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Oberhausen, im Juni 1954 Westmarkstraße 27 [] An die Wähler des Wahlkreises Oberhausen-Süd [] Sehr geehrter Wähler! Als Kandidat der Sozialdemokratischen Partei für den neu zu wählenden Landtag Nordrhein-Westfalen im Wahlkreis Oberhausen-Süd stelle ich mich hiermit vor und bitte Sie freundlichst, mir am 27. Juni Ihre Stimme zu geben. Ich bin gebürtiger Westpreuße, 56 Jahre alt, verheiratet und habe drei Kinder. Meine Eltern bewirtschafteten mit ihren zehn Kindern eine kleine Landwirtschaft. Mit dem großen Sog der Abwanderung der Ostbevölkerung nach dem Westen kam ich 19,20 ins Ruhrgebiet und wurde Bergmann. So ist mir auch das heutige Schicksal der Ostvertriebenen einigermaßen vertraut. Aus dem Bergarbeiterberuf kommend, schlug ich die gewerkschaftliche Laufbahn ein und betätige mich seit zwei Jahren überwiegend im Wohnungsbau. Dem Landtag Nordrhein-Westfalen gehöre ich ununterbrochen seit 1946 an, ebenso der Stadtvertretung Oberhausen. Diese kurzen Angaben über meine Herkunft und meine soziale Stellung sind für Sie, verehrter Wähler, wichtig, weil Sie sich bei Ihrer Stimmenabgabe nicht nur für das Programm einer politischen Partei entscheiden. Sie wollen auch wissen, ob Ihr Kandidat die Voraussetzungen verbürgt, Ihr politisches Wollen zu erfüllen, denn bei der Wahl geht es um Ihre politischen Interessen. Bei dem verhältnismäßig geringen Kontakt, der heute leider zwischen den Wählern und dem Abgeordneten besteht, dazu der schnellebigen Zeit und der Vielzahl der Tagesprobleine, muß ein Abgeordneter eine reiche Lebenserfahrung haben, um die Interessen seiner Wähler erfolgreich vertreten zu können. Sie kennen die Verschiedenartigkeit der Interessen der Wähler selbst und wissen, daß sie bei einem Renten- und Unterstützungsempfänger schon anders liegen, als bei seinem noch im Beruf stehenden Arbeitskameraden. Noch vielschichtiger sind sie zwischen den Ständen der Arbeitnehmer, dem Handwerk, Handel und Gewerbe. Und dennoch müssen diese Interessen bei der Gesetzgebung auf einen Nenner gebracht werden. Das ist die Kunst der Politik. Diese Kunst ist jedoch gar nicht so schwer, wenn man selbst einen politischen Standort hat. Ich bekenne mich zu dem Standpunkt, bei allen Entscheidungen immer von dem Leitgedanken auszugehen, dem sozial Schwachen zu helfen. Sozial Schwache gibt es nicht nur von Beruf zu Beruf, von Stand zu Stand, sondern auch innerhalb der einzelnen Berufe und Stände. Hier gilt es, einen gerechten Ausgleich zu finden. So ist denn die soziale Gerechtigkeit ein weiterer Ausgangspunkt einer politischen Haltung und gerechter Entscheidungen. Wir alle sind unterschiedlich in unserem Denken, das weitgehend diktiert wird von unserem gesellschaftlichen Stand. Jeder Mensch aber hat seine Daseinsberechtigung. Neben der Absicht, das politische Programm der Sozialdemokratischen Partei - das ich Ihnen hier nicht vortragen wollte - zu verwirklichen, ist es also mein Bestreben, jeden Bürger in seiner Daseinsberechtigung zu fördern und ihm zu helfen, wo immer es möglich ist. Meine Bitte an Sie ergeht daher dahin, mir durch Ihre Entscheidung am 27. Juni die Möglichkeit zu geben, diese Ziele zu verwirklichen! Wenn Sie sich so entscheiden, dann machen Sie Ihr Kreuz in die Spalte 2 des Wahlzettels. Hochachtungsvoll! H. Jochem [] Postwurfsendung [] An alle Haushaltungen
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