Deutschland muß leben können

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; "Deutschland muß leben können" [] Rede Dr. Kurt Schumachers im Berliner Poststadion [] Die erste Öffentliche Kundgebung der Sozialdemokratischen Partei Gross-Berlins am 20. Juni 1946 wurde für die zwanzigtausend Teilnehmer ein Erleb...

Full description

Bibliographic Details
Main Authors: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Andritzki-Druck, Wilmersdorf
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 20.06.1946
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/EB08CDE6-8A63-41E5-88A3-AD74D108C17E
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; "Deutschland muß leben können" [] Rede Dr. Kurt Schumachers im Berliner Poststadion [] Die erste Öffentliche Kundgebung der Sozialdemokratischen Partei Gross-Berlins am 20. Juni 1946 wurde für die zwanzigtausend Teilnehmer ein Erlebnis von fortzeugender Wucht. Arbeiter aus allen Betrieben waren gekommen, Alte und Junge, Schaffende aller Stände und viele Frauen, besonders zahlreich aber die jungen Menschen. Kurt Schumacher wurde freudig als der Repräsentant der einigen Sozialdemokratischen Partei ganz Deutschlands begrüsst. Von der ersten bis zur letzten Minute seiner Rede fanden Schumachers Forderungen stürmische Zustimmung, besonders, als er für die SPD Freiheit zur Organisierung und zur Kandidatenaufstellung in allen fünf Zonen der Besatzungsmächte verlangte. Nach Abschluss seiner Rede konnte Schumacher durch die Mauern junger Menschen kaum durchkommen, die ihm immer lauter ihr "Wiederkommen, Wiederkommen!' zuriefen. Alle Begeisterung aber galt nicht nur Schumacher, galt nicht einer Person, sie galt der Hingabe für eine Sache, für die zu leben und sich zu opfern lohnt. Schumacher führte aus: [] "Wir kennen die Grenzen des Reiches noch nicht und können vorher unser Deutsches Reich nach aussen und innen auch nicht entscheidend gestalten. Aber wir kennen die Grenzen und den Inhalt der Freiheit. Und das sage ich als Vertreter einer Partei, die Deutschland als ein geschlossenes, nationales, staatliches und wirtschaftliches Ganzes erhalten will. Die Freiheit, die wir meinen, soll nicht nur eine deutsche sein, sondern eine Freiheit der Völker der Welt. Man könnte entgegenhalten, dass die Deutschen sich gerade in dem Augenblick auf den Wert der Freiheit besinnen, in dem sie geschlagen am Boden liegen. Wenn die Deutschen eine Aufgabe haben, dann ist es die, ihr Land zwar selbstbewusst, aber frei von jedem Nationalismus unter die Völker der Welt zu führen. Ohne Überschwang von Parteiegoismus sage ich: was wäre die deutsche Arbeiterschaft und das System der Freiheit ohne die Sozialdemokraten! Wenn es heute in Deutschland keine Sozialdemokratische Partei gäbe, dann müsste sie erfunden werden. [] Alle freiheitliebenden Menschen in Deutschland und in der Welt haben voller Bewunderung dem Kampf der Berliner SPD um die Erhaltung der Freiheit zugeschaut. Ruht auf diesen Lorbeeren nicht aus! ihr seid in einer Situation, in der ihr Tag und Nacht den Panzer des politischen Kampfes um die Freiheit trägen müsst, als Vortrupp für die zukünftige Gestaltung Europas. Man kann um Deutschlands Ohnmacht lächeln. Aber was auf diesem Boden geschieht, ist entscheidend für das zukünftige Schicksal Europas und der Welt. [] Wann kann Deutschland frei werden? Wenn die Welt den Eindruck hat, dass von ihm keine Gefahren des Militarismus oder Imperialismus mehr drohen. Wann wird sie den Eindruck haben? Nicht, wenn sie die deutsche Industrie in Grund und Boden zerstört, sondern wenn Deutschland unter der demokratischen Kontrolle des freien Volkes steht. Nur wenn man uns das Leben lässt, ist der Friede gesichert. Einem verelendeten Volk, das keine Zukunft sieht, kann jeder Schwindler die Ideen der Revanche und des Krieges einblasen. [] SPD in allen Zonen [] Die grossen Ideen, die grossen Parteien und die Planung der Ökonomie und der Kultur stehen heute auf der Tagesordnung. Zu den aktuellen Ereignissen spreche ich deshalb heute hier in Berlin als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: Sie ist eine Partei, die im Prinzip für das ganze deutsche Reich, für alle Zonen anerkannt wird. Wir verlangen auch das Praktischwerden dieser Anerkennung. Wenn jetzt gemeldet wird, dass im September in der Ostzone gewählt werden soll, frage ich die Welt: Wie kann eine freie Wahl erfolgen, wenn die SPD sich nicht frei daran beteiligen darf! Wir verlangen ausdrücklich die Freiheit jedes einzelnen, sich der politischen Organisation anzuschliessen, die ihm zusagt. Wir verfangen das Recht der freien Kandidatenaufstellung und des freien Wahlkampfes in allen fünf Zonen des Reiches. Gewisse Verlautbarungen, die sich auf die Wahltechnik beziehen, machen mich stutzig. Listen kann man nur wählen mit offenem Visier, einer gegen den anderen; aber jeder Versuch des Vermanschens zu Einheitslisten ist das Gegenteil von Demokratie, für die nicht nur wir gekämpft haben, die man uns auch sechs Jahre lang versprochen hat. Man kann nicht immer an den Erfüllungswillen des Deutschen Volkes appellieren, wenn man nicht den geringsten Erfüllungswillen gegenüber diesem Volke hat. Wenn amtlich von der Möglichkeit der Einheitslisten gesprochen wird, dann sage ich aus der Praxis: Zugelassen und möglich gemacht heisst oft ebensoviel wie befohlen! Wahlen [] dürfen nicht befohlen werden. Da muss noch der letzte kleine Teufel das Recht zur Entscheidung über die höchsten Instanzen haben. Nachdem man sich solange reserviert verhalten hat, macht man jetzt Sturzwahlen. Die SPD bleibt gehandikapt, wenn sie auch in letzter Minute zugelassen wird. Hier in Berlin hat sie die Aufgabe, der grosse Magnet für die Ostzone bei der praktischen Durchsetzung in den nächsten Monaten zu sein. [] Kein bürgerlicher Sozialismus [] Ich glaube nicht, dass heute einÜbermass von Polemik gut ist, aber das grundsätzlich Entscheidende muss ausgesprochen werden. Denn Parteien sind dazu da, in praktischen Fragen zusammenzuarbeiten, aber im letzten haben sie Träger der Gesinnung und der Interessen ihrer Zugehörigen zu sein. Dazu gehört Kampf. Wenn ich die Entwicklung hier im Osten ansehe, möchte ich meinen, verspätet in eine Wilhelm-Tell-Aufführung gekommen zu sein. "Wir wollen sein ein einig Volk von Onkeln, weil sie sich als Brüder nicht erwiesen haben." Die Firma ist nichts, der Träger der Firma ist alles. Wenn bei Bürgerlichen von Sozialismus gesprochen wird, ist das ein kleiner Denkfehler. Es gibt keinen Sozialismus ausserhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung. Alles andere mag wohlmeinende Schöngeistigkeit sein. Die Formulierung vom christlichen Sozialismus beruht auf solchem Denkfehler. Im Osten ist die CDU etwas grundsätzlich anderes als etwa im Rheinland, wo sich die Deutschnationalen und Besitzbürger in den Rahmen der Partei flüchten konnten. Man kann in den bürgerlichen Parteien nur ein System der Besitzverteidigung sehen. Sie sprechen vom Sozialismus, aber sie agieren mit Kapitalismus und Bürokratismus. [] Ich möchte meiner Freude Ausdruck geben, dass im Verhältnis zur KPD - ich glaube hier nennt sie sich SED - eine gewisse Besserung in den Formen eingetreten ist. Es sind nicht mehr die Methoden wie vor acht Wochen. Wir aber sind dadurch stärker geworden. [] Gegen Hunger und Demontage [] In dieser Situation, wo alles auf Sozialismus, Demokratie und Internationalität ankommt, drohen die Sorgen des Tages alles zusammenzutrampeln. Wir haben in Deutschland Hunger. Wir wissen, dass auch andere Länder hungern, dass verschiedene der Siegermächte unter eigenen Opfern uns zu ernähren sich bemüht haben. Wir anerkennen diese Unterstützung. Aber am Rande des Verhungerns fragen wir, ob auch alles geschehen ist, was möglich war. Noch gefährlicher als der Hunger ist die Demontage. Deutschland kann nicht nur ein Agrarland werden. Der Kampf um die deutschen Maschinen, dort wo die Kriegsindustrie vernichtet ist, die wir auch alle vernichtet sehen wollen, ist der Kampf um die Rettung des Materials für den Aufbau einer deutschen Friedensindustrie Entweder hat Deutschland einen industriellen Export, oder seine Menschen müssen sterben. Die Welt muss sich klar sein: Entweder wir bezahlen unsere Lebensmittel selbst, oder eines Tages hört die Politik der Geschenke auf. Wir wollen keine Geschenke, wir wollen Gegenleistungen für unsere Arbeit. Wir stehen vor der Frage, ob wir eine demokratische Wirtschaft aufbauen können oder in einer totalitären Wüste untergehen wollen. An allen Grenzen des Reiches herrscht heute die Sicherheitskrankheit. Schon nach 1918 hat sie verheerende Folgen gehabt. Der tragische Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich ist nicht notwendig; soweit er bisher akut geworden ist, war er der Gegensatz von Kapitalismen und Militarismen. Heute durchzieht ein [] anderer Gegensatz die Welt. Man spricht von Demokratie und Sozialismus und wendet noch Methoden an, die vor einem Jahrhundert im Kolonialkrieg üblich waren. [] Wenn das Potsdamer Abkommen die Grundlage für den Neubau Deutschlands werden soll, verlangen wir seine Anwendung als unteilbares und geschlossenes Ganzes. Man wende nicht nur Teile davon an, wo etwa rücksichtslos demontiert werden soll. Wir sagen das nicht, um in den Verdacht eines neuen Nationalismus zu kommen, wir sind und bleiben die Todfeinde jedes Nationalismus. Aber es sollen sich auch die internationalen Kräfte rühren. Wir haben nicht vergessen, was das dritte Reich der Welt angetan hat. Aber man kann uns nicht auf Zeit und Ewigkeit die Lebensaussichten versperren. Wir brauchen auch die Kalorien der Zukunftshoffnung für unser Volk. Entweder man verurteilt uns zum Tode, dann lasse man uns gleich und schmerzlos sterben, oder man glaubt an den anständigen Kern unseres Volkes, dann, Genossen des Auslandes, in die erste Reihe der Kämpfenden an unserer Seite! [] Bundesstaat - nicht Staatenbund [] Man spricht jetzt in Paris von Rhein und Ruhr. Ihre staatliche Loslösung macht jedes Leben in Deutschland sinnlos. Der deutsche Raum kann nur organisiert werden als Bundesstaat, nicht als Staatenbund. Wenn auch die Länder die Grundsteine sind, so muss doch die Souveränität des ganzen deutschen Landes allein beim Reichsvolk liegen. Wir wollen Europa. Aber wir wollen uns darin als anständige Europäer fühlen. Viele treten in eine lebhafte Diskussion der Westgrenze ein, aber von der Ostgrenze reden sie nicht. [] An Einsicht und Willen zur Wiedergutmachung werden es die Deutschen nicht fehlen lassen. Aber lasst uns Subjekte und nicht, nur Objekte sein. [] Die Einheit Deutschlands bedeutet die Einheit Europas. Die chinesische Mauer mitten durch Deutschland ist antideutsch, antieuropäisch und antirussisch. Wir sind nicht imstande, die Probleme der Siegermächte zu lösen. Wir warten, bis sich die Mächte über alles Mögliche und auch über Deutschland geeinigt haben. Die Deutsche Sozialdemokratie aber lässt sich das Recht nicht nehmen, auch jede Besatzungsmacht zu kritisieren. Ich habe hier leider nur zu oft gesehen, dass brausende Revolutionäre zu säuselnden Resolutionären geworden sind. Die Gelegenheit zu positiver Kritik wäre für diese Kreise schon oft gegeben gewesen. Wir wollen uns vor keiner Verantwortung drücken, aber wir sind nicht regierungswütig. Wir werden die Staatspartei keines anderen Landes. Für uns gibt es nur Verpflichtungen vor dem eigenen Volk und vor der ganzen Meinschheit. Wir müssen sein und bleiben, was wir uns erkämpft haben, die selbständige und unabhängige Partei. Wir sind gern bereit, mit allen anderen Aufbauwilligen zusammenzuarbeiten, aber nicht, uns dem Führungsanspruch anderer zu fügen. Wir wollen unabhängig sein gegen Machtpolitik des Auslandes. Jeder soll nach seiner Fasson in seinem Lande selig werden. Man soll sich draussen darauf besinnen, dass man dem deutschen Volk Freiheit, Gerechtigkeit nach ihnen und aussen versprochen hat. [] Jetzt geht der Kampf im Westen um die Bodenreform und die Sozialisierung der grossen Betriebe. Es geht darum, das ganze deutsche Wirtschaftsgebiet einer einheitlichen sozialistischen Planung zu unterwerfen. Das ist keine Aufgabe von morgen, wir müssen, sie heute mit eigenen Kräften lösen, in sozialistischer Gegenwartsgestaltung. Das kann nur gelingen, wenn wir die Jugend mit dem Geist der Demokratie, des Sozialismus und des Friedens erfüllen." [] Für eine bessere Welt [] Zu den Frauen gewendet, sagte Dr. Schumacher: [] "Ich glaube nicht, dass es gelingt, die Frauen mit Parteitaktik zu überzeugen. Wenn früher auf einem Wahlplakat, das einen kleinen Jungen mit Schulranzen darstellte, die Worte standen "Mutter, denk an mich!", werden damals die Frauen nicht daran gedacht haben, dass diese Jahrgänge heute unter der Erde liegen. Von Euch Frauen hängt es ab, ob das Herz und das Menschliche und der Wille zu Frieden und Güte Euch politisch so formen werden, dass Ihr Euch abwendet von alter Kriegsverherrlichung und Diktatur. [] Heute sind der Hunger, die Demontage und die Zersetzung des Wirtschaftskörpers, überhaupt die Angst Faktoren geworden, die das Volk von der Politik wegführen. Es ist eine Krise der Politik eingetreten. Ein Volk, das nicht mehr politisch denkt, ist ein leicht verführbares Objekt für jeden politischen Hochstapler. Reaktionäre Mittel erzeugen immer reaktionäre Konsequenzen. Wenn ein Appell an das Weltgewissen nicht hilft, dann muss der Appell an die wirtschaftliche Vernunft der Welt helfen. Wir sind heute schlechter daran als je. Manche beginnen in Verzweiflung zu vergessen, dass der Nationalismus und das Hitlertum auch für den heutigen Zustand verantwortlich sind. Wir wollen die Alliierten nicht moralisch anklagen, denn wir wissen, was in der Vergangenheit des dritten Reiches geschehen ist; aber wir wollen ihnen doch sagen, dass jetzt die letzten Minuten gekommen sind, wo noch der Grundstein gelegt werden kann für eine bessere Welt. Wenn auch für eine Welt der Plagen, in der wir jede Arbeit leisten wollen, so wollen wir doch die Aussicht haben für ein Deutschland in einem sozialistisch geordneten Europa.". [] Andritzki-Druck, Wilmersdorf / 1032 / 1000 / Juni 46 / Class "C"
Published:20.06.1946