Am 6 September

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Am 6 September [] Am 6. September wählen die Bürger der Bundesrepublik den zweiten Bundestag. Wenn ich mich mit diesem Brief an Sie, den Wähler, wende, dann hat das einen dreifachen Grund: [] Sie sollen, soweit Sie mich nicht schon aus meine...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Görlinger, Robert
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 06.09.1953
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/F3FA456E-7303-4448-8543-DF4734EC940C
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Am 6 September [] Am 6. September wählen die Bürger der Bundesrepublik den zweiten Bundestag. Wenn ich mich mit diesem Brief an Sie, den Wähler, wende, dann hat das einen dreifachen Grund: [] Sie sollen, soweit Sie mich nicht schon aus meiner Arbeit kennen, wissen, wer ich bin. Sie sollen, wie das Ihr Recht ist, erfahren, welche politische Arbeit ich bisher, sei es als Bundestagsabgeordneter, als Kommunalpolitiker oder an anderer Stelle, getan habe. Schließlich sollen Sie wissen, wie ich die Aufgaben ansehe, die dem kommenden Bundestag gestellt sind, und wie ich mir ihre Lösung denke. [] Denn nur dann, wenn Sie das alles wissen, können Sie sich entscheiden, ob Sie mir Ihre Stimme bei der Wahl, wenn ich Sie darum bitte, geben. [] Seit 1905 wohne ich in Köln, seit 1919, das sind 34 Jahre, gehöre ich durch das Vertrauen der Kölner Bürgerschaft der Stadtvertretung an. Die Zeit wurde nur unterbrochen durch die 12 Jahre des Naziregimes, nach dessen Zusammenbruch ich unsere Stadt als ein Trümmerfeld mit 20000 Ziviltoten wiederfand. Ich habe mit tausenden Kölner Männern und Frauen den ersten Schutt von den Straßen geschippt und den Beginn unseres Wiederaufbaues in den ersten Hungerjahren erlebt, ohne Wasser, Strom und Gas und ohne Verkehrsmittel. Die Leistungen der Kölner dabei sind einmalig. Zur Stadtverordnetenwahl 1952 hat mir mein Wahlbezirk Köln-Altstadt-Süd erneut das Vertrauen ausgesprochen und mich in direkter Wahl in die Stadtvertretung geschickt. Einstimmig hat mich die neue Ratsversammlung zum Bürgermeister der Stadt Köln gewählt, nachdem ich schon seit 1948 zwei Jahre die alte Stadt als Oberbürgermeister repräsentiert und zwei Jahre als Bürgermeister vertreten habe. [] Ich bin also für die Frauen und Männer dieser Stadt kein Unbekannter. Meine Erfahrungen aus langen Jahren möchte ich natürlich auch als Bundestagsabgeordneter unserer geliebten Stadt nutzbar machen. Das zu tun, habe ich mich schon im ersten Bundestag nach Kräften bemüht. Ich habe hier in den Ausschüssen für Bau- und Bodenrecht, für Wohnungswesen und Wiederaufbau mitgearbeitet. Der Wohnungsbau, darin sind Sie wohl der gleichen Meinung wie ich, ist die deutsche Aufgabe Nr. 1 für die ganze Bundesrepublik, vor allem aber für die Stadt Köln. Köln kann nur dann seine gewaltige Aufgabe, die Bunker und Elendsquartiere zu leeren und seine Kinder aus der Evakuierung zurückzuführen, lösen, wenn noch stärker als bisher der soziale Wohnungsbau die erste Aufgabe des Bundestages in Verbindung mit den Ländern und Gemeinden bleibt. Neben der Zahl (über 100000 in Köln und 5 Millionen im Bundesgebiet) kommt es mir und meinen Freunden auf die Qualität der Wohnungen an. Sie werden für ein Jahrhundert gebaut. Sie müssen Licht und Luft, sie müssen Badeeinrichtungen und die nötigen Nebenräume haben. Die Wohnung soll ein Heim sein, in dem der arbeitende Mensch sich entspannen und die Familie mit Kindern leben kann. Heim und Heimat sind erste Voraussetzungen für jedes staatliche Leben. Die Finanzierung des sozialen Wohnungsbaues muß so gestaltet werden, daß für die Wohnungsbedürftigen eine tragbare Miete gesichert bleibt. Der Unfug der verlorenen Baukostenzuschüsse muß beseitigt werden. Der Bundestag hat auch sicherzustellen, daß die Gemeinden für den sozialen Wohnungsbau, für Schulen, Kinderspielplätze, Grünanlagen, Parkplätze und Badeanstalten Gelände bereitstellen, wie es das vom letzten Bundestag in dreijähriger Beratung und in langen Kämpfen beschlossene Bauland-Beschaffungsgesetz vorsieht. Das liegt mir natürlich auch als dem Vorsitzenden des Deutschen Volksheimstättenwerks am Herzen. [] Einen großen Teil meiner Arbeitszeit im alten Bundestag haben die Sitzungen des Finanz- und Steuerausschusses in Anspruch genommen. Hier habe ich gesehen, wie eng die Finanz- und Steuerpolitik mit den kommunalen Problemen zusammenhängt. Gerade deshalb ist es wichtig, erfahrene Kommunalpolitiker im Bundestag zu haben; denn die Gemeinden haben ja im Gegensatz zu den Ländern keine verfassungsmäßige Vertretung auf Bundesebene. So konnte der groteske Zustand eintreten, daß die Gemeinden trotz ihrer gewaltigen Kriegsschäden nicht am Aufkommen der großen, tragenden Steuern beteiligt sind, ja, daß der Bundesfinanzminister sogar die verbleibenden Steuerquellen der Gemeinden immer noch für Bundesaufgaben abschöpft. Das spüren Sie, der Wähler, bis in den Straßenbahnfahrpreis und Ihre Lichtrechnung hinein; denn auch die Versorgungsbetriebe "melkt" der Bund, wenn dieses Beispiel einmal erlaubt ist. [] Mitbestimmend dafür, daß ich meine politische Heimat in der SPD gefunden habe, war für mich die Erkenntnis, daß die breiten Massen der arbeitenden Bevölkerung, der Handwerker, der Kleingewerbetreibenden und Einzelhändler immer wieder die Kosten der Rüstung, die Opfer des Krieges an Gut und Blut und die Nachfolgelasten des Krieges getragen haben. [] Mit meinen Freunden habe ich immer wieder die große Steuerreform gefordert, die endlich in das unübersichtliche und drückende Steuersystem Ordnung bringt. Diese Reform steht auf der Tagesordnung des zweiten Bundestages. Er wird entscheiden, ob die Besitzer der großen Vermögen allein Nutznießer der Reform sein sollen. Er wird entscheiden, ob die indirekten Steuern, die auch den ärmsten Sozialrentenempfänger mit Umsatzsteuer, Zöllen und Verbrauchssteuern auf alle lebenswichtigen Lebensmittel und Verbrauchsgüter belasten, weiter herabgesetzt werden sollen, wie bei Kaffee, Tee und Tabakwaren, oder ob dem großen Besitz weitere Steuergeschenke gemacht werden. Wir fordern eine soziale Steuergesetzgebung und Steuergerechtigkeit nach der wirklichen Leistungsfähigkeit. [] Als Zeitungsleser wissen Sie sicher, daß die SPD es war, die die ersten Anträge auf Senkung der Steuern für Kaffee, Tee und Tabakwaren stellte. Aber das sind ja längst nicht die einzigen Steuern, die Ihren Haushalt auf dem indirekten Wege belasten. Denken Sie nur einmal an die Umsatzsteuer, die jeden Ihrer Einkäufe verteuert und die dem Gewerbetreibenden wie dem Arbeitnehmer schwere Lasten aufbürdet. [] Das Mißverhältnis zwischen Arbeitseinkommen und Preisen ist trotz Mehrleistung des einzelnen nicht beseitigt worden. Handel, Handwerk und Landwirtschaft können nur profitieren, wenn die Kaufkraft gehoben wird und die 1,2 Mill. Arbeitslosen von den Stempelstellen verschwinden. [] Ein einheitliches und fortschrittliches Arbeits- und Sozialrecht und ausreichende Sätze für die Sozial- und Altersrentner mit echter Selbstverwaltung muß von einem besseren Bundestag verlangt werden. Soziale Sicherheit ist die beste Abwehr des Bolschewismus, wichtiger als Kanonen und Tanks. Frankreich und Italien sind lebendige Beispiele. [] Meine Freunde und ich haben in der SPD-Fraktion des Bundestages in den vier Jahren bewiesen, daß wir aus rein deutschen Interessen heraus nach der Überwindung der drei Zonengrenzen die Wiedervereinigung mit der Ostzone erstreben, um mit unserem ganzen Volk die Gestaltung eines sozialen Deutschlands und die friedliche Zusammenarbeit mit Europa, aber auch mit dem Osten, als freies Volk zu erreichen. [] Das war es, was ich Ihnen in großen Zügen über meine Person, meine Arbeit in der Vergangenheit und mein Wollen in der Zukunft sagen wollte. [] Nun haben Sie am 6. September das Wort. Sie entscheiden mit Ihrem Stimmzettel darüber, wer als Ihr Beauftragter in den neuen Bundestag geht. Das ist eine große Verantwortung. Darum bitte ich Sie: [] Wenn Sie den sozialen Frieden, den Wohlstand für alle, gerechte Belastungen und eine friedliche Entwicklung wollen, dann prüfen Sie das, was ich Ihnen geschrieben habe. Ich bin überzeugt, daß Sie dann Ihre Stimme für mich abgeben werden, und ich verspreche Ihnen, der Sachwalter Ihrer Wünsche zu sein. [] Ihr [] R. Görlinger
Published:06.09.1953