, ist die Abgabe von ungültigen Stimmzetteln. Nichts offenbart sinnfälliger die Fragwürdigkeit eines Systems, das sich demokratisch nennt, als diese Zwangslage. Eine Demokratie, in der nicht etwa die Gegner, sondern ihre leidenschaftlichsten Anhänger, die Sozialdemokraten, die aus Tradition, aus Gesinnung und aus Ueberzeugung Demokraten sind, rechtlos sind, ist keine Demokratie. [] Hat es einen Sinn, zu Menschen, die hungern und bald auch wieder frieren werden, von diesen Problemen zu reden? Es hat einen Sinn. Wir leben nicht nur in einer materiellen Krise, wir leben auch in einer geistigen Krise. Die Frage unserer Gesundung, die Aussicht auf eine hellere Zukunft, hängen nicht nur davon ab, daß die Menschen wieder hinter Maschinen und Pflügen produzieren, ebenso wichtig ist, was die Menschen hinter Maschinen und Pflügen denken. [] Wir müssen den Nationalsozialismus innerlich und geistig überwinden. Wir müssen begreifen, daß mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches ein neuer Abschnitt in der Geschichte unseres Volkes beginnt. Die Absage an Militarismus, an Diktatur, an Willkür und Vorherrschaft darf keine Angelegenheit des Opportunismus sein., Es kommt nicht darauf an, daß wir aus der Not eine Tugend machen. Wir müssen bedingungslos und uneingeschränkt die Eigenschaften eines friedlichen und demokratischen Volkes entwickeln; Sachlichkeit, Menschlichkeit Rechtsbewußtsein und Toleranz. Das ist schwer. Schwerer als die Gefolgschaft unter einer Diktatur. [] Denn eine solche Haltung bedeutet die Uebernahme von Verantwortung durch jeden einzelnen für das Schicksal der Gesamtheit. Die einzige Form der Verwaltung einer Gesellschaft, in der sich diese Eigenschaften entwickeln können, ist die Demokratie. [] Für uns Sozialdemokraten ist die Demokratie nicht Mittel zum Zweck. Für uns ist sie ein untrennbarer und unabdingbarer Bestandteil unserer sozialistischen Vorstellungen. Denn für uns heißt Sozialismus nicht ein neues System des Zwanges und der geistigen Uniformierung. Wir sehen im Sozialismus die größtmögliche Entfaltung der geistigen, sittlichen und ethischen Kräfte aller Glieder unseres Volkes. [] Wir wollen den Menschen nicht nur die Lasten der Sorge um das tägliche Brot und um die Zukunft ihrer Kinder durch eine sozialistische Wirtschaft abnehmen, wir wollen ihnen auch die Freiheit der Entfaltung ihrer Persönlichkeit geben. [] Die sozialistische Wirtschaft, die demokratische Verwaltung, müssen wir gegen unsere politischen Gegner erkämpfen. Die innere Freiheit müssen wir uns selbst erarbeiten. Sie fallen uns nicht wie eine reife Frucht in den Schoß; sie können uns nicht von außen gebracht werden; sie können nicht anerzogen werden. Wir müssen sie erarbeiten. Nicht morgen, nicht später, wenn wir das tiefste Tal durchschritten haben, sondern jetzt und heute. Und wir müssen ständig wachsam sein gegen jeden Versuch, die Ansätze eines neuen freiheitlichen Lebens zu verkümmern oder zu verwässern. [] Es sind kleine Ansätze, aber sie sind das Kostbarste, was wir heute haben. Vergessen wir nie das Wort des großen italienischen Sozialisten Matteotti, der durch Mussolini ermordet wurde: [] "Die FREIHEIT ist wie die Luft und die Sonne - ohne sie können wir nicht leben!" [] Druck Hannoversche Presse, 148/ 3000, 9. 46, Kl. C
Published:30.08.1946