Liebe junge Mitbürger!

Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; HEINZ KÜHN [] MINISTERPRÄSIDENT [] Landesvorsitzender der SPD [] DÜSSELDORF. [] Elisabethstraße 3. [] Postfach 7009. [] Ruf 32 82 22 [] Liebe junge Mitbürger! [] Eigentlich müßte ich jetzt salbungsvoll damit beginnen, Ihnen zu sagen, daß m...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Kühn, Heinz
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 14.06.1970
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/67C3EA74-137D-46C0-BC37-A3A5AAAE5B66
Description
Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; HEINZ KÜHN [] MINISTERPRÄSIDENT [] Landesvorsitzender der SPD [] DÜSSELDORF. [] Elisabethstraße 3. [] Postfach 7009. [] Ruf 32 82 22 [] Liebe junge Mitbürger! [] Eigentlich müßte ich jetzt salbungsvoll damit beginnen, Ihnen zu sagen, daß mit dem Recht zu wählen, Ihnen zugleich eine große staatsbürgerliche Pflicht auferlegt ist. [] Natürlich stimmt das. Sie gehören zu jener Million junger Mitbürger, die nach Vollendung ihres 18. Lebensjahres am 14. Juni zum erstenmal an die Wahlurnen gehen und entscheiden können, wer unser Land regieren und auf welche Ziele hin es regiert werden soll. Da ist fürwahr Wahlrecht auch Wahlpflicht! Denn in dieser ersten großen Wahl des Jahres 1970 geht es darum, wie in den so oft als für die Zukunft der Menschheit entscheidenden "siebziger Jahren" die Weichen auf den Horizont 2000 gestellt werden. [] Um Ihr Leben, um Ihr Schicksal geht es dabei, denn Sie werden im Jahre 2000 auf der Höhe Ihrer Lebenskraft die Zukunft zu tragen, die Hoffnungen zu erfüllen haben, für die wir heute das Fundament legen. [] Sie werden mit Jumbo Jets und Atomkraftwerken, mit den Veränderungen durch Automation und den Raumflügen der Astronauten in eine neue Weit hineinwachsen. Mit ungeheuren Möglichkeiten, das Leben der Menschen zu ihrem Glück zu führen, aber auch mit ungeheuerlichen Möglichkeiten, es im Unglück zu vernichten. [] Politik ist nicht immer schön, aber das ganze Leben ist nicht immer nur schön, und Politik ist ein Teil dieses Lebens, ein sehr wichtiger Teil. Politik ist eben nicht besser, als diejenigen, die sie machen: die Wähler und die Gewählten. [] Deshalb müssen Sie Programme und Parteien sorgfältig prüfen: welcher Weg in die Zukunft ist richtig und welche Menschen sind richtig, um diesen Weg zu führen? [] Dieser Brief kann nicht die Probleme unserer heutigen Politik ausführlich behandeln. Aber als Ministerpräsident unseres Landes, der zugleich Landesvorsitzender der SPD ist, möchte ich Sie nicht nur auffordern Ihre staatsbürgerliche Pflicht zu tun und am 14. Juni zu wählen, sondern ich möchte Ihnen auch sagen, warum Sie meiner Überzeugung nach sozialdemokratisch wählen sollten. [] Unter den vielen Problemen, die es zu lösen gilt, sind uns Sozialdemokraten zwei besonders wichtig: [] die Verbesserung des Bildungssystems in unserem Volk [] und [] die Sicherung des Friedens unter den Völkern der Welt. [] Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist vor mehr als 100 Jahren aus den Arbeiterbildungsvereinen entstanden, aus der Sehnsucht der arbeitenden Menschen nicht nur nach mehr sozialer Sicherheit, sondern auch nach mehr Anteil an Bildung und Wissen. Materielle Sicherheit und menschliche Bildung, - nur beide zusammen geben die Möglichkeit, ein Leben in Würde und Selbstverantwortung zu führen. [] Deshalb hat die SPD seit Generationen gegen die Fehler des Bildungssystems der Vergangenheit und für ein wirklich demokratisches Bildungswesen gekämpft. [] Es darf keine "Volksschule" als Schule der Kinder des "niederen Volkes" auf der einen Seite und eine "höhere Schule" für die Kinder der "höheren Stände" auf der anderen Seite geben. In allen Kindern, aus weichem Elternhaus auch immer, müssen die in ihnen steckenden Möglichkeiten zur Entfaltung gebracht werden. Wir können und wollen nicht alle Menschen gleich machen, aber wir können und müssen ihnen allen die gleichen Chancen geben! [] - Deshalb wird eine sozialdemokratisch geführte Regierung für den energischen Ausbau von vorschulischem Bildungsbeginn bei Kindern, für Ganztagsschulen und Gesamtschulen bei den heranwachsenden Schülern sorgen. [] - Deshalb wird eine sozialdemokratisch geführte Regierung die Berufsbildung genauso wichtig nehmen wie das Hochschulwesen. Was nützen uns die bestausgebildeten Ingenieure, wenn wir nicht auch die bestausgebildeten Facharbeiter heranbilden, die mit den Maschinen der modernen Technologie umgehen können? Heute ist Berufsausbildung für viele Lehrlinge noch mehr Ausbeutung als Ausbildung. [] - Deshalb erweitern wir unsere bestehenden Universitäten und bauen im Rahmen des "Nordrhein-Westfalen-Programms 1975" bis zur Mitte der siebziger Jahre 8 neue Universitäten und 13 Fachhochschulen. [] - Deshalb hat die sozialdemokratisch geführte Regierung Lern-, Studien- und Prüfungsgebühren an allen Schulen und Hochschulen abgeschafft und die Erstattung der Kosten für Lernmittel und Schülerfahrgeld ermöglicht. [] Es gilt noch vieles zu tun, bis die Fehler der Vergangenheit beseitigt sind: Fehler einer generationenlangen konservativen Vergangenheit und Fehler einer fast zwanzigjährigen CDU-Bildungspolitik. [] Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist vor mehr als 100 Jahren aus der Friedenssehnsucht der Weit entstanden, aus der Sehnsucht, ständig furchtbarer werdende Kriege durch eine Solidarität der Völker, durch eine internationale Friedensordnung zu beenden. Für uns Sozialdemokraten gibt es keine guten und schlechten Völker, wir haben in unserer Geschichte nie am Ausbruch eines Krieges mitgewirkt. [] - Deshalb bemüht sich Bundeskanzler Willy Brandt um einen internationalen Abrüstungsvertrag, der in Ost und West einen gleichzeitigen und gleichgewichtigen Prozeß der Verminderung an konventionellen und atomaren Waffen bewirkt. Deshalb versucht der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt in einem Augenblick, in dem die Völker aus den Graben des Kalten Krieges hervorzukommen beginnen, nicht nur Vereinbarungen für die deutsche Freiheit mit Moskau und Warschau herbeizuführen, sondern auch Brücken über Mauern und Stacheldraht im zweigeteilten Deutschland zu finden. [] - Deshalb will die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung die Verringerung der Wehrpflicht von 18 auf 15 Monate anstreben. [] Am 14. Juni wird nicht nur über die Landespolitik entschieden, denn die Landesregierung wirkt im Bundesrat an allen wichtigen Bundesentscheidungen mit. Und Nordrhein-Westfalen ist das weitaus wichtigste, menschenreichste und industriemächtigste Bundesland. [] Wir haben hier durch die Leistung der sozialdemokratisch geführten Landesregierung und durch die Verantwortung der Menschen unseres Landes die neonazistische NPD daran gehindert in den Bundestag zu kommen. [] Wir haben hier im Zusammenwirken von SPD und FDP die Grundlagen dafür geschaffen, daß Dr. Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt werden konnte. [] Wir haben hier schließlich in Nordrhein-Westfalen mit dem besonders eindrucksvollen Wahlsieg der SPD in der Bundestagswahl Willy Brandt zum Bundeskanzler gemacht. [] Unser Land ist ein deutsches Schicksalsland und Sie können am 14. Juni über seine Zukunft und den Willen mitentscheiden, der aus diesem Land in die deutsche Politik strahlt. [] Manches an der SPD mag Ihnen nicht immer gefallen haben. Mir auch nicht, obwohl ich ihr Landesvorsitzender bin. [] Wir sind keine Gemeinschaft der Heiligen. [] Auch bei uns menschelt es. Auch bei uns gibt es Starke und Schwache, Tüchtige und Nieten. Solche, die der Idee dienen und solche, die sich der Idee bedienen, die an die anderen und die, die an sich denken. Aber es gibt keine Partei, die in ihren Reihen so viele Menschen hat, die so viel an Opfer, Verfolgung und Leid für die Idee einer besseren und gerechteren Ordnung gebracht haben wie die sozialdemokratische. [] Wir sind keine Elite der Unfehlbaren. [] Auch wir haben Fehler gemacht, wie jede Partei, wie jeder Mensch. Es ist eben nicht so einfach, daß eine Partei nur die Klugen und die Guten und die andere Partei nur die Dummen und die Miserablen hätte, die einen immer alles richtig und die anderen immer alles falsch machen würden. Dann wäre das Wählen schön einfach! Aber es gibt keine Partei, die in ihrer Geschichte - von der sozialen Gesetzgebung bis zum allgemeinen Wahlrecht - so viel an Ideen und Leistungen für den politischen Fortschritt und die soziale Gesetzgebung in unserem deutschen Vaterlande getan hat, wie die sozialdemokratische Partei. [] So sind wir in manchem wie andere Parteien auch, denn jede Partei ist ein Gebild' aus Menschenhand. Aber in den entscheidenden Fragen der Zielsetzung für die Zukunft und der Bereitschaft für die Gegenwart glauben wir mehr als jede andere Partei gerade vor die Jugend unseres Volkes hintreten zu können. [] Sie müssen wählen, was Sie vor Ihrem Gewissen und Ihrem Verstand für richtig erkannt haben. Wenn Sie aber Ihr Wahlrecht als eine Gewissenspflicht ausüben, dann bin ich sicher, daß wir Verbündete für die deutsche Zukunft sind. [] Heinz Kühn [] Ministerpräsident
Published:14.06.1970