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Handelspolitische Flugblätter der "Nation" [] Nr. 5. [] Getreidezölle und das Jahresbudget einer Arbeiterfamilie. [] Getreidevertheuerung wird eingestandenermaßen angestrebt. [] Die neuesten offiziellen Forderungen unserer Agrarier sind folgende: mit Ablauf der Handelsverträge soll in keinem Falle von fremdem Weizen und Roggen weniger als 6,50 Mark pro Doppelzentner erhoben werden. Staaten, denen wir nicht besonders hold sind, soll ein Zoll von 8 Mark auf Brotgetreide angedroht werden. Bisher wurde gegenüber allen Ländern mit namhafter Getreideausfuhr 3,50 Mark pro Doppelzentner Brotgetreide erhoben. [] Diese Erhöhung der Getreidezölle auf 6,50 bezw. 8 Mark, wie sie in einer Kommission des wirthschaftlichen Ausschusses nach Zeitungsmeldungen gefordert sein soll, ist jedoch vom Standpunkt der Vollblutagrarier eigentlich noch viel zu wenig. Hatte doch die ständige Kommission des preußischen Landes-Oekonomie-Kollegiums im August 1900 für Brotgetreide nicht weniger als 7,50 Mark Minimalzoll, bezw. 9 Mark Maximalzoll verlangt. [] Die Motivirung ist dieselbe, mag man nun Verdoppelung der heutigen Getreidezölle mit 50 Pf. Rabatt oder 50 Pf. Aufschlag zu 7 Mark fordern: die Preise des Brotgetreides - sagt man - seien heute viel zu niedrig. Das sei ein Unglück. Man behauptet gar nicht einmal mehr, daß Deutschland auch bei erhöhten Getreidezöllenn billig mit Korn versorgt werden könne. Die alte Redensart, daß das Ausland in jedem Falle den Zoll trage, ist durch die neuere Entwicklung zu stark erschüttert, um noch Anhänger zu finden. [] Die Agrarier wollen, kurz gesagt, daß der Weizen nicht unter 202,50 Mark pro Tonne, der Roggen nicht unter 162,50 Mark pro Tonne in Deutschland sinke. Da bleibe ein bescheidener Gewinn. Denn erst bei etwa 180 Mark pro Tonne sei die preußische Weizenproduktion, bei 150 Mark pro Tonne die preußische Roggenproduktion in der Lage, eben noch zu rentiren. Dies hat Graf Schwerin Namens des preußischen Landes-Oekonomie-Kollegiums als Meinung der Landwirthe dem Minister übermittelt. [] Die wünschenswerten Zölle werden von unseren Agrariern berechnet, indem sie fragen, um wie viel die wirklichen Preise der letzten Zeit hinter den wünschenswerthen Preisen zurückbleiben, woraus dann der Betrag des erwünschten Zolles durch Berechnung der Differenz des Weltmarktpreises und des erstrebten höheren deutschen Preises ermittelt wird. [] Wer die Zollpolitik so einrichten will, daß Weizenpreise von mindestens 202,50 Mark und Roggenpreise von mindestens 162,50 Mark in Deutschland herrschen, der darf kein Wort mehr erwidern, wenn man ihm entgegenhält: Ihr seid auf Verteuerung des Getreides bedacht. Die Agrarier behaupten aber, daß Getreidevertheuerung nicht mit Brotvertheuerung gleichbedeutend sei. Wie verhalten sich die Thatsachen? [] Getreidevertheuerung ist Brotvertheuerung. [] In einem Laib Brot sind auch außer dem Preis des Getreides bezw. Mehls, welches verwendet wurde, mancherlei Kosten enthalten, die der Konsument dem Bäcker vergüten muß. Gerade so wie im Preise eines Pfluges auch andere Kosten enthalten sind, als die des Eisens, woraus der Pflug hergestellt ist. Aber so wenig die Pflüge ebenso billig wie bisher geliefert werden können, wenn der Eisenpreis sich verdoppelt, so wenig kann das Brot in derselben Gewichtsmenge und Qualität wie bisher geliefert werden, wenn der Getreidepreis dauernd verteuert ist. Es müßte denn gleichzeitig eine große - Kosten sparende - Umwälzung im Mühlen- und Bäckergewerbe sich vollziehen. Gegen eine solche Umwälzung würden aber voraussichtlich unsere Mittelstandspolitiker alsbald ein besonderes Gesetz machen. [] Es ist eine der konventionellen - Abweichungen von der Wahrheit -, wenn die Anhänger höherer Getreidezölle jeden einen Narren oder einen Verleumder nennen, der sie für Brotvertheuerer erklärt. Freilich die Städter selbst haben hieran vielfach mit Schuld. Man verhüllt beim Brotverkauf vielfach die Preis-änderungen durch Gewichtsänderungen bei gleichbleibendem Preise. Man veröffentlicht ferner in vielen Städten Statistiken über die Brotpreise, die ganz werthlos sind. Brauchbar sind die Brotpreis-Ermittlungen bloß da, wo das gekaufte Brot nachgewogen und dann der Preis pro Kilo ausgerechnet wird, wie es in Berlin und Breslau geschieht. [] In dem Preise für ein Kilo Roggenbrot stecken folgende Einzelposten: [] 1. Getreidepreis, []2. eventueller Gewinn des Getreidehändlers und Fracht, [] 3. Selbstkosten und Gewinn des Müllers, [] 4. Transport des Mehls zum Bäcker, [] 5. Aufschlag des Müllers für den Zinsverlust infolge verspäteter Zahlung des Bäckers, [] 6. Backkosten, Ladenmiethe und Gewinn des Bäckers, [] 7. hierzu kommen beim Weizenbrot vielfach noch die Kosten des Transports vom Bäcker zum Konsumenten. [] Die Vergleichung zwischen Getreidepreis und Brotpreis ist um so verwickelter, da es sich vielfach nicht um reines Roggenbrot und reines Weizenbrot in der Praxis handelt. Das gewöhnliche Hausbrot des Städters wird oft aus Mischungen von Roggenmehl und geringeren Weizenmehlsorten hergestellt. Die Mehlpreise schwanken außerdem dadurch, daß bei hohen Kleiepreisen der Müller mit weniger Mahllohn sich zufrieden geben kann, während er bei unrentablen Kleiepreisen sich am Mehlpreiseallein schadlos halten muß. [] In den Selbstkosten des Bäckers ist insbesondere beim Weizenbrot eine große Bescheidenheit vorhanden [...Text unleserlich...] vielfach klebearmes deutschen Mehl, wenn es schlecht beim Backen ausgiebt, ungarisches oder sonstiges klebereiches ausländisches Mehl zugesetzt werden muß oder nicht. [] Das Ergebnis ist: der Getreidepreis ist nicht der einzige Preisbestimmungsgrund beim Brot: aber Brot kann nicht billig geliefert werden, wenn das Getreide theuer wird. Freilich dauert es gewöhnlich ein Vierteljahr, bis der Preisaufschlag des Getreides im Brotpreis zum vollen Ausdruck kommt. Denn die Bäcker verbacken Zunächst noch billig erworbenes Mehl und zögern angesichts des drohenden Unwillens und der Schwierigkeiten des Absatzes theureren Brotes lieber noch ein paar Wochen mit dem Preisaufschlag. Umgekehrt sinkt bei sinkendem Getreidepreis der Brotpreis nur langsam und weit später, als der Großhandelspreis für Getreide. Ueberhaupt wird jede Veränderung des Getreidepreises erst mittelbar wirksam, wenn die Mehlpreise sich geändert haben. Aber auch dann nicht sofort, vielmehr erst in dem Augenblick, wenn die Konkurrenz den Bäcker dazu zwingt, mit dem Brotpreis herabzugehen, bezw. das Gewicht des Brotes zu vergrößern. [] Wer noch zweifelt, dem mag folgende, von C. Hirschberg in Conrads Jahrbüchern 1899. III. Folge, Bd. 17. S. 255 für Berlin mitgetheilte Zusammenstellung die Augenöffnen: [... Tabelle...] [] Ein Roggenpreis von 21.12 Mark, wie 1891 im Durchschnitt, bedeutet demnach, daß das 50 Pfennigbrot 1,58 Kilo wiegt. Ein Roggenpreis von 11,77 Mark, wie 1894 im Durchschnitt, bedenkt, daß das 50 Pfennigbrot 2,45 Kilo schwer geliefert wird. [] Ein Roggenpreis von 15,55 Mark, wie er unseren Agrariern durchaus noch nicht genügt, bedeutet, daß das 50 Pfennigbrot 2,02 Kilo Wiegt oder daß ein Hausvater, der sammt Familie 4 Pfund Brot pro Tag verzehrt, täglich 49 Pfennige aufwenden mutß. Bei dm Preisen des Jahres 1894 hatte die Familie für 4 Pfund Brot nur 41 Pfennig aufzuwenden. 4 Mark Preissteigerung pro 100 Kilo Roggen bedeutet mindestens 4 Mark Preissteigerung pro 100 Kilo Brot, also bei einem Tagesverbrauch von 2 Kilo Brot eine Mehrbelastung von 8 Pfennig. Wer dies nachprüfen will, vergleiche nur die Preise von 1894 und 1889. In Notjahren - wie 1891 und 1892 - steigt der Brotpreis noch stärker als um 1 Mark pro 1 Mark Roggenpreis. [] Der Minimalzoll von 7,50 Mark, wie ihn Graf Schwerin-Löwitz Namens des preußischen Landes-Oekonomie-Kollegiums statt des heutigen Vertragszolles von 3,50 Mark fordert, bedeutet demgemäß, daß ein Haushalt mit 2 Kilo Brotverbrauch täglich an den Fiskus oder an deutsche Agrarier um 8 Pfennig mehr Tribut zahlen mutß, als wenn der Zoll auf 3,50 Mark belassen wird. [] Einem armen Arbeiter, dessen Kinder in der Schule aus Gemeindemitteln eine warme Suppe empfangen haben, die vielleicht 6 Pfennig werth war, wird das Wahlrecht entzogen, weil er Armenunterstützung empfange. Ein Grundbesitzer, der 1000 Doppelzentner Roggen verkauft und bisher durch den Getreidezoll von 3,50 Mark schon 3500 Mark mehr erlöst, als bei Freihandel zu zahlen wäre, soll nun durch agrarische Agitation dahin kommen, daß er pro Doppelzentner 6,50 bis 7,50 Mark über den Weltmarktpreis bezahlt bekommt. Dies heißt, er soll auf Kosten des Volkes, und vornehmlich der Aermsten, eine Mehreinnahme von 6500 bis 7500 statt von 3500 Mark durch die Schutzzollpolitik garantirt bekommen. Und während der mit einer Suppe für seine Kinder unterstützte Arbeiter das Wahlrecht verliert, ist der von jedem Arbeiterhaushalt bei täglich 2 Kilo Brotkonsum bisher täglich mit 7 Pfennig unterstützte und künftig mit 15 Pfennig zu unterstützende Grundbesitzer ein gar einflußreicher Mann, eine Stütze des Staats. Er wählt nicht nur selbst, er sorgt auch mit väterlicher Strenge dafür, daß die politisch Unmündigen am dem Lande die von ihm empfohlenen gesinnungstüchtigen agrarischen Vertreter wählen. [] Die guten Rebenzwecke der Agrarier. [] Würden pro Arbeiterhaushalt täglich in baar bisher 7 Pfennige zur direkten Unterstützung derjenigen Grundbesitzer, die Getreide verkaufen, erhoben worden sein und würde die Forderung aufgestellt, diesen Beitrag auf täglich 15 Pfennig zu erhöhen, dafür aber Brotgetreide zollfrei hereinzulassen, so wäre der Arbeiter nicht schlimmer belastet als beim Schutzzollsystem. [] Aber die Sache würde schlecht aussehen. Erstens würde das Einkassiren der Arbeitergroschen kein beneidenswertes Geschäft sein. Zweitens würde bei der Vertheilung zu sehr offenkundig, daß der Bauer, der wenig Getreide verlauft, nur ein Paar Groschen, der Großgrundbesitzer aber, soweit er wenig Viehwirthschaft und überwiegend Getreidebau treibt, einige tausend Mark Subvention bekomme. [] Viel dankbarer ist es, in Form des Zolles denselben Effekt herbeizuführen und dabei dem Fiskus eine Gewinnbetheiligung zuzugestehen, indem für das importirte Getreide ihm reichliche Millionen zustießen, während der Preisaufschlag auf das deutsche in Deutschland konsumirte Getreide dem Grundbesitzer zu Gute kommt. [] Wie viele Mißbräuche des Privaten Wirtschaftslebens sind schon als sittlich angesehen worden, wenn der Fiskus mit daran interessirt wurde! Man kann dann als braver Patriot sagen: Wir selbst würden gerne den Zoll opfern, aber woher soll das Reich das nötige Geld nehmen, wenn die Getreidezölle nicht wären! Allerdings hat kein einziger Volkswirth von Ansehen je den Muth besehen, die Fundirung des Staatshaushalts auf Getreidebesteuerung, die wie eine Kopfsteuer wirkt, als etwas rationelles und bei guten Finanzen erstrebenswerthes zu bezeichnen! [] Freilich da kommen die Gemüthsmenschen und empfehlen: die Mehreinnahme aus erhöhten Getreidezöllen solle ihres Odiums beraubt werden, indem man diese Mehreinnahme zu einem guten sozialpolitischen Zweck, z. B. zum Ausbau der Arbeiterversicherung, verwende. [] Es sind dies gute Menschen, aber schlechte Rechner. Würde alles Brotgetreide - so wie es beim Reis geschieht - vom Auslande bezogen, dann flösse die durch Zollerhöhung bewirkte Vertheuerung dem Reich und den Zwecken, die man im Auge hat, voll zu. Aber von den 10 Millionen Tonnen Brotgetreide, deren mindestens die 56 Millionen Deutsche der Gegenwart für ihre Ernährung bedürfen, werden nur etwa 1390 000 bis 2 290 000'Tonneu durch Mehreinfuhr beschafft. Mindestens 5 bis 6 Millionen Tonnen müssen von demjenigen Theile der deutschen Bevölkerung, der selbst gar kein Getreide baut, aus der inländischen Produktion gekauft werden. Der Rest der heimischen Produktion kommt allerdings nicht in den Handel, sondern wird für menschliche und thierische Ernährung u. f. w. in landwirtschaftlichen Produzentenkreisen verbraucht. [] Nicht nur das importirte, sondern auch das den deutschen Landwirthen von der nichtlandwirthschaftlichen Bevölkerung abgekaufte Getreide vertheuert sich aber mindestens um den vollen Zollbetrag, seitdem das Ausfuhrbegünstigungssystem 1894 eingeführt wurde. Jedesmal, wo durch Zollerhöhung auf Weizen und Roggen dem Reich 10 Millionen Mark mehr zufließen und für einen sozialpolitischen Zweck verwendet werden, da fließen für die im Inland Produzirte und zu Markt gebrachte Waare mindestens 20 Millionen mehr den Getreide verkaufenden Grundbesitzern zu. [] Um also eine Sozialpolitik zu unterstützen, für die höchstwahrscheinlich die deutschen Arbeiter gar nicht stimmen werden, soll eine Mehrbelastung übernommen werden, die nur zu einem Viertel dem Reiche, zu drei Vierteln den Grundbesitzern Zufließt. [] Und wenn es gelänge, den Import zu verringern und durch die Zollpolitik den Getreidebau zu steigern, dann flösse noch mehr den Agrariern und noch weniger der Reichstasse für sozialpolitische Zwecke zu! Die Beschönigung erhöhter Getreidezölle durch sozialpolitische Verwendung der Zolleinnahmen ist dasselbe, als wenn jemandem die Wohlthat aufgezwungen wird, daß er selbst 4 Mark bezahlen muß, damit ihm 1 Mark Guthaben gutgeschrieben werde, 3 Mark aber an seine politischen Gegner vertheilt werden können! [] Soziale Wirkungen der Getreidezollerhöhung. [] Der Betrag, um welchen jede Mark Getreidezoll das 4 Pfundbrot, den täglichen Mindestbedarf einer fünfköpfigen Arbeiterfamilie, vertheuert, wurde bisher zu 2 Pfennig auf Grund der Berliner Brotpreisstatistik berechnet. Dementsprechend gesteht auch eines der bestgeleiteten, aber leider agrarzollfreundlichen Centrumsblätter, die "Kölnische Volkszeitung" zu, daß eine Erhöhung des Getreidezolles von 3,50 auf 5 Mark den täglichen Brotbedarf einer Arbeiterfamilie um 3 Pfennig vertheuern könne. Es giebt jedoch auch andere Methoden der Berechnung, aus denen hervorgeht, daß wahrscheinlich die Belastung noch höher ist. [] Herr v. Scheel kommt in der Schrift: "Die deutsche Volkswirtschaft am Schlusse des 19. Jahrhunderts" S. 44 u. 198 zu der Schätzung, daß im Durchschnitt 1880-1898 in Deutschland pro Kopf 178,8 Kilo Brotgetreide für menschliche Ernährung gebraucht wurde, nämlich 105,9 Kilo Roggen, 9,6 Kilo Spelz und 63.3 Kilo Weizen. [] Dieser hervorragende Statistiker stellt das Ernteergebniß mit der Mehreinfuhr zusammen, zieht den Saatbedarf ab und schätzt, daß ein Viertel der berechneten verfügbaren Roggenmenge und ein Zehntel des Weizens für andere Zwecke als die der menschlichen Ernährung verwendet worden sei. Wenn auch die Ergebnisse der Erntestatistik und die Schätzungen der verfütterten Mengen, sowie des Bedarfs der Kornbranntweinbrennerei, der Weizenstärkefabrikation u. f. w. recht unsichere fein müssen, so ist es doch nach physiologischen Erfahrungen nicht unwahrscheinlich, daß die Schätzung des Herrn v. Scheel mit 178,8 Kilo durchschnittlichem Bedarf pro Kopf ziemlich nahe der Wirklichkeit bei dem heutigen Ernährungssystem der deutschen Bevölkerung kommen dürfte. Für 5 Köpfe macht 178,8 mal 5 einen Jahresbedarf von 894 Kilo aus. Dies bedeutet bei 3.50 Mark Zoll eine Belastung von 31 Mark 29 Pfennige pro Familie. [] Bei unserer bisherigen Annahme von täglich 4 Pfund Brotkonsum würde nach der Berliner Berechnung von E. Hirschberg die Belastung nur 25,55 Mark. bei 3,50 Mark Zoll bisher betragen. Aber es ist zu bedenken, daß außer dem Brotkonsum noch der Verbrauch an Backmehl im Haushalt durch den Getreidezoll belastet wird. Dieser ist natürlich örtlich verschieden; mit Rücksicht auf die Fastenvorschriften ist er gerade in den katholischen Theilen Deutschlands, wo an jedem Freitag Fische oder Mehlspeisen genossen zu werden Pflegen, recht stark entwickelt. [] Ein letztes und zwar besonders zuverlässiges Mittel, die vertheuernde Wirkung des Zolles zu berechnen, ist im Studium des Haushaltungsbudgets gegeben. Die Erfahrung zeigt hier, daß, je weniger die Mittel zu reichlichem Fleischgenuß ausreichen, um so mehr mehlige Stoffe verbraucht werden. Vier bis fünf Pfund Brot und etwas Mehl, daneben viel Kartoffeln, das ist typisch für den Haushalt der fünfköpftgen Arbeiterfamilie mit bescheidenem Fleischkonsum. Es ist nicht selten mehr als 1 Kilo Roggen zu 1 Kilo Brot nöthig. Dann ist schon bei 4 Pfund Brotkonsum die Belastung mit je 1 Mark Getreidezoll höher als 2 Pfennig. Es giebt ferner recht viele Arbeiterfamilien, in denen mehr als fünf Familienglieder zu ernähren sind. Schon bei einem Verbrauch von 178,8 Kilo, dem Reichsdurchschnitt, pro Kopf, würde eine fünfköpftge Familie mit etwas mehr als 8 [...einhalb..] Pfennig täglich durch den heutigen Getreidezoll von 3,50 Mark belastet sein. [] Wir wollen trotzdem von all den Fällen absehen, in denen bei größerem Konsum als 2 Kilo Getreide täglich pro Haushalt größere Lasten übernommen werden, und der Einfachheit der Rechnung wegen uns wie bisher mit der allzu getreidezollfreundlichen Annahme begnügen, daß jede Mark Getreidezoll nur eine tägliche Belastung pro Haushalt mit 2 Pfennig Brotvertheuerung bedeutet. [] Was ist dann ziffermäßig für die große Mehrzahl der kleinen Leute, die nur 900 Mark oder weniger jährlich (bei einem Verdienst von 3 Mark an 300 Arbeitstagen im Jahre) verausgaben können, der Effekt der verschiedenen Zollprojekte? Eine fünfköpfige Familie mit 900 Mark Jahreseinkommen ist belastet: [...Tabelle] [] Für einen fünfköpfigen Haushalt mit 9000 Mark Jahreseinkommen dagegen, selbst wenn derselbe den gleichen Verbrauch pro Kopf aufweist, ist die Belastung nur 0,28, bezw. 0,4, bezw. 0,5, bczw. 0,6 des hier zehnmal so hohen Einkommens. Diese wohlhabenderen Klassen Pflegen die Erbitterung der Arbeiter, welche für Brot ein Sechstel bis ein Fünftel ihres Einkommens auszugeben haben, gar nicht zu begreifen. Bedeutet für die Wohlhabenderen ja die Ausgabe für Brot nur einen Posten, etwa wie für Vergnügungsausgaben, die Mehrbelastung durch verdoppelte Getreidezölle soviel, wie das, was man täglich im Wirthshaus an Trinkgeld hingiebt! [] Wenn wir die Folgen der agrarischen Bestrebungen nach höheren Getreidezöllen voraus tariren, so ist es ja keine geringe Sorge, daß auf hohe deutsche Getreidezölle hin weder Rußland, noch Ungarn, noch Rumänien bei neuen Verträgen ihrerseits günstige Industriezölle zugestehen werden. Vielleicht ist diese Sorge jedoch müßig. Vielleicht produziren wir beim Inkrafttreten des neuen Zolltarifs bereits dank allen Zollerhöhungen so theuer, daß wir - auch wenn die Russen unsere Waare zollfrei hereinließen, - mit den Engländern und Amerikanern nicht mehr konkurriren können. Neben der Vertheuerung unserer eigenen Produktion, die dank der Politik der Sammlung droht, ist jedoch das allerschlimmste, daß auch der Absatz am heimischen Markte, von dem unsere Sammlungspolitiker so viel reden, ruinirt werden wird, wenn die unteren Klassen so viel mehr für Getreide und infolge dessen soviel weniger für andere Dinge auszugeben haben. [] Wenn ein Preis ausgesetzt würde, wie man die Unzufriedenheit im Volke auf öffentliche Kosten fördern kann, und zwar indem gerechter Anlaß zu Klagen gegeben wird, so wäre er den Sammlungspolitikern unbedenklich zuzuerkennen. Aber auch wenn man einen Preis zu vergeben hätte für das Rezept, Deutschlands industrielle Blüthe gründlich und schnell zu ruiniren, so wäre es ungerecht, diesen Preis insbesondere jenen Großindustriellen vorzuenthalten, die kurzsichtig genug sind, um industrieller Schutzzölle willen die Getreidezollwünsche der Agrarier zu unterstützen. [] Jeder von diesen Großindustriellen weiß, daß die Wollindustrie ruinirt ist, wenn durch einen Wollzoll das Rohmaterial uns vertheuert wird, oder wenn wir durch einen Kohlenzoll das Feuerungsmaterial vertheuern. Wenn aber die Ernährung der menschlichen Kräfte vertheuert oder verschlechtert wird, was soll dann aus uns werben? - Man antwortet mit einem Achselzucken. [] Die Frauen mögen mehr als bisher auf Arbeit gehen, damit der Haushalt trotz höherer Lebensmittelpreise fortgeführt werden kann. Oder die Kinder mögen zeitiger mitverdienen. Das nennt man dann eine Politik der Stärkung der christlichen Grundlagen des Familienlebens! In Wirklichkeit wäre dies Frohndienst der Frauen und Kinder zu Gunsten der Agrarier. [] Oder will man etwa bei Erhöhung der Getreidezölle dem Gesetz eine Klausel anfügen, daß jedem Arbeiter, Handwerker und Beamten um so viel, als unter Herrschaft des neuen Zolltarifs jeweilig der Getreidepreis steigt, der bis dahin bezogene Lohn von selbst erhöht werden muß? Das hat noch kein Sammlungspolitiker vorgeschlagen, wohl aber Erschwerungen des Koalitionsrechts für Arbeiter, die höheren Lohn verlangen würden! [] Den Grenzbewohnern gönnen die Hochschutzzöllner schon jetzt nicht den ihnen durch das Gesetz eingeräumten Vortheil, billigeres Brot für den eigenen Bedarf von jenseits der Grenze aus der Schweiz, aus Österreich u. f. w. zollfrei beziehen zu dürfen. Man räume nur bei der Zollreform auch mit diesem Privileg aus. Wie glücklich wird erst Deutschland als das "theuerste" aller Länder sein, wenn jeder jenseits der Grenzen billigeres Brot sieht als daheim, aber nicht kaufen darf, wenn ferner die Geschäfte infolge Ruins der Exportindustrie stocken und wenn schließlich die Arbeiter auswandern müssen, weil sie die Extragroschen daheim nicht mehr erübrigen können, die zur Unterstützung der Agrarier in Deutschland gefordert werden! [] Dies ist dann die herrliche nationale Zukunft, der uns die Sammlungspolitiker entgegenführen. Wahrlich weitblickende Patrioten! [] Der Verlag der "Nation" (Georg Reimer, Berlin W., Lützowstraße 107/108) stellt dies Flugblatt weiteren Kreisen zum Preise von 10 Mark für die ersten 1000 Stück, zum Preise von 5 Mark für jedes weitere 1000, zur Verfügung. [] Verlag von Georg Reimer, Berlin W., Lützowstraße 107/108. - Druck von H. S. Hermann in Berlin.
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