Sind das noch Menschen?

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Sind das noch Menschen? [] Zur Frauenwerbewoche Weser-Ems 1948 [] Hoch und schrill steigt dieser Schrei einer Frau über den Hof des Entlassungslagers. In der grauen Reihe zerlumpter russischer Heimkehrer, die sich müde zur Tür des Untersuchun...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Jade-Druck GmbH
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: ca. 1948
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/49B771F2-17C4-46B8-A9F0-72AA43AA96A5
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Sind das noch Menschen? [] Zur Frauenwerbewoche Weser-Ems 1948 [] Hoch und schrill steigt dieser Schrei einer Frau über den Hof des Entlassungslagers. In der grauen Reihe zerlumpter russischer Heimkehrer, die sich müde zur Tür des Untersuchungszimmers schiebt, hat sie ein Kind entdeckt, einen etwa zwölfjährigen Knaben. Taumelnd torkelt er an der Hand eines langen Soldaten vorwärts, aber eben jetzt lassen die mageren, zitternden Kinderfinger den Griff los, und der Junge sackt lautlos in sich zusammen. Auf den Ruf der Frau eilt ein Krankenwärter herbei und trägt die leblose kleine Gestalt auf den Armen ins Krankenrevier. Kraftlos pendeln die lumpenbewickelten Füßchen, die Kniegelenke an den nackten, abgezehrten Kinderbeinen sind krankhaft verdickt. Der lange Soldat hat eine Bewegung gemacht, als wollte er ihn zurückhalten, den schutzlosen kleinen Gefährten seiner letzten Fahrtwoche, dieses heimat- und elternlose Kind aus Ostpreußen, dessen Vater auf dem eigenen Hof erschossen wurde, dessen Mutter auf dem Transport ins Innere Rußlands starb. Aber schon huscht über sein Gesicht das bitter Wissende Lächeln, mit dem sie dort in der Gefangenschaft eine Ihrer Hoffnungen nach der andern begruben. Dreimal war ihr Heimkehrertransport zusammengestellt worden, zweimal wieder aufgelöst. Noch auf dem Bahnsteig vor dem fahrtbereiten Zug waren zwei seiner Kameraden wieder ins Lager zurückgeholt worden. Gründe gab der Russe niemals an. Das zermürbte die Seele, das tötete jeden Lebenswillen. [] Der lange Soldat ist jetzt an der Reihe, die Kleider abzulegen. Er tritt nackt vor den Arzt. Der weicht einen Schritt zurück, unwillkürlich nimmt er die Worte auf, die vor einer Viertelstunde über den Hof schallten: "Sind das noch Menschen?" Er betrachtet kopfschüttelnd die abgesunkenen Schultern, die völlig muskellosen Oberarme, das lückenlos sichtbare Knochengestell, über dem die Haut faltig und zäh herabhängt wie altes gegerbtes Leder. Unglaubhaft ist das gänzliche Fehlen von Fleisch am Gesäß, die frei herausstehenden Schalen der beiden Beckenknochen. Kann aus solch einem Gerüst überhaupt wieder ein arbeitsfähiger Mensch werden? Sein Blick überfliegt die Reihe der Elendsgestalten: Werden daraus noch einmal Männer - zeugungsfähige Männer? Der Arzt diktiert: 1,78 m; 51 kg. "Das ist der Schlimmste", sagt er. Der junge Assistenzarzt schüttelt den Kopf: "Drüben im Krankenrevier die drei Frauen sind noch viel schlimmer." Man hält einen solchen Grad von Heruntergekommenheit überhaupt nicht für möglich. Für die Frau aus Bischofsburg würde kein Arzt einen Heller geben, aber ihr Wille hält sie. Die Russen haben sie vom Abendbrottisch weg von ihren drei Kindern fortgenommen und bis nach Sibirien verschleppt. Ihre innere Verstörtheit ist unbeschreiblich, aber sie will leben, um die drei Kinder zu suchen. [] "Sind das noch Menschen", schreit der junge Arzt plötzlich heraus, "die Menschen solches antun?" [] Dies ist das Erbe einer liberalen Wirtschaftsepoche, in der das [] "Freie Spiel der Kräfte" [] nur dem Starken ein Recht auf das Leben zuerkannte. [] Der Stärkere nur konnte wieder den Starken überwinden. So entstand, im Ringen um den Besitz der Rohstoffquellen und Absatzgebiete der Welt ein Wettrüsten, an dem allein die Kapitalisten verdienten, das aber die Schaffenden aller Völker bezahlen mußten, bezahlen mußten mit ihrer Arbeit, ihrem Schweiß und ihrem Leben. Denn das Wettrüsten wäre ja sinnlos gewesen, wenn es nicht dem Zwecke der Kriegsführung gedient hätte, und für das Kriegführen gab diese "Gesellschaftsordnung" gern und willig mehr Geld aus, als für den Frieden. [] Die Vernichtung menschlichen Lebens und die Zerstörung der Sachwerte waren für diese "Gesellschaftsordnung" ein einträglicheres Geschäft, als die Erhaltung des Lebens, die Vermehrung der Güter und die Förderung von Bildung und Kultur. [] Hitler hatte 1939, nach eigener Angabe, 90 Milliarden Mark in die Rüstung hineingesteckt. [] Hätte er diese Summe verwandt, den Wohlstand im Lande zu heben und friedliche Handelsbeziehungen mit der Welt anzuknüpfen, anstatt sie zu zerreißen, er hätte dem Volke und der Welt das heutige Elend erspart. [] Doch hinter ihm standen die Träger einer Gesellschaftsordnung, deren Geschäfte er besorgte, die ihn finanzierten und freudig und frenetisch seine Anfangserfolge bejubelten. [] "Besitz und Geld" waren die Kräfte dieser Gesellschaftsordnung, und staats- und wirtschaftspolitische Macht ihre Ziele. [] Der Mensch gilt nichts. [] Besitz und Macht sind ihnen alles. Das ist die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung, die keine demokratische Mitbestimmung des Volkes will; die nur formal demokratische Freiheiten gelten läßt, aber eine soziale oder Wirtschaftsdemokratie ablehnt. [] Wo aber die sozialen und humanitären Kräfte unterdrückt werden, muß das Menschentum unterliegen. [] So ist es kein Wunder, daß im Staate Hitlers die gleichen Methoden und Anschauungen gelten wie im totalitären Rußland. [] Auch hier gilt der Staat alles und der Einzelne nichts. [] Aus dieser Unterbewertung des Einzelmenschen ergeben sich die in den vorstehenden Bildern wiedergegebenen Grausamkeiten wider des Menschen Würde. [] So kehren nun die Opfer Hitlers und des Großkapitals aus jahrelanger Knechtung heim. [] Verhungert, unterernährt, zerschunden an Leib und Seele. [] Und wir? [] Wir sollten daraus die Pflichten erkennen, die uns aus solcher Schuld erwachsen. Wir sollten helfen, mildern, lindern all die Not und das Elend einer solch unmenschlichen Zeit. [] Aber auch sollten wir daraus lernen, künftig die politische Macht denen zu entreißen, die uns in dieses Elend gebracht haben, denen noch heute: Macht, "Besitz und Geld" höher steht als der Mensch. [] Dabei ist die Frage, wo und in welchem Lande die Schuldigen sitzen, völlig gleichgültig. [] Wir Sozialdemokraten aber fragen weiter: Sind das die Vertreter einer neuen Ordnung. einer neuen inneren Gerechtigkeit, um deren willen das Deutschland der Gewalt zerschlagen werden mußte? Soll Haß immer weiter mit Haß vergolten werden, Gewalt immer wieder mit Gewalt? Soll die alte sittliche Menschheitsforderung wieder zunichte werden, um deretwillen Tausende unserer sozialistischen Brüder unter Hitler in den Kz.s gelitten haben, für die Hunderte in den Tod gegangen sind? [] Ehrfurcht vor dem Leben! [] Achtung vor der Menschenwürde! [] garantiert allein die [] SPD [] Jade-Druck GmbH., CDH/ 940. Wilhelsmhaven, 777/ 12000 4.48 (Kl. C)
Published:ca. 1948