Summary: | Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals;
Ein Zeugnis der Wahrheit [] Sachsenhausen 1940 und 1949 [] Von Propst D. Dr. Heinrich Grüber (Berlin) [] Zwei der angesehensten ev. Geistlichen Berlins werden von der westlichen Presse in der infamsten Weise beschimpft: der ev. Bischof von Berlin-Brandenburg, D. D. Dibelius, und Propst Grüber. [] Wodurch haben sie den Zorn der "Neuen Zeitung", des "Telegraf" und ähnlicher Geister erregt? [] Beide haben vor den Insassen des Internierungslagers Sachsenhausen zum Weihnachtsfest 1949 einen Gottesdienst abgehalten. Über Ihre Eindrücke haben sie einen kurzen Bericht veröffentlicht. [] Mit ihren Feststellungen haben die Geistlichen, deren Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit nicht bezweifelt werden kann, der Sache des Friedens und der Einigkeit unter den Völkern einen wichtigen Dienst erwiesen. Sie haben jedoch denen das Konzept verdorben, die von der unentwegten Kriegshetze leben und vor keiner Entstellung der Tatsachen zurückschrecken, wenn es gilt, Feindschaft und Haß zwischen unserem Volk und der Sowjetunion zu säen. Mit welcher Primitivität diese Kriegsbrandstifter versuchen, denen den Mund zu schließen, die die Wahrheit bezeugen, dafür ein Beispiel: [] Selbst wenn die Feststellungen, die Grüber bei seinem einmaligen Besuch machte, objektiv zutreffen, so hat er der Sache, die er als Mann der Kirche selber vertritt, einen schlechten Dienst erwiesen. ("Neue Zeitung", 4. 1. 50). [] Allen denen daran liegt, die Wahrheit zu erfahren und die sich nicht in einen neuen Krieg gegen die Sowjetunion treiben lassen wollen werden dankbar sein, wenn ihnen die Äußerungen des Propstes Grüber, die der Bischof Dibelius durch seine eigene Kenntnis als der Wahrheit entsprechend bestätigte, im ungekürzten Wortlaut bekanntwerden. [] "Es waren gerade neun Jahre her, daß ich als Häftling in dieses Lager eingeliefert wurde. Die Schreckenstage und Grauennächte traten wieder vor meine Seele. Der Stacheldraht und die bekannten Wachttürme ließen die Komplexe, die ich nun einmal gegen diese Einrichtungen habe, wieder wach werden. Vor uns stand das große Torhaus mit den Blockführerstuben, aus denen die Bestien so oft gekommen waren, um uns zu peinigen. Der große Appellplatz war unverändert mit den Baracken, die allerdings die höhnischen Aufschriften von damals nicht mehr tragen. [] Natürlich kann man bei einem flüchtigen Durchgehen kein Urteil über die Gesamtsituation eines Lagers abgeben, aber für einen Menschen, der mancherlei Lager aller Art gesehen hat, drängt sich der Unterschied zwischen den KZs der Nazis und diesem Lager unmittelbar auf. Schon rein äußerlich fiel es auf, daß die Menschen nicht Nummern waren, sondern Individuen. Damals lief eine verschüchterte grau-blaue Masse durcheinander - es durfte ja keiner im Lager Schritt gehen oder gar herumstehen -, alle trugen damals die grau-blau gestreifte Sträflingskleidung, kurz geschnittenes Haar und Holzpantinen. Das einzige Unterscheidungsmerkmal war der Winkel und die Nummer. Die Nummer und nicht der Name war das Wesentliche. Jetzt standen hier Menschen in zwangloser Unterhaltung herum, gut angezogen - jeder trug seine eigenen Sachen - gut gepflegt und normal ernährt. Die Frauen hatten allerhand Verschönerungskünste angewendet. Es fehlte sogar bei den jüngeren nicht die rote Farbe auf den Lippen. Die ganze Haltung war, soweit das in einem Lager möglich ist, ungezwungen, auch das Gespräch, das ich nach dem Gottesdienst mit den Frauen hatte. Es stellte sich heraus, daß die Gottesdienstbesucherinnen auch regelmäßige Hörerinnen meiner Morgenfeiern im Berliner Rundfunk waren, und manche konnten noch ganze Sätze wiederholen, die mir längst entschwunden waren. Auch das Verhältnis zu den Wachmannschaften war, soweit ich feststellen konnte, kein verängstigtes. Das haben mir auch die früher entlassenen [] Häftlinge immer bestätigt, daß mehr Schwierigkeiten durch die Mitgefangenen ab die russischen Wachmannschaften entstanden. [] Ich darf wiederholen: Es liegt mir nichts ferner, als das Lager und sein Leben zu beschönigen oder die Einrichtung von Lagern als einen Idealzustand hinzustellen. Ich habe als erster öffentlich zu den Lagern der vier Besatzungsmächte Stellung genommen in einem ökumenischen Gottesdienst im Oktober 1946. Ich habe weiterhin den sowjetischen Behörden immer wieder die Wünsche auch der evangelischen Kirche vorgetragen. Aber es ist ein unverzeihliches Unrecht, dieses Lager von heute mit den KZs Hitlers in einem Atemzuge zu pennen oder gar zu sagen "genau wie bei den Nazis, vielleicht noch schlimmer". Lagerleben bleibt immer Freiheitsentzug, aber bei Hitler war es eine planmäßige und systematisch durchgeführte Grausamkeit. Hier handelt es sich um eingesperrte Menschen, bei Hitler um ständig mißhandelte und gequälte Menschen. Hier hält man Menschen vom Leben fern, aber man macht ihnen das Leben nicht unnötig schwer. Weder durch Arbeitsüberlastung noch durch ausgesuchte Torturen wurden die Menschen hier systematisch "liquidiert". Wir denken noch mit Grausen daran, wenn die Arbeitskommandos abends einrückten, vor allen Dingen von den berüchtigten Klinkerwerken, und die Toten mit hereinschleppten oder wenn gerade auch während der Feiertage die angetrunkenen Wachmannschaften zu ungeahnten Grausamkeiten gegenüber den hilflosen Häftlingen sich hinreißen ließen. Jeder, der Sachsenhausen bei Hitler kennengelernt hat, weiß, daß es ein Unding gewesen wäre, daß ein Geistlicher im Ornat durch [] das Lager gegangen wäre und mit den Häftlingen gesprochen hätte. Aber die Massierung von Menschen, das Abgeschlossensein vom Leben ist ja nicht nur eine körperliche Qual, sondern auch eine seelische Pein, und es entwickelt sich immer eine Art Lagerpsychose. Ich habe sämtliche Flüchtlingslager in Dänemark gesehen, die wirklich Musterlager waren, mit einer Verpflegung, wie sie in Deutschland nicht geboten werden konnte; ich kenne die englischen "Musterlager", vor allem das Northern camp. Überall war die Lagerpsychose gleich groß. Dagegen weiß ich nur ein Mittel, das ist das Wort, das der Apostel Paulus als Gefangener schrieb und das mir in der langen KZ-Zeit geholfen hat, und das ich in jedem Lager anbringen lasse: "Freut euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich euch: freuet euch! Eure Lindigkeit lasset kundtun allen Menschen. Der Herr ist nahe." [] Aber das ändert nichts daran, daß Lagerbrot bitter schmeckt und daß Stacheldraht eines der unwürdigsten Mittel ist. Ein Lager in dieser Form ist eine ungeeignete Art des Strafvollzugs. Kein Lager bietet eine Möglichkeit der erzieherischen Einwirkung, vor allen Dingen für Jugendliche. Wir haben gerade von der Kirche aus mehrfach den Besatzungsbehörden klargemacht, daß für die Jugendlichen, die straffällig geworden sind, andere Formen der Sühne gefunden werden müssen. Junge Menschen massiert einzusperren führt zu großen Schädigungen der körperlichen und seelischen Entwicklung. [] Wir wissen auf der anderen Seite, daß wir als Deutsche den Besatzungsmächten, vor allem aber der russischen gegenüber, keine Forderungen aufzustellen haben. Wir sind ja alle mitschuldig geworden an dem großen Leiden, das über diese Völker gekommen ist. Gerade als ich in Sachsenhausen an den Baracken 9 und 10 vorbeiging, wurde in mir die Erinnerung an die Augusttage 1941 wieder wach, wo in diesen Baracken Tausende von russischen Kriegsgefangenen eingepfercht waren, die dann nachts auf dem Industriehof auf die grausamste Weise "umgelegt" wurden. Es bleibt dies für mich die dunkelste Stunde und die Sünde meines Lebens, mit der ich bisher noch nicht fertig geworden bin. Wie standen damals alle ohnmächtig und sahen dem Geschehen zu, wir ballten unsere Faust hinter dem Rücken, manche haben abends die Hände gefaltet für diese armen Menschen, aber keiner von, uns Häftlingen hatte den Mut aufzuschreien, so wie Pfarrer Schneider es in Buchenwald bei ähnlicher Gelegenheit getan hat: "Das ist Mord, und wir klagen an." Wir wußten, daß ein solcher Aufschrei und ein solches Bekenntnis uns das Leben gekostet hätte und vielleicht auch noch die Wut der Wachmannschaften gesteigert hätte. Aus diesem Grunde unterblieb das Zeugnis der Wahrheit, zu dem wir verpflichtet waren. Wir denken auch weiter an die mehr als grausame Behandlung der Juden und Polen, die oft willkürlich aufgegriffen und erschossen wurden. Wir können als Christen nur das sagen, was uns nach Gottes Willen geboten erscheint, [] aber als Volk und Glieder des Volkes müssen wir uns bescheiden. Erst recht können keine Menschen in diesen Fragen mitsprechen, die während der Nazizeit geschwiegen haben. Wir lehren es daher auch ab, über diese Fragen mit solchen Deutschen in eine Diskussion einzutreten, die glauben, jetzt mit demselben Eifer reden zu müssen, wie sie früher geschwiegen haben. Auch ich selbst bin nicht gewillt, Belehrungen in diesem Punkt anzunehmen von Menschen, die nicht den Beweis erbringen, daß sie durch persönliche Einsatzbereitschaft sowohl bei den Nazis als auch seit 1945 mehr Menschen Leben und Freiheit gerettet haben als ich. [] Wenn ich gefragt würde, was ich an den Lagern auf jeden Fall geändert sehen möchte, wenn sie, etwa unter deutscher Leitung, weiterbestehen bleiben, dann würde ich vor allen Dingen ersuchen, daß alle Insassen einem öffentlichen Gerichtsverfahren unterzogen würden, sowie eine regelmäßige Durchführung der Korrespondenz mit den Angehörigen und eine regelmäßige seelsorgerische Betreuung fordern. Vor allen Dingen würde ich für die Jugendlichen eine besondere Durchführung der Haft wünschen. Was die Unterbringung, Verpflegung und sanitären Einrichtungen des Lagers angeht, so übertrifft dieses viele der Flüchtlingslager in der Westzone, die ich gesehen habe. [] Neben der Sorge um die Beseitigung der Lager in der Ostzone überhaupt muß die größere Sorge uns bewegen, daß nicht durch ein Wiederaufleben der Ideologie, aus der die Konzentrationslager Hitlers erwachsen sind, dieser Zustand verewigt wird. Wir wollen als Deutsche nicht wieder mitschuldig werden an der grausamen Vernichtung von Menschen und ganzen Völkern." [] (73) 125. 1. 1950.
|