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Liebe Wählerin! [] Lieber Wähler! [] Ich möchte mich einmal persönlich mit einem Brief an Sie wenden. Bitte nehmen Sie sich ein paar Minuten Muße und folgen Sie meinen Zeilen. [] Sie haben am 14. August eine Entscheidung zu treffen, die für die Gestaltung Ihres persönlichen und des staatlichen Lebens in der nächsten Zukunft nicht wichtig genug zu nehmen ist. [] Als Kandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Hamburger Wahlkreis V wende ich mich an Sie. Ich möchte um Ihre Stimme werben. [] Bitte, legen Sie den Brief jetzt nicht fort, weil Sie mit "Politik" nichts zu tun haben wollen. Sehen Sie, "Politik" wird dennoch gemacht, ja, sie folgt Ihnen auf dem Fuße; nur Sie bringen sich dann um die Möglichkeit, Ihre Ansicht von einer politischen Neuordnung zum Ausdruck zu bringen, und um das Recht, daran mitzuwirken. Das ist sicher wiederum auch nicht Ihre Absicht. - [] Sie wissen doch, wie entscheidend sich unser persönliches Leben seit 1933 gewandelt hat; daß wir Flugplätze bauten, Munition herstellten und - ob Männer oder Frauen - Opfer des Krieges sein mußten, daß wir unser Hab und Gut, unsere Wohnungen, ja unsere Heimat hergeben mußten, daß wir hungerten und froren. Das haben die wenigsten von uns gewollt. Aber die politische Entscheidung der Wähler 1933 hat Hitler an die Macht gebracht, und er nahm sich die Macht, uns zu dem Leben zu zwingen, das wir seither führen mußten. - Der Krieg hat Deutschland, hat jeden einzelnen von uns bis ins Mark krank gemacht. [] Diese Tatsachen kann keiner von uns fortreden. Aber wir müssen wieder gesunden, denn wir wollen leben, unsere Kinder brauchen eine neue Lebensbasis, auf der sie weiterbauen können! [] Wir müssen neu anfangen, und alle sollen die Last mittragen helfen, die Deutschland und damit dem deutschen Volk aus seiner Zerstörung erwachsen ist. Ist das heute schon so? Nein! Und da muß ich beginnen, Sie zu erinnern. Hunger, mangelnde Bekleidung, Kälte - nichts hielt die arbeitenden Menschen in Deutschland ab, so viel zu leisten, wie ihr Körper hergab. Schlechtes Geld war der Lohn. Es wurden Waren produziert, aber die mühselig "erstandenen" Bezugscheine galten nichts. Unsere Kinder liefen barfuß und schlecht bekleidet. Für Geld erhielten wir nichts für sie. Gebefreudige in allen kultivierten Ländern der Welt halfen uns, die allerschlimmsten Schäden zu heilen und unsere Kinder mit Spenden und Speisungen durch diese Zeit zu bringen. In Deutschland aber lagen die Waren "unter der Tonbank" oder in den großen Lägern. Die Sozialdemokratie klagte dieses schändliche Verhalten an. In Kreisen der Wirtschaftsführer antwortete man, es müsse ein "Warenpolster" da sein, damit es nach der Geldreform etwas zu kaufen gibt. Entsinnen Sie sich noch? Das war eine politische Entscheidung, die über den Kopf der Sozialdemokratie gefällt wurde, weil sie nicht die Mehrheit im Frankfurter Wirtschaftsrat besaß. - [] Die Geldumstellung kam. Arm wurde der kleine Mann, der nur jeweils das besitzt, was er sich vom Arbeitslohn ersparen kann. Die Waren kamen über Nacht, in großen Mengen, die Schaufenster lagen hoch voll. Das alles hatten die Werktätigen in vielen bitteren Jahren produziert. Konnten sie sie jetzt wenigstens zu angemessenen Preisen kaufen? Nein. Es zeigte sich, daß die Waren nicht ein "Warenpolster" für den hungrigen Käufer, sondern ein "Gewinnpolster" für die Industrie- und Handelskreise geworden waren. Erfassung dieser Gewinne verlangte die SPD. In der CDU-FDP-Mehrheit des Wirtschaftsrates in Frankfurt verschwand diese Forderung. Wir wurden von ihnen auf das "Auspendeln der Preise nach unten" vertröstet. Was ist daraus geworden? Mit leeren Beuteln stehen wir vor, gefüllten Schaufenstern. Unser Lohn reicht kaum für ausreichende Nahrung. [] Die deutsche Wirtschaft wurde, durch unser aller Geldopfer bei der Währungsreform, durch die verbesserte Arbeitsleistung der deutschen Werktätigen und durch die erheblichen Geldsummen des amerikanischen Hilfsplanes wieder funktionsfähig gemacht. Die Nutznießer aber waren Industrie- und Handelsunternehmen, die durch die überhöhten Preise zunächst einmal reicher werden wollten und nicht daran dachten, freiwillig einen Teil an diejenigen abzutreten, die das doch im wesentlichen ermöglicht hatten, an die arbeitende deutsche Bevölkerung. - Sie werden es auch weiterhin nicht freiwillig tun. Durch unsere politische Entscheidung müssen wir sie dazu zwingen! [] Wir wollen, daß die Lasten, die durch Kriegszufälligkeiten bis jetzt zur Hauptsache von einem Teil des deutschen Volkes getragen wurden den Flüchtlingen, den Ausgebombten, den Kriegsopfern und Sozialrentnern auf alle Kreise des deutschen Volkes verteilt werden. Wir wollen den sozialgerechten Lastenausgleich. Er wurde uns innerhalb sechs Monaten nach der Geldreform zugesagt. Er ist nicht gekommen. [] Wir wollen, daß Gewinne aus der Wirtschaft, Gelder aus der amerikanischen Finanzhilfe und Staatsgelder in größtem Umfang in den sozialen Wohnungsbau geleitet werden, damit das größte Elend in Deutschland entscheidend gemildert wird. Damit wird auch ein voller Beschäftigungsgrad in der Bauwirtschaft erreicht, der ausstrahlt auf die gesamtdeutsche Wirtschaft und die Arbeitslosigkeit vermeidet. - Wir wollen eine Vollbeschäftigung durch Erhöhung der Kaufkraft der Kleinverdiener, der Sozialrentner usw. herbeiführen. Wenn mehr gekauft wird, kann mehr produziert werden. - Wir wollen, daß nicht die Läden voller Luxuswaren aus Porzellan, Stoffen und Leder liegen und damit unsere knappen Geldmittel verbraucht werden, sondern daß eine bewußte Lenkung, d. h. Planung unserer Warenproduktion erfolgt, im Sinne der Bedarfsbefriedigung des größten Teiles unseres Volkes, der zunächst einmal die lebensnotwendigen Dinge preiswert kaufen soll. - [] Im Frankfurter Wirtschaftsrat, der die bisherigen Wirtschaftsprinzipien zu verantworten hat, hat die SPD zwar ständig protestiert gegen die unsoziale Wirtschaftspolitik, aber nicht sie, sondern alle bürgerlichen Parteien verfügen dort über die Mehrheit der Abgeordneten. Die SPD wird von ihnen überstimmt. Auch hier haben Sie also wiederum die Möglichkeit, durch Ihre Wahl eine politische Entscheidung zu treffen, die Ihr persönliches Leben ganz außerordentlich beeinflußt. - Ich könnte Ihnen diese Beispiele noch vervielfachen, doch es würde zu weit führen. Bitte, lesen Sie aufmerksam die Zeitungen und Flugschriften der SPD, wenn Sie weiter eindringen möchten in diese Zusammenhänge. Ich möchte Ihnen nur nahebringen, daß die Politik nicht eine Angelegenheit von beruflichen Spezialisten ist, sondern die Sache jedes einzelnen Menschen in einem Staat. Die Lohntüte, der Inhalt des Kochtopfes, das Wohl und Wehe unserer Kinder werden durch sie bestimmt. Es ist so einfach hindurchzuschauen, wenn Sie sich nicht durch Schlagworte, durch Begriffe oder Parteinamen irre machen lassen. [] Die Sozialdemokratie hat niemals ihren Namen zuändern brauchen, um zu täuschen, sie hält an ihrem Grundsatz "Soziale Gerechtigkeit" fest. Sie ist entstanden aus der Rechtlosigkeit des arbeitenden Menschen. Ihm ein menschenwürdiges Leben zu verschaffen, war und bleibt ihre ureigenste Aufgabe. Sie ist es heute wieder. - Sie will einen sozialen Staat, in dem jeder Mensch nach seinem Glauben und nach seiner Art in Freiheit leben kann. Sie will ein lebensfähiges Deutschland, das im friedlichen Aufbau wieder ein Glied in einem friedlichen Europa sein kann. Sie will, daß der Mensch endlich einmal wieder das Maß aller Dinge und nicht das Objekt irgendwelcher wirtschaftlicher oder politischer Machtgruppen wird, - [] Ich wende mich besonders an die Frauen. Sie haben immer die Hauptlast der großen Notzeiten getragen. Ihnen ist es mit zu danken, wenn die schweren Erschütterungen der vergangenen Zeiten nicht noch schlimmere Schäden in Ihren Familien angerichtet haben. - Wir lieben unsere Kinder, wir wollen endlich einmal soziale Gerechtigkeit, ein Leben ohne Angst und eine friedliche Zeit! Die Sozialdemokraten sorgten dafür, daß die Frau 1918 die staatsbürgerliche Gleichberechtigung erhielt - ihre Wahlentscheidung wiegt so schwer wie die des Mannes -, jetzt aber, in dem neuen Grundgesetz von Bonn, haben sie auch die Gleichberechtigung im Zivilrecht verlangt und durchgesetzt, die die Frau in der Familien- und Eherechtsprechung dem Manne ebenbürtig macht. - Die Frauen haben in schweren Kriegsjahren gezeigt, daß sie Kraft und Verantwortungsgefühl hatten. Wir Sozialistinnen erhoffen von ihr das gleiche beim friedlichen Neuaufbau unserer zerstörten Gesellschaft. - [] Ich selbst bin eine Hausfrau und Mutter und mußte durch all die Nöte gehen, die die vergangenen Jahre uns aufgezwungen haben. Ich möchte, daß gerade die Schutzlosesten - die Frauen, die jungen Menschen, die Arbeitenden im deutschen Volk - nicht noch einmal unter der Last der Sorgen und Nöte zusammenbrechen, daß sie sich mit der deutschen Sozialdemokratie verbinden zu einem Deutschland in Frieden, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit! Dann brauchen wir um die Zukunft nicht zu bangen. [] Mit freundlichem Gruß [] Irma Keilhack [] Wahlkreis V, Kandidat der SPD: Irma Keilhack [] Stadtteile: Wandsbek, Tonndorf, Jenfeld, Bramfeld, Steilshoop, Farmsen, Rahlstedt, Metendorf, Volksdorf, Sasel, Wellingsbüttel, Hummelsbüttel, Poppenbüttel, Bergstedt, Lemsahl-Mellingstedt, Wohldorf-Ohlstedt und Duvenstedt. [] Herausgeber: Irma Keilhack, Hamburg 36, Gr. Theaterstr. 44 [] Druck: AUERDRUCK GmbH., EP 36, Hamburg 1, Pressehaus
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