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Bestattung der Opfer des Unglücks im städt. Wasserwerk [] am 30. August 1914. [] Was war das doch für ein tief trauriger Sonntag in unserer Stadt! Am 30. August fand die Bestattung der Verunglückten statt. Viele unserer Mitglieder hatten sich mit den Leidtragenden auf dem Friedhofe eingefunden, und Superintendent Leidreiter sprach zu ihnen in ergreifenden Worten. Er hatte seiner Gedächtnisfeier den Text aus Jesaia 55,8-9 zugrunde gelegt: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege", spricht der Herr, "sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Gedanken denn eure Gedanken . . .". Er führte aus, welche Fülle von [] Menschenhoffnung und Menschenglück durch das unglückliche Ereignis im Wasserwerk vernichtet [] worden sei, wie der Familie die treulich sorgenden Hausväter, der jugendlichen Gattin der ihr vor kaum sechs Tagen angetraute Gemahl, die Eltern die hoffnungsvollen Söhne, den Betrieben die in jahrelangem Dienste treu erprobten Leiter und Arbeiter entrissen worden seien, wie es aber bei allem Schmerz eine Genugtuung für die Hinterbliebenen sei, daß ihre Toten, wenn auch nicht als Helden des Krieges auf dem Schlachtfelde für das Vaterland, so doch als [] Helden der Arbeit mitten in der Erfüllung der Berufspflicht gefallen seien, [] als sie der Stadt Bestes suchten, wie aber der wirksamste Trost darin zu finden sei, daß Gottes Gedanken höher seien als Menschengedanken. Gottes Zeit sei immer die rechte Zeit, und Gottes Absichten seien immer väterliche. [] Nach diesen trostreichen Worten wurden die Särge dann nacheinander, jeder besonders, zur Gruft geleitet und unter Gesang und Gebet, dessen Inhalt den besonderen Bedürfnissen der Hinterbliebenen Rechnung trug, zur Ruhe gestattet. [] Kein Auge war bei dieser Bestattung tränenleer geblieben, [] herzzerreißend war der tieftraurige Anblick der Leidtragenden, ihr Schluchzen rührte jedes Herz. [] Trübe und dumpf lag es auf unseren Gemütern den ganzen Sonntag hindurch. Abends fand dann noch Volksversammlung in der Lutherkirche statt. [] Superintendent Leidreiter eröffnete sie als der älteste und allein anwesender Geistlicher der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde mit einer Begrüßung, die er an das Pauluswort: "Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott, wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet." (Röm. 12, 1) und an das Petruswort: "Dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes -" anschloß und in der er zum willigen Gehorsam gegen das neue Stadtoberhaupt und zum freudigen, wechselseitigen Dienen mit herzlichen Worten aufforderte. [] Stadtrat Forche und der derzeitige Gouverneur Dr. Bierfreund sprachen darauf von der [] Lage unserer Stadt [] und forderten alle Bewohner der Stadt zur größten Ruhe und zum bedingten Gehorsam gegen die von der Behörde erlassenen Verfügungen auf. Denn nur so könne die Stadt vor einer Brandschatzung der Russen bewahrt bleiben. [] Superintendent Kuhn hielt dann die Schlußansprache. Er sprach ungefähr folgendes: [] "Mit einem Pauluswort ist begonnen, mit einem Pauluswort will ich schließen. 1. Kor. 13, 13. Nun aber bleibet [] Glaube, Hoffnung, Liebe, [] diese drei. [] Wohl haben wir noch zu essen und brauchen nicht Hunger zu leiden, aber wir spüren doch alle in dieser schweren Zeit, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, daß zum Leben alle jene geistigen und seelischen Güter gehören, die Luther in der Auslegung der vierten Bitte zum täglichen Brot rechnet. Und alle diese Güter werden uns vornehmlich verbürgt durch jenes starke Gottvertrauen, das sich sagt: [] "Der große Bundesgenosse da droben, [] der stärkste, läßt uns nicht im Stich." Sind wir im Recht, fahren wir nur zu: Er ist mit uns, und wo Er ist, da ist stets die Mehrheit! Dieses Vertrauen zu dem Gott, der einst nach langer Schande Nacht uns allen [] im Flammenglanz [] erschienen war, dieses Vertrauen muß täglich neu erworben werden. In der Halle des Leipziger Völkerschlachtdenkmals sind die Sinnbilder der vier großen Tugenden dargestellt, die vor 100 Jahren unser Volk zur Freiheit geführt haben; allen voran Gottvertrauen. Ein Volk, das Gottvertrauen besitzt, hat auch Vertrauen zu sich selbst. Aber ohne Gottvertrauen bricht das Selbstvertrauen zusammen. Auf solchem Gottvertrauen baut sich die Hoffnung für die Zukunft auf. Wohl liegt [] ein schwerer Druck auf unserm Ostpreußen, [] ein schwererer auf uns. Aber denken wir an unsere Söhne und Brüder, welche täglich dem Feind ins Auge sehen, und ihr Leben sozusagen dem Tode geweiht haben! Wollen wir's denn besser haben? Wollen wir klagen, wenn nicht jeder Tag im Sonnenlichte glüht? Wer auf die Höhe will, der muß zuweilen auch bergab. Gott führt uns auch bergan: wundern wir uns nicht, wenn es einmal bergab geht. An dieser Stelle ist vor einigen Tagen zu meinem Kollegen von russischer Seite gesagt worden: "Wir kommen wie die Sintflut über Sie"; wir wollen's glauben. Aber wir bleiben bei dem Bilde stehen. Die Sintflut ist vergangen und nichts von ihr übriggeblieben; aber das kleine Häuflein, das Gott erhalten wollte, hat sich die Welt erobert. Auch [] diese Sintflut, die Ostpreußen überflutet, wird vergehen, wenn Gottes Stunde gekommen ist, [] und neues Leben wird kraftvoll sich erheben. [] Solche Notzeiten verbinden uns Menschen untereinander ganz anders als glückliche Zeiten. Jetzt treten alle Unterschiede des Standes, alle Gegensätze der Partei zurück. Jetzt muß es heißen: "Einer für alle, und alle für einen." Hinweg mit allen Sonderinteressen, die sich bisweilen auch unter frommen Mäntelchen verstecken! Stehen wir unserm Gouverneur treu zur Seite. Das wird ihm Freudigkeit geben, seine ganze Kraft für das Wohl der Stadt einzusetzen! Sehen wir auch in dem Feinde den Menschen der im Dienst seines Reiches seinen Dienst tut! Treten wir dichter zusammen, wie die Pferde der Steppe, die in Gefahr die Jungen in die Mitte nehmen und mit den Hufen den Feind erwarten. Solche Liebe der Tat wird das Zeichen sein, daß kraftvolles Leben unter uns noch vorhanden ist. - - [] Der heutige 30. August ist [] ein Gedenktag schmerzlicher Art. [] Vor 157 Jahren siegten hier bei Gr. Jägersdorf die Russen über einen Teil des preußischen Heers. Die umliegenden Ortschaften bezahlten die Niederlage mit ihrer Asche. Aber Gr. Jägersdorf folgte Zorndorf und der große König war die Russen los. Das Gr. Jägersdorf in diesem Völkerkriege liegt hinter uns! Sorgen wir an unserm Teil, daß Gott uns [] ein neues Zorndorf schenken kann!" [] Es folgte darauf ein gemeinsam gebetetes Vater-Unser, und die Bürgerversammlung hatte ihr Ende gefunden. [] Insterburger Bürger als Geiseln. [] Stimmungsbild. [] In Nr. 1 der Verfügung des Gouverneurs Dr. Bierfreund vom 25. August lesen wir: Außerdem müssen auch dafür die von unserer Bürgerschaft bis zur Beendigung des Krieges als Gewähr für die friedliche Haltung der Zivilbevölkerung zu stellenden drei Geiseln oder Bürgen für jeden von einer Zivilperson auf das russische Heer verübten Anschlag mit dem Leben büßen. In Nr. 4 vom 26. August appellierte der Gouverneur an den Bürgersinn in einem Aufruf, in dem er aufforderte, alle Bürger, die zur freiwilligen Uebernahme der Bürgschaft bereit seien, möchten ihren Namen in eine "Ehrenliste" in seinem Amtszimmer im Rathause eintragen. [] Am 26. August soll aus dem Drengwitz'schen Hause in der Bahnhofstraße ein Schuß gefallen sein. Die russische Militärkommandantur behauptete es und ordnete drakonische Maßnahmen an. Statt drei sollten nunmehr sechs Bürgen gestellt werden, die die Bürgschaft für das Wohlverhalten der Einwohner zuübernehmen hatten. Die Bürgschaft erstreckte sich auf 24 Stunden, von vormittags 10 Uhr bis zur selben Zeit am folgenden Tage. Dann wurden sie abgelöst von anderen Bürgen. Die Zeit der Bürgschaft hatten sie in oberen Räumen des Rathauses zu verbringen. Dann kam das verhängnisvolle Explosionsunglück im Wasserwerk am Freitag, den 28. August. Justizrat Forche ordnete in aller Eile die Herbeischaffung der fehlenden Bürgen an. Er machte die Mitteilung: Die erste Folge des Unglücks sei die russische Forderung, daß jetzt 18 Geiseln gestellt werden müssen, wies mit kurzen Worten auf den außerordentlichen Ernst der Lage hin und entfernte sich mit dem inzwischen fertiggestellten Verzeichnis der 18 Bürgen um etwa 10 ½ Uhr. Eine Stunde später erschien Dr. Bierfreund, der nähere Mitteilung über das Unglück und die schwere Verwundung des russischen Rittmeisters Sergyeff machte. Nicht nur die Lage der Bürgen sei dadurch ernst geworden, sondern es könne auch daraus ein schweres Unglück für die Stadt selbst entstehen. Er hob dabei hervor, daß das entsetzliche Unglück, das den Tod von sieben braven Bürgern der Stadt zur Folge gehabt, hauptsächlich durch die Flucht der zuständigen technischen Beamten der beiden städtischen Werke hervorgerufen sei. [] Eine Stunde später wurden die Bürgen aus den oberen Räumen des Rathauses nach dem Sitzungssaal der Stadtverordneten geladen. Zu den Bürgen gesellte sich noch als Neunzehnter Stadtrat Keßler, der als Vorsteher der Feuerwehr mitten in der Ausübung seiner Pflicht bei der Löschung des Brandes im Wasserwerk von den Russen in Haft genommen war. Dr. Bierfreund entließ ihn später aus seiner Haftverpflichtung. Dr. Bierfreund weilte längere Zeit in unsrer Mitte, beleuchtete in erschütternden Worten die bedrohliche Lage der Stadt und des Bürgertums. Dr. Bierfreund wurde infolge seiner Amtsgeschäfte oft fortgerufen. Etwa um drei Uhr Nachmittag brachte Dr. B. eine tröstliche Nachricht, daß man Hoffnung auf Genesung des russischen Rittmeisters Sergyeff haben dürfe, ferner habe die eingeleitete Untersuchung ergeben, daß keine böse Absicht, sondern nur unglückliche Zufälle die Ursache der Explosion gewesen seien. Um etwa 4 ½ Uhr erschien Justizrat Forche und brachte die Nachricht, daß die Rettung des russischen Rittmeisters in Aussicht stehe. Zwar erschienen die beiden Nachrichten wie eine Erlösung aus schweren Träumen, noch aber vermochten sie nicht das Gemüt von dem Druck zu befreien. [] Der Gedanke war noch zu lebendig, daß durch neue unglückliche Ereignisse neues Unheil über die Stadt heraufbeschworen werden könne. Schwankende Empfindungen beherrschten den Augenblick. [] Auf das Nachtlager richtete sich jeder so gut als möglich ein. Aus der Wohnung ließ man Decken, und was sonst noch notwendig war, herbeischassen. Zwei Flammen spendeten im Saale Licht - so trüb wie die allgemeine Stimmung, in die aber doch ab und zu gesunder Humor, der sich trotz des Ernstes der Lage nicht ganz verdrängen ließ, hineinstrahlte. Die Dunkelheit hatte kaum den hellen Tag beendet, als einzelne der Bürgen sich schon niederlegten und dem Schlafe sich zu ergeben versuchten. [] Etwa um ½ 11 Uhr nachts erschien zur Ueberraschung der Versammelten ein russischer Offizier. Er erzählte den in der Nähe der Tür stehenden Bürgen, daß er von Tapiau käme und nachfragen wolle, wo er Mannschaften und Pferde am besten unterbringen könne. Im Verlaufe der Unterhaltung zog er seine große Zigarettentasche und präsentierte jedem eine Zigarette. Den auf dem Fußboden oder auf den Bänken liegenden Bürgern, zu denen er sich herniederbeugte, bot er ebenfalls Zigaretten an. Dann schritt er weiter im Saale und trat an eine Gruppe von älteren Persönlichkeiten heran - drei Bürger, die dem siebenzigsten Lebensjahr nahe waren. In der Unterhaltung mit ihm fiel die gute deutsche Ausdrucksweise des russischen Offiziers auf und einer der Bürgen konnte sich nicht enthalten, die Frage zu stellen, wo er sein hannoversches Deutsch herhabe. Er erwiderte, daß er eine Anzahl von Jahren auf verschiedenen deutschen Universitäten dem Studium sich hingegeben habe. Nachdem er auch dieser Gruppe Zigaretten angeboten hatte, ging er weiter in einen Nebenraum, wo er auch noch einige Lagernde fand. Dann empfahl er sich mit einem freundlichen "Gute Nacht!" [] Was wollte er eigentlich? Der Zweck seines Besuches war doch nicht, die Bürgen mit Zigaretten zu versehen? Jedenfalls ist die Vermutung nicht unzutreffend, daß er beauftragt war, sich persönlich zu überzeugen, ob die 18 Bürgen auch vorhanden waren. [] Bei einem Blick durchs Fenster kurz nach dem Weggang des Russen bemerkte man vor dem Ausgang zwei Offiziere, die ihn in Empfang nahmen und sich gemeinsam mit ihm nach dem Rheinischen Hof begaben, wo alsbald die Lichter aufflammten. Bekanntlich liegen die Fenster des Sitzungssaales mit dem ersten Stock des Rheinischen Hofes in gleicher Höhe. [] Die Episode war vorüber. Die Bürgen im Rathaussaale ergaben sich weiter der Nachtruhe auf dem primitiven, ungewohnten, harten Lager, oder überließen sich sinnend der tröstenden Hoffnung. [] Die Nacht ging träge vorüber, doch ohne neue beunruhigende Momente. Zwischen 4 und 5 Uhr wurde alles lebendig. Man erfrischte sich durch etwas Wasser und begrüßte guten Mutes den neuen wunderherrlichen Morgen! [] Als endlich die Uhr die zehnte Vormittagsstunde anzeigte, geschah die Ablösung und die 18 Bürgen reichten sich ernsten Blicks die Hände: Auf Wiedersehen!
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