Offener Brief an den Herrn Bundeskanzler

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Offener Brief an den Herrn Bundeskanzler. [] Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! [] Der Brief, den Sie trotz Ihrer Überlastung im Wahlkampf an uns, alle Ihre lieben Landsleute, gerichtet haben, ist wirklich so lieb und gut, daß er keinesfalls u...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Neue Presse GmbH, Coburg
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 06.09.1953
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/8AB9C5B0-BACD-4CC4-A701-8FC4F2FA2528
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Offener Brief an den Herrn Bundeskanzler. [] Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! [] Der Brief, den Sie trotz Ihrer Überlastung im Wahlkampf an uns, alle Ihre lieben Landsleute, gerichtet haben, ist wirklich so lieb und gut, daß er keinesfalls unbeantwortet bleiben darf. [] Sie führen unsere Gefühle mit so sanftem Wellenschlag über die Klippen unserer nicht immer leichten Lebensfahrt hinweg: Sie lassen die kleinen Inseln der Hoffnung und Vertröstung auf eine bessere Zukunft so freundlich aufleuchten, daß einem das Herz aufgehen muß bei Ihrer väterlichen Zuneigung zu uns allen. [] Wirklich, so spreche ich auch immer zu meinen Kindern, wenn ich will, daß sie einschlafen! [] Der Kanzler schüttelts Bäumelein, [] da fällt herab ein Träumelein ... [] Aber vielleicht sind wir doch keine Kinder mehr? Vielleicht haben auch uns Frauen die furchtbaren Notjahre so wachgerüttelt, daß es uns gefährlich erscheint, sanft eingelullt zu werden? Kurz, wir hätten uns schon für mündig befunden, den Realitäten gegenübergestellt zu werden, über die in einer viel weniger sanften Sprache draußen im Wahlkampf Abrechnung gehalten wird. Sprechen wir also miteinander von Realitäten! [] Sie reden uns gut zu, daß wir "im Durchschnitt alle wieder einen besseren Standard erreicht haben?" Sicherlich, - aber es scheint uns, daß der Reichtum derer, die weit über diesem Durchschnitt liegen, jene andern nicht satt macht, die so tief darunter liegen, daß Ihr Bulletin vom Mai 52 feststellte, daß "heute 18 % der Bevölkerung nicht mehr in der Lage sei, sich so zu ernähren, wie es zur Erhaltung ihrer Gesundheit und Leistungsfähigkeit notwendig sei." [] Wir beneiden die 300 Millionäre Ihrer Wirtschaft gar nicht, die "vielleicht vor den andern etwas voraus haben". Sie müssen ja wohl auch ihre Sorgen gehabt haben, ehe Ihr Finanzminister ihnen kürzlich wieder 100000 DM Steuererlaß bescherte! Uns erbarmen nur die armen Rentenempfänger mit rund 80 DM Monatseinkommen, denen derselbe Finanzminister zur gleichen Zeit eine Rentenerhöhung ablehnte. [] Wir verstehen den Zorn unserer Kriegsversehrten, denen Ihr Justizminister, Herr Dehler, damals unterstellte, zwei Drittel von ihnen hätten ihre Renten erschwindelt. Warum, Herr Kanzler, riefen Sie Ihren Justizminister da nicht zur Ordnung? Warum regten Sie Ihren Finanzminister nicht an, statt des Steuererlasses für die Oberschichten lieber den Ärmsten der Armen, jenen 18 % am Wege Liegengebliebenen, ein menschenwürdigeres Dasein zu ermöglichen? [] Warum sprechen Sie in so linden, entschuldigenden Tönen von den "wenigen" Arbeitslosen im Bundesgebiet? Ist Ihnen unbekannt geblieben, daß Ihr Wirtschaftsminister, Prof. Erhard, ganz offen die mehr als 1 Million Arbeitslosen im Sommer als ein "lohnregulierendes Element" bezeichnete? Weiß dieser kaltherzige Politiker nicht, was für ein schreckliches Stück Schicksal die Arbeitslosigkeit für unsere Familien bedeutet, die Sie in Ihrem Brief so liebevoll ansprechen? Was der Mangel am Notwendigsten für die Gesundheit und das Wachstum unserer Kinder ausmacht, was an Unfrieden für die Familie? - Und was das Gefühl, vom tätigen Leben als überflüssig beiseite geworfen zu werden, für einen arbeitsfähigen Mann an Demütigung und Lebensunsicherheit umschließt? [] Und wie verantwortet es Ihre gesamte Regierung, daß die Freie Wirtschaft den armen Lazarus so, wie wir es hier aufgezeichnet haben, am Wege liegen ließ, nachdem sie angeblich vor vier Jahren zur Rettung des christlichen Abendlandes auszog? Ihr Wirtschaftsminister, Prof. Erhard, hat seinen Grundsatz in wahrhaft brutaler Offenheit in Fürth mit dein Worten ausgedrückt: "Mir sind in der Wirtschaft die Hechte lieber als die Karpfen." [] Wie, Herr Kanzler, verträgt sich dieses Wort mit Ihrem christlichen Gewissen? [] Wir, die Millionen Frauen, in deren Verantwortung die Sorge und die Betreuung unserer Menschen gelegt ist, möchten Ihnen und Ihren Ministern mit dem Bibelwort aushelfen: "Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel." Jenen Willen, der sagte: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" [] Es könnte aber auch sein, daß nicht alle, die den Nächsten unter die Raubhechte fallen ließen, wieder auf Ministersessel kommen! [] Wir wählen die Partei, die in diesen 4 Jahren der letzte Wall war vor den Rechten der Rechtlosen: [] Der letzte Wall vor den Löhnen der unteren Schichten, der letzte Schutz für die Rechte der Kriegsversehrten, der Kriegerwitwen, der Arbeitslosen! [] Wir wählen SPD! [] Eine Hausfrau und Mutter! [] Druck: Neue Presse GmbH., Coburg
Published:06.09.1953